Krise, Nationalstaat und Protektionismus

Manager Staat

In der Krise neigen die Nationalstaaten wieder stärker zum Protektionismus, obwohl sich kaum jemand dazu bekennt. Statt Schutzzölle zu erheben, werden Maßnahmen ergriffen, die dazu dienen, den heimischen Produktionsstätten Vorteile gegenüber der Konkurrenz zu verschaffen.

Gern werden derzeit alle wirtschaftlichen Folgen der Krise der »unsichtbaren Hand« des Marktes untergeschoben. Immerhin teilweise sind dafür aber die Staaten selbst verantwortlich. In dem im November erschienenen Handelsbericht der EU-Kommission für das Jahr 2008 steht, das jährliche internationale Handelsvolumen habe um 15,5 Prozent unter dem Wert des Vorjahres gelegen. Der Rückgang sei aber zumindest teilweise auf insgesamt 223 neu eingeführte Handelsbeschränkungen zurückzuführen. Maßnahmen, für die sich allerdings kaum jemand öffentlich ausspricht.

Das Urgestein unter den deutschen Regierungschefs fand immerhin noch klare Worte. 1878, mitten in der ersten großen Krise des kaum zur Blüte gelangten industriellen Kapitalismus und nur sieben Jahre nach der Reichsgründung, verkündete Kanzler Otto von Bismarck schon das Ende der Freihandelspolitik. Die Zeit des liberalen »Schleifenlassens« – so des Kanzlers freie Übersetzung des erbfeindlichen Terminus laissez-faire – sei endgültig vorüber. Mit der »nationalen Wirtschaftspolitik«, die er proklamierte, befand er sich in bester Gesellschaft. Nicht nur beim Verbündeten Österreich-Ungarn, sondern überall in Europa, aber auch im Wirtschaftswunderland USA blühte der Protektionismus. Überall wurden Schutzzölle erhoben, die heimischen Unternehmen subventioniert und wenig leistungsfähige Unternehmungen wie das Eisenbahnwesen verstaatlicht.
Lediglich der damalige Exportweltmeister Großbritannien hielt verzweifelt am Freihandel fest. Das führte zwar immerhin dazu, dass London als internationales Banken- und Finanz­zentrum an Bedeutung gewann, langfristig konnte der britische Freihandel aber den Verlust der Vorrangstellung des Landes in der industriellen Produktion ebenso wenig verhindern wie die Eskalation der Konflikte im europäischen Mächtesystem.
Fünf Dekaden später erlebte der Protektionismus seinen Höhepunkt. Den USA, dem im Zuge der Weltwirtschaftskrise am stärksten gebeutelten Land, kam dabei die Schrittmacherrolle zu. Der Smoot Hawley Tariff Act, der 1930 in Kraft trat und bis heute als Synonym für protektionistische Maßnahmen gilt, belegte gleich über 20 000 Güter mit teils drastischen Einfuhrzöllen. Wenig später legte Frankreich Maximalkontingente für die Einfuhr von Waren fest und überstiegen Deutschlands Agrarzölle die Preise für die entsprechenden Produkte auf dem Weltmarkt um mehr als das Zweieinhalbfache. Selbst Großbritannien beendete mit dem Import Duties Act seine hundertjährige Freihandelstradition und erhob, wenn auch vergleichsweise geringe, Zölle auf alle Importwaren.
Wie Jakob Madsen vor wenigen Jahren in seinem Standardwerk »Trade Barriers and the Collapse of the World Trade During the Great Depression« nachwies, führten solche Maßnahmen dazu, dass der Welthandel um 41 Prozent zurückging. Der Weg in den Krieg wurde so auch wirtschaftlich geebnet.

Seitdem sind die klaren Befürworter des Protektionismus verschwunden. Nicht nur die Bundeskanzlerin des heutigen »Exportweltmeisters« warnt beständig vor einer Abschottung der Märkte. Auch bei den wichtigen internationalen Treffen, etwa beim EU-Sondergipfel zur Finanzkrise im Februar oder dem G20-Treffen in Pittsburgh Ende September, fanden Passagen Eingang in die abschließenden Erklärungen, in denen Protektionismus abgelehnt bzw. davor gewarnt wird. Das Verschwinden der expliziten Befürwortung bedeutet allerdings nicht, dass die Idee, angesichts immer krisenträchtigerer Überakkumulation bei den anschließenden Kapitalvernichtungen wenigstens die eigene Nation zu schonen, an Attraktivität für die beteiligten Staaten verloren hätte.
Dies spiegelt sich in den vergleichsweise vorsichtigen, aber nichtsdestotrotz wahrnehmbaren Maßnahmen wider, die in fast allen Ländern ergriffen werden. Es sind weniger die spektakulären Bestimmungen unter den Maßnahmen zur Förderung der Konjunktur wie die »Buy American«- oder »Buy Chinese«-Bestimmungen, die zumindest wörtlich aufgrund des Protestes anderer Regierungen gestrichen wurden. Bedeutend sind eher versteckte und spezialisierte Regelungen, die die heimischen Märkte immer stärker abschotten.
Bekannter wurde in der Öffentlichkeit allenfalls der Schlagabtausch, den sich die beiden größten Nationalökonomien der Welt lieferten. Während in den USA nur dann staatliche Hilfen aus dem Konjunkturpaket für infrastrukturelle Projekte gewährt werden, wenn amerikanischer Stahl verwendet wird, und zudem die heimische Reifenindustrie durch die Erhebung eines Sonderzolls in der Höhe von 35 Prozent auf chinesische Reifen gefördert werden soll, vergibt die chinesische Regierung Aufträge im Rahmen der Konjunkturmaßnahmen fast ausschließlich an heimische Firmen und begrenzt die Ausfuhr von Edelmetallen vor allem in die USA. Zwar versicherten US-Präsident Barack Obama und Chinas Staats- und Regierungschef Hu Jintao anlässlich des auch wegen der Spannungen zustande gekommenen Treffens in Peking Mitte November brav, alles zu tun, um die »Wirtschafts- und Handelsschranken angemessen zu überwinden«, eine Rücknahme der Maßnahmen wurde aber beiderseits nicht ernsthaft erwogen.
Gleiches gilt trotz aller gegenteiligen Bekundungen auch für die Maßnahmen der anderen Industriestaaten. Die französischen Hilfen für Airbus, die russischen Schutzzölle auf allerlei Importprodukte, wie etwa der dreißigprozentige Einfuhrzoll auf ausländische Autos, die brasilianischen Weinzölle, die kanadische Sonderförderung einheimischer Eishersteller und die indischen Beschränkungen des Stromimports stehen allen Beteuerungen zum Trotz nicht zur Disposition.

Am deutlichsten äußert sich der neue versteckte Protektionismus allerdings nicht in einer traditionellen Schutzzollpolitik, sondern vielmehr in der Subventionierung heimischer »Standorte«. Insbesondere im Fall Opel überboten sich die europäischen Regierungen mit Hilfsangeboten wahlweise für Magna oder General Motors, um die je »eigenen« Produktionsstätten zu erhalten.
Die Häme, die die Bundesregierung erntete, weil sie einerseits am stärksten gegen die staatlichen Förderungen zugunsten der heimischen Industrien wettert, andererseits aber das Magna-Konsortium mit staatlichen Hilfen und Überbrückungskrediten zu schmieren versuchte und damit letztlich scheiterte, mag gerechtfertigt erscheinen. Sie ist aber letztlich auch nur ein Triumph ebenso protektionistischer Bestrebungen in Warschau, Madrid oder Brüssel. Dass es wie bei Opel vor allem Gewerkschaften und Betriebsräte sind, die solche nationalistischen Kampagnen anführen, stellt sowohl historisch als auch gegenwärtig eher die Regel als die Ausnahme dar. Dass es aber auch gemeinsam geht, beweisen die Regierungen Frankreichs, Deutschlands, Polens und anderer Staaten immer dann, wenn es um die Forderungen der bereits arg subventionierten europäischen Landwirte geht.

Parallelen zur großen Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts und der auf sie folgenden immer aggressiveren Wirtschaftspolitik der führenden kapitalistischen Staaten zu ziehen, ist angesichts der Zahlen, wie sie etwa der Handelsbericht der EU-Kommission nennt, zweifellos übertrieben. Dennoch geht der Trend, ähnlich wie in den Turbulenzen der siebziger Jahren, stärker zu sogenannten non-tarifären Handelshemmnissen, die jenseits klassisch protektionistischer Maßnahmen der heimischen Industrie Vorteile gegenüber der immer schärferen Konkurrenz verschaffen sollen und keineswegs weniger effizient sind als diese. In den siebziger Jahren, so sagte Razeen Sally, Ökonom an der London School of Economics, in der Zeit, hätten stattliche »50 Prozent des Handels nur noch unter staatlichem Management« stattgefunden, nachdem alle Maßnahmen wirksam geworden waren. Dies sei kaum weniger als in den dreißiger Jahren.
Immerhin scheint die Zeit der klaren Worte noch nicht angebrochen zu sein. Angesichts der im Jahr 1944 getroffenen Feststellung des Roosevelt-Kritikers John T. Flynn, dass Protektionismus und ein durch Subventionen zustande gekommener zu hoher Schuldenberg zu »permanenter Kriegführung« zwinge – man mag abschwächen: einen Krieg wahrscheinlicher mache –, ist das eine zumindest kurzfristig beruhigende Erkenntnis. Allerdings macht die derzeitige Entwicklung auch deutlich, dass, allen Lehren zum Trotz, die Politiker und Ökonomen aus den Krisenreaktionsdynamiken gezogen haben wollen, nicht nur Überakkumulation in einer auf Konkurrenz aufgebauten Ökonomie nicht vermieden werden kann, sondern auch die Kämpfe um die letzten Ressourcen der Akkumulation von den »ideellen Gesamtkapitalisten« (Engels) letztlich immer mit den härtesten Bandagen geführt werden dürften.