Über den Fotoband »Fluffy Clouds« von Jürgen Nefzger

Im Schatten der Kühltürme

Der Fotoband »Fluffy Clouds« von Jürgen Nefzger zeigt Landschaften,
in denen Atomkraftwerke nicht fern sind.

Im Vordergrund baden Menschen im Fluss, angeln, spielen Fußball oder liegen in der Sonne. Alles erschiene geradezu idyllisch, wären im Hintergrund nicht Kühltürme zu sehen, aus denen riesige Dunstwolken in den Himmel steigen. Aber stören sie die Idylle überhaupt? Die Menschen, so scheint es, haben sich mit der allgegenwärtigen Gefahr längst arrangiert, scheinen sie gar nicht mehr als solche wahrzunehmen.
Schon der Titel von Jürgen Nefzgers Fotoserie wirkt verharmlosend: »Fluffy Clouds«, »flauschige Wolken«, heißt der Zyklus, für den der Fotograf die Umgebung von Atomkraftwerken in ganz Europa aufgenommen hat. Die Betonung liegt auf Umgebung, selten werden die Kraftwerke selbst in den Mittelpunkt gerückt. Auf manchen Bildern gestaltet sich dies als Versteckspiel mit dem Betrachter, etwa wenn die Kühltürme fast völlig von den Baumkronen eines Waldstückes verdeckt werden oder sich kaum mehr vom dunstigen Himmel abheben. Doch meist hat Jürgen Nefzger bei schönem Wetter fotografiert, damit die Dunstwolken entsprechend imposant vom Blau des Himmels umrahmt werden. Besonders bizarr wirkt ein Foto, das eine Familie mit Schlitten an einem verschneiten Hügel zeigt. Auf dem Bild sind keinerlei Kühltürme zu sehen, über den Köpfen steigt lediglich eine Wolke auf. Würde das Bild nicht im Kontext der Serie stehen, wäre es das perfekte Werbeplakat für »Pro Familia«.
Nefzgers Zyklus ist auf eigenartige Weise ambivalent. Findet hier eine Ästhetisierung des Schreckens statt oder wird vielmehr entlarvt, wie sehr sich unsere Gesellschaft mit diesem Schrecken abgefunden hat? Diese Frage ist nicht neu, sie wurde in der Kunstkritik bereits anhand jener Fotografenschule gestellt, in deren Tradition auch Nefzger steht. Aus der Klasse der Industriefotografen Bernd und Hilla Becher an der Kunstakademie Düsseldorf sind einige der bekanntesten deutschen Landschafts- und Architekturfotografen hervorgegangen, darunter Thomas Struth und Andreas Gursky, deren vermeintlich objektiver Stil, moderne Großstädte, Autobahnbrücken oder Fabrikhallen abzubilden, schon oft als Affirmation kritisiert worden ist. So schrieb Helmut Hartwig bereits 1974 über die Fabrikfotografien der Bechers: »Sie haben Industriebauten in ästhetische, in schöne Gegenstände verwandelt und nennen sie deshalb konsequent ›anonyme Skulpturen‹. Die Mittel der Umwandlung sind die der ›objektiven‹ Fotografie: Isolierung der Objekte aus den Zusammenhängen, unbedingt aus Produktionszusammenhängen.«
Dennoch bleibt die Frage, ob die Ästhetisierung unserer Umgebung, die von Fotografen wie Gursky noch viel stärker als bei den Bechers selbst betrieben wird, nicht einer Schärfung der Wahrnehmung dient, die darauf zielt, Zusammenhänge überhaupt erst erkennbar zu machen – etwa die Veränderung der Landschaft durch Autobahnzubringer. »Schön« mag in diesem Fall zwar die Fotografie im Sinne eines gelungenen Werkes sein, das Dargestellte wird dadurch aber nicht notwendig ästhetisiert.
Ähnliches gilt für die Fotografien Jürgen Nefzgers, der es in Hinblick auf Ästhetisierung noch viel weiter treibt, stehen seine Bilder doch sowohl in der Tradition der niederländischen wie auch der spätromantischen Landschaftsmalerei, wo Menschen im Gesamtensemble zwar auftauchen, aber keine zentrale Rolle spielen. Sie fügen sich ein, doch die Natur bleibt stets dominant. Einige von Nefzgers Fotos fangen eine ähnliche Stimmung wie die Gemälde von Caspar David Friedrich ein. An die Stelle der Ruinen von gotischen Kathedralen sind jedoch Kühltürme gerückt. Es gibt allerdings einen wesentlichen Unterschied: Im Gegensatz zu den Bildern von Friedrich wirken die Menschen bei Nefzger nicht mehr verloren innerhalb einer sie fast verschluckenden Landschaft. Es sind nicht die Mönche am Meer, die über ihre Endlichkeit und Bedeutungslosigkeit angesichts der Weite des Universums sinnieren, sondern es sind Menschen, die sorglos ihre Freizeit gestalten. Das Morbide ist einer Kulturlandschaft gewichen, die den Eindruck erweckt, als habe der Mensch alles im Griff, sowohl die Natur wie auch die Technologie. Doch genau das ist trügerisch. Nefzgers Referenzen an Caspar David Friedrich sind insofern kein Zufall, da es durchaus möglich ist, auch die Kühltürme als Ruinen zu lesen, als Relikte aus einer Zeit, in der die Atomlobby noch ganz unbekümmert war. Wie die Ruinen bei Friedrich künden diese Kühltürme von einer vergangenen Epoche, die jedoch als tickende Zeitbombe gegenwärtig bleibt. In diesem Punkt erhalten Nefzgers Fotos ihre politische Aktualität. Die Laufzeitverlängerung von Biblis A, dem ältesten und störanfälligsten Kraftwerk Deutschlands, und Barack Obamas Entscheidung, neue Atomkraftwerke in den USA zu bauen, sind nur zwei Beispiele dafür, dass der Katalog »Fluffy Clouds« zum richtigen Zeitpunkt erschienen ist. Seine scheinbar idyllischen Landschaftspanoramen mit Kraftwerk illustrieren die immer wieder von der Atomlobby ins Spiel gebrachte Umweltfreundlichkeit der Atomenergie – und konterkarieren sie doch auch auf subtile Weise.
Zumindest die Kunstkritiker sind sich im Fall von Nefzger darüber einig, dass sich seine Fotos gar nicht anders als kritisch lesen lassen. Für den französischen Kritiker Christophe Catsaros befassen sich die Arbeiten »mit der Blindheit unserer Spezies und unserer Unfähigkeit, eine uns drohende Gefahr zu erkennen«. Im Nachwort des Katalogs zieht Ulrich Pohlmann ein ähnliches Resümee: »Die Landschaften von Jürgen Nefzger bergen ein stets lauerndes Menetekel. (…) Mit seinen Arbeiten gelingt Jürgen Nefzger zweifelsohne ein politisches Statement. Doch entwickelt sich der politische und gesellschaftliche Sinn unmittelbar aus der ästhetischen Anschauung seiner Landschaftsbilder, die nie symbolisch überfrachtet sind, sondern dank der subtilen Erfassung des Realen unsere Wahrnehmung und unser Bewusstsein nachhaltig zu schärfen wissen.« Dieser Befund mag nicht auf alle Fotos aus »Fluffy Clouds« zutreffen, sehr wohl aber auf das Covermotiv des Katalogs: Während im Hintergrund die obligatorischen Kühltürme zu sehen sind, zeigt der Vordergrund eine Reihe Einfamilienhäuser, Sitzbänke und eine Kinderschaukel im Schnee. Menschen sind hier keine zu sehen. Auf gespenstische Weise steht diese Menschenleere im Kontrast zu einer völlig vom Menschen besiedelten Welt, in der alles auf Familie, Kinder und Zukunft angelegt ist. Doch will man an­gesichts dieses Szenarios wirklich noch an Zukunft glauben?
Nefzger liefert keine eindeutig kritische und anklagende Kunst. Anders als auf den Plakaten der Anti-AKW-Bewegung werden hier keine Totenschädel und verseuchten Flüsse in den Mittelpunkt gerückt. Die vermeintliche Neutralität macht seine Arbeiten so irritierend. Um des kritischen Gehalts gewahr zu werden, bedarf es der interpretatorischen Leistung des Betrachters. Doch diese Zurückgenommenheit sorgt womöglich auch dafür, dass Nefzgers Aufnahmen stärker auf den Betrachter wirken als abschreckende Gasmasken-Motive, an die wir uns längst gewöhnt haben.

Jürgen Nefzger: Fluffy Clouds. Hatje-Cantz-Verlag, Ostfildern 2010, 144 Seiten, 35 Euro