Die Politik der Mitte überwinden!

Extremismus in Zeiten des Extremen

Der Extremismusbegriff reduziert das Politische auf politische Meinungen und hat ohnehin keine logische Konsistenz. Alles, was an ihm sichtbar wird, ist das Totalitäre der »total verwalteten Welt«.

Ob die Kampagne der Initiative gegen jeden Ex­tremismusbegriff (Inex) politisch Sinn ergibt beziehungsweise richtig ansetzt, ist wesentlich eine taktische Frage und als solche in der »Disko-Serie« der Jungle World kontrovers diskutiert worden. Die staatliche Einordnung allgemein linker oder linksradikaler sowie antifaschistischer Aktivitäten als extremistisch stellt mehr als nur eine politische Diffamierung oder eine bloß nominelle Gefahr dar: Es ist eine Kriminalisierung, die unter Umständen neben finanziellen auch strafrecht­liche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Mit dem Extremismus-Etikett ist dabei ein Schlagwort geschaffen worden, das es erlaubt, den vermeintlichen politischen Gegner zunächst noch unter Beobachtung zu dulden, damit er etwa seine antifaschistische Sozialarbeit als demokratisches Engagment leisten darf, um ihn dann nach derselben politischen Diktion wie die bekämpften Faschisten auszuschalten.
Das Moment des Politischen ist deshalb zu betonen, weil allein mit dem Label Extremismus bereits die Thematik im Politischen isoliert wird; und zwar in einem Politischen, das ausschließlich von Meinungen bestimmt ist und in dem es um die dem Politischen vorgelagerte Problematik sozialer Verhältnisse gar nicht geht. Der Extremismus ist insofern die übertriebene Meinung. Per definitionem ist das Extreme, »das Äußerste«, eine Übertreibung. »Extremist« ist eine Wortneuschöpfung des 20. Jahrhunderts, und es gibt ihn nur im politischen Kontext. Mit dem Suffix »-ismus« wird die politisch äußerste Position kollektiviert: Der Extremismus sind immer mehrere. Er stellt dabei keine Abweichung, nicht das gänzlich Andere dar. Sonst müsste er sofort verboten werden und wäre auch eindeutig als unmittelbare Bedrohung für Staat und Gesellschaft erkennbar, zum Beispiel in Form politischen oder auch religiösen Terrors. Vielmehr ist der Extremismus eine Übertreibung oder eben das Äußerste der Mitte, des offiziell demokratisch Tolerierten.
Da die Politik der Mitte aber nur zwei Seiten kennt, nämlich Links und Rechts, und umgekehrt Links und Rechts in der demokratisch organisierten Gesellschaft immer nur als politische Meinung wahrgenommen werden, gibt es zwangsläufig in der kategorisierenden Matrix des Staatsschutzes »Links-« und »Rechtsextremismus«. Dass faktisch die einen eben diesem Staat auch Arbeit in der Bekämpfung der anderen abnehmen, ist mehr als nur perfide: Gerade der konsequente Antifaschismus, der sich ja notwendig ins Äußerste vorwagen muss, weil die faschistische Bedrohung das Äußerste bedeutet (nämlich Gefahr für Leib und Leben), macht sich des Extremismus umso verdächtiger, je effektiver er ist. Müßig ist es, sich mit der Zuschreibung des Extremismus in dieser Form auseinanderzusetzen: Es ist eine politische Stigmatisierungsfloskel und keine Verhandlungssache, kein Diskussionsangebot der sich dabei als Mitte gerierenden Mehrheitsgesellschaft.

Ohnehin entspricht das Vokabular, zu dem eben auch Extremismus gehört, nicht unbedingt einer Politik, die im begrifflichen Denken, die überhaupt im Denken geschult ist; tatsächlich beziehen die Verfassungsschutzberichte der vergangenen Jahre ihre Evidenz nicht aus der Klugheit theoretischer Analyse (und das müssen sie ja auch gar nicht), sondern aus einfach guter Informiertheit. Diese reicht jedoch immer nur so weit, wie es die politische Vorstellung vom extremistischen Gesellschaftsfeind nötig macht. So wird im Hamburger Verfassungsschutzbericht ausführlich und sachlich keineswegs falsch über den antisemitischen Übergriff antiimperialistischer Schläger auf eine Filmvorführung der Gruppe Kritikmaximierung berichtet; die Gruppe rangiert nunmehr unter linksextremistisch. Dass es sich bei dem Film um Claude Lanzmanns »Warum Israel« handelt, wird nicht weiter thematisiert – der Logik nach hätte Lanzmann sonst ebenfalls als Ex­tremist aufgeführt werden müssen.
Allein taktisch ist die Frage nach dem Extremismus-Begriff auch deshalb zu klären, weil dieses Schlagwort überhaupt keine logische Konsistenz hat, ja nachgerade irrational ist. Auch dazu eine Anekdote: In Weimar formierte sich einst ein »BGR«, ein »breites Bürgerbündnis gegen Rechtsextremismus«. Zunächst hatte dieses Bündnis noch einfach »Bürgerbündnis gegen Rechts« geheißen, doch das kam der am Bündnis beteiligten, sich selbst ja rechts verortenden CDU naturgemäß irgendwann komisch vor. Da zeigt sich der kritische Punkt, an dem die Diskussion über das Taktische hinausgeht und sich als kritisch-theoretische Problematik entfaltet: Die politische Verengung dessen, was Extremismus genannt wird und doch nicht mehr ist als die Übertreibung der Mitte, ja nicht mehr als das Äußerste dessen, was ohnehin passiert, markiert paradox beides: Begriffslosigkeit und Bilderlosigkeit der herrschenden Politik.
Die Bilderlosigkeit kann man in den Andi-Comics des nordrhein-westfälischen Innenministeriums gegen Extremismus entdecken: in der Reduktion auf das agitatorische Klischee. Die Begriffslosigkeit macht etwa der sogenannte Extremismustheoretiker Eckhardt Jesse anschaulich, wenn er seine »Theorie« vom Extremismus allein aus unmittelbaren Analogieschlüssen gewinnt (siehe etwa Richard Gebhardt: »Unnachahmlich links«, Jungle World 52/2009). Und die Linke, die sich gegen den Extremismusverdacht wehrt, muss dann erst einmal das Wort in den Stand eines Begriffes heben, um die Angelegenheit diskutabel zu machen. In dieser Perspektive ist es fraglich, ob es Sinn ergibt, den Extremismusbegriff zu verwenden, ihn umzuwenden oder eben nicht.

Gerade wegen der Verengung auf das Politische taugt »Extremismus« als politischer Begriff kaum: Er kommt aus dem Schema von »Links« und »Rechts« nicht hinaus, und jene linke und rechte Position flankiert und bezieht sich stets auf die angebliche Mitte. Das Projekt einer emanzipatorischen Linken zielt aber in eine andere Richtung, nämlich auf die Zukunft hin: Es geht um Geschichte – und die fehlt der extremen Verortung im Politischen. Sowieso steht die Linke ja nur metaphorisch links neben der Mitte; tatsächlich steht sie als wirkliche Bewegung vorne im geschichtlichen Umwälzungsprozess. Ebenso wenig steht die Rechte seitlich rechts von der Mitte, sondern sie stemmt sich als politische Reaktion und gesellschaftliche Regression gegen die geschichtliche Dynamik, sie ist stets rückwärtsgewandt.
Der Extremismusbegriff impliziert zudem die Vorstellung, der Extremismus bedrohe die herrschende politische Ordnung – sei es Links- oder Rechtsextremismus, sei es religiöser Fanatismus und Fundamentalismus, oder seien es Rockerbanden und sonstige als kriminell eingestufte Gruppen. Aber was eigentlich ist bedroht, wenn die Mitte durch zentrifugale Kräfte zum Extremen tendiert, wenn das Gewaltmonopol von inneren Kräften mehr in Frage gestellt wird als von äußeren, wenn das Politische und die Politik nur noch durch idiotische Ideologeme zusammengehalten werden können, der Ausnahmezustand die Regel ist und ganz objektiv noch immer wie vor 50 Jahren »das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie potentiell bedrohlicher ist als das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie«, wie Adorno 1959 schrieb?
Totalitär sind heute nicht nur die terroristischen Gegenentwürfe zur realdemokratischen Gesellschaft, sondern die demokratische Gesellschaft ist es selbst – kraft ihrer identitären Funktionen, die die Kritische Theorie bereits im Schatten von Nationalsozialismus und Stalinismus beschrieben hat: autoritativer Konformismus, Verdinglichung und repressive Toleranz. Das sind die Chiffren einer Gesellschaft, die in sich, ja intrinsisch-strukturell deshalb widersprüchlich ist, weil sie die Menschen zugleich integriert und desintegriert. Genau in diesem Widerspruch von Integration und Desintegration ist die demokratische Gesellschaft total.
Entscheidend ist dabei, dass die Form von Herrschaft, die heute das Ganze der sozialen Verhältnisse bestimmt, in der Politik nur eine ihrer möglichen Erscheinungsformen hat, wesentlich allerdings in die ökonomische Struktur der »eindimensionalen Gesellschaft« eines »korporativen Kapitalismus« eingelassen ist. Deshalb kann sich eine emanzipatorische Kritik der herrschenden Zustände auch nicht auf die Politik beschränken; politische Kritik ist mehr als die zum Politischen geronnene Meinung, nämlich das, was Marx dereinst als Kritik der politischen Ökonomie entworfen hat. In der Gesellschaft des Spektakels erscheint das, was sich am Rand dieser »total verwalteten Welt« aufhält, notwendig als bedrohlicher Extremismus, als Gewalt gegen eine nur durch Gewalt zusammengehaltene Gesellschaft. Dieser Extremismus wäre in seiner Notwendigkeit zu brechen.
Adorno hat daraus gefolgert, was ihn heute der polizeilichen Verfolgung aussetzen würde: »Wenn Hoffnung bleibt in der verwalteten Welt, dann liegt sie nicht bei der Vermittlung, sondern bei den Extremen«. Es sind dies immer noch die Ex­treme, die das Zeitalter prägen, an denen eine Kritik sich notwendig abarbeiten muss. »Nur von ihren Extremen her kann die Wirklichkeit erschlossen werden«, heißt es bei Siegfried Kracauer. Dabei geht es allerdings nicht um den Standpunkt, der in den Extremen verharrt, sondern darum, die Verhältnisse selbst in wirkliche Bewegung zu bringen, Geschichte als Fortschritt in Gang zu setzen, die totalitäre Politik der Mitte zu überwinden und den Extremismus zum endgültig Äußersten zu übertreiben.