Jetzt ist Zeit für eine Sensation!

Die Rhetorik rund um die Sparmaßnahmen soll uns klar machen, dass wir den Gürtel enger schnallen müssen. Dagegen regt sich eurpopaweit wütender Protest. Zurecht. Gut, dass die Sozialdemokratie nicht mehr in der Lage ist, die Wut reformistisch zu befrieden.

Wir sind die Griechen. Wir sind die Prasser, die Schwarzarbeiter, die Steuerbetrüger, die Profiteure des gewerkschaftlich-industriellen Komplexes, die Frühvergreisten, die sich schon mit 58 Jahren ihre Rente erschleichen.
Die Hetze in deutschen Zeitungen, die sich in den vergangenen Wochen über die Bewohner Griechenlands ergossen hat, lässt sich unschwer als Ermahnung an die eigene Klientel entschlüsseln. All das, was die Presse den Griechen zuschreibt, kennt man aus früheren Kampagnen gegen Hartz-IV-Bezieher, Gewerkschafter, streikende Klinikärzte, Müllwerker und Eisenbahner. Richtig gelesen: Es lässt sich unschwer entschlüsseln. Das Bewusstsein, dass in Wirklichkeit man selbst gemeint ist, dürfte weiter verbreitet sein, als es linke Aufklärer vielleicht gerne wahrhaben wollen. Es ist ein offenes Geheimnis. Genau deshalb verfängt die Anti-Griechen-Propaganda: Wo auf den Popanz mit dem ausgestreckten Finger gezeigt wird, besteht noch die Chance, schnell auf die Seite der ehrlich Arbeitenden zu wechseln.
Rette sich, wer kann! Oder besser: Retten wir, was noch zu retten ist! – Unter diesem unglückseligen Zeichen steht die aktuelle Protestwelle, die von Griechenland ausgehend andere Länder erfassen wird. In Frankreich und Spanien kam es bereits zu Arbeitsniederlegungen, symbolische Generalstreiks stehen kurz bevor. Die Proteste, mögen sie noch so wutgetrieben sein, bewegen sich zurzeit ganz auf der klassischen sozialpartnerschaftlichen Verhandlungslinie: Die »da oben« versprechen zerknirscht eine Regulierung der Finanzmärkte, während die Subalternen sich gegen die »Zocker« austoben dürfen. Wir nehmen die Sparmaßnahmen schon hin, wenn die Banken endlich an die Kandare genommen werden.
Es ist offensichtlich, dass diese Verhandlungslinie eine jeweils nationalstaatliche fixierte ist, dass es darum geht, den Ausverkauf des Vaterlands an Hedge Fonds zu verhindern und das Wohlstandsniveau, das immer ein national definiertes ist, irgendwie noch zu stützen. So gesehen scheinen die Proteste – die bereits stattgefundenen wie die kommenden – wenig perspektivreich. Indem die Protestler fordern: »Bis hierhin und nicht weiter!«, sprechen sie den jeweils herrschenden Politikern schließlich ein neues Mandat aus. Nur zu gerne ist die herrschende Klasse bereit, dieses »bis hierhin« politisch-moralisch (aber nicht materiell!) anzuerkennen, denn darin drückt sich aus, dass die Beherrschten den Status quo prinzipiell akzeptieren oder den Bruch mit ihm (noch) fürchten.
Was aber, wenn die Dynamik der Krise noch den Nationalismus der Protestierenden untergräbt? Heil war die Welt in den Krisenländern auch vor dem Crash nicht: hohe Jugendarbeitslosigkeit, unbezahlbare Innenstädte, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, rassistische Segregation ganzer Teile der Arbeiterklasse. Die Situation in Spanien, Italien, Frankreich und in Griechenland ist schon seit Jahren ungemütlich. In Deutschland stehen mit dem Hartz-System und der zermürbenden Integrationsdebatte ebenso verfeinerte Instrumente der sozialen Repression bereit.
In dieser Krise der reichen EU-Staaten ereignet sich noch eine viel größere – und all die Flexibilitäts-Gebote und Empowerment-Zumutungen der vergangenen Jahre erweisen sich als Schall und Rauch. Es hat nichts gebracht. Am Ende sind wir alle von der Arbeitslosigkeit bedroht. Daraus – aus der Aussicht auf gemeinsames Elend – könnte sich eine andere, gemeinsame, emanzipatorische, kurzum: auf Selbstbefreiung ausgerichtete Perspektive der europäischen Proteste entwickeln. Historisch wäre das eine Sensation: Die Aussicht auf das Elend der Arbeitslosigkeit hat in den Krisen des Kapitalismus das Proletariat noch nie solidarischer gemacht – vielleicht kämpferischer, wobei aber gerne nach ganz unten getreten wurde. Und das könnte jetzt anders laufen? Ja, weil diese Krise sich aus einer anderen, schon lange schwelenden herausentwickelt hat, weil die Leute schon zig Aufrufe zu Bescheidenheit und Opferbereitschaft hinter sich haben, deren Nutzen sich als Selbstbetrug entpuppt.
Frühere Krisen trafen auf eine aufsteigende oder gefestigte Arbeiterbewegung. Doch die Gewerkschaften und Arbeiterparteien dienten sich mit ihrem Reformismus dem Bürgertum als Bündnispartner an, um »Schlimmeres« zu verhindern, beispielsweise eine unkontrollierte Radikalisierung der Proleten. Diese starken Gewerkschaften und Parteien gibt es nicht mehr. Unter dem neo­liberalen Leitbild ist den Sozialdemokraten und den letzten Eurokommunisten der Reformismus ausgetrieben worden. Der Rest sind geistiges Elend, deprimierende Wahlergebnisse und aus China importierte Trillerpfeifen. Dass sich die Ordnungsmacht dieser alten Organisationen im Fortschreiten der Krise nicht mehr bewähren können wird ist insofern – eine gute Nachricht.