In der Mitte wird es enger. Einkommensentwicklung und Krise

Die goldene Mitte

Eine Studie warnt, dass in Deutschland die Mittelschicht schwinde und das Einkommensgefälle wachse. Sie beschönigt damit die sozialen Widersprüche.

Das Wort »Mitte« hat in der Politik einen fast mystischen Klang. In Zeiten, in denen lautstark über Extremismus diskutiert wird, gerät das Mittige zur Projektionsfläche alles Guten, sei es im Buhlen um die politische Mitte, sei es in der Glorifizierung des unternehmerischen Mittelstandes. Jetzt gibt es Grund zur Sorge für die Freunde der Mitte. Denn die Mittelschicht schrumpft. Zu diesem Ergebnis gelangt eine Studie, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in der vergangenen Woche veröffentlicht hat. Demnach gehörten im vergangenen Jahr nur noch 60 Prozent der Deutschen zur Mittelschicht. Im Jahr 2000 sollen es noch 66 Prozent gewesen sein. Die Zahl der Menschen in der unteren und oberen Schicht sei dagegen von 18 auf 22 Prozent beziehungsweise von 16 auf 19 Prozent gestiegen. Schockierte Reaktionen sind die Folge: DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki sieht »das Fundament unserer Demokratie« dahinschwinden, der Spiegel warnt vor einer »Erosion« und »Verrohung« der Gesellschaft. Reiche würden immer reicher und Arme immer ärmer, lautet der Tenor. Und das »unsoziale« Sparpaket der Bundesregierung, das alles noch schlimmer mache, steht gleich mit in der Kritik.

Doch wer oder was ist eigentlich die sagenumwobene Mittelschicht? Das DIW greift in seiner Studie auf ziemlich unkomplizierte Grenzziehungen zurück und bezieht sich allein auf die Einkommensverhältnisse. Vorbei scheint die Zeit, in der Soziologen die Mittelschicht auch über ein Set von sozialen und kulturellen Merkmalen definierten. Mittelschicht ist nach der Definition des DIW, wer mehr als 70 Prozent und weniger als 150 Prozent des »mittleren Einkommens« zur Verfügung hat. Konkret heißt das: Ein Single mit einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 860 und 1 844 Euro im Jahr 2009 gehört dazu. Daran gemessen wirkt es plausibel, wenn sich ein Großteil der Deutschen in Umfragen regelmäßig der Mittelschicht zurechnet – ist die Eintrittsgrenze doch überraschend niedrig. Auch die Einkommensverhältnisse der Oberschicht wirken fast schon kommunistisch, wenn das DIW deren Durchschnitt auf lediglich 2 672 Euro im Monat veranschlagt.
Angesichts solcher Größenverhältnisse erscheint die Aussage der DIW-Forscher, dass immer mehr Menschen »in Luxus leben«, während zugleich immer mehr Menschen »arm sind«, ein wenig thea­tralisch. Das Gefälle zwischen Arm und Reich fällt in der DIW-Darstellung recht moderat aus. Zwar ist ein reeller Prekarisierungs- und Verarmungstrend – vor allem in den neuen Bundesländern – offensichtlich, doch von einem »großen Verlierer« namens Mittelschicht kann nicht die Rede sein. Denn auch nach dem Modell der DIW ist die Differenz zwischen dem durchschnittlichen niedrigen Einkommen und dem durchschnittlichen mittleren Einkommen lediglich um 27 Euro im Berechnungszeitraum gestiegen. Nach oben hin gibt es eine Zunahme von 78 Euro. Die FAZ hat insofern nicht Unrecht, wenn sie von einer »inszenierten Mittelschichts­panik« spricht und darauf hinweist, dass die DIW-Befunde auf keine Veränderungen im Schichtengefüge hinwiesen. Ihr Autor Jürgen Kaube spricht von »abenteuerlichen Befunden« und einer »messideologisch angerichteten Konfusion«, die angehende Studienräte, Eishockeyspieler und Josef Ackermann in den gemeinsamen Topf »Oberschicht« werfen würde. Kurzum: Die Studie sei soziologisch haltlos.

Haltlos ist die Studie aber nicht etwa aufgrund ihres Jammerns um die Mittelschicht, wie es die FAZ bemängelt, sondern vor allem, weil sie – im Gegenteil – mit der Fokussierung auf die Mittelschicht das soziale Gefälle geradezu beschönigt wiedergibt. Zur Berechnung des mittleren Einkommens gilt ihr nämlich der Median. Dieser Wert steht für das Einkommen, das sich exakt zwischen dem von 50 Prozent der Bürger mit weniger Einkommen und dem von 50 Prozent der Bürger mit mehr Einkommen befindet. Diese Methode nivelliert die Tatsache, dass sich ein großer Teil des gesellschaftlichen Einkommens bei wenigen Spitzenprozenten konzentriert. Das erklärt den moderaten Eindruck von sozialer Ungleichheit, den die aktuelle DIW-Studie vermittelt. Dabei ist hinlänglich bekannt, dass sich in den beiden vergangenen Jahrzehnten global der Reichtum der sogenannten Superreichen exorbitant erhöht hat und wenige hundert so viel zur Verfügung haben wie mehrere Milliarden Menschen zusammengenommen.
Das DIW selbst hatte diese Entwicklung im Hinblick auf Deutschland bereits im vergangenen Jahr in einer anderen Studie aufgeschlüsselt. Demnach vereinigte im Jahr 2007 das oberste Prozent der Bevölkerung 23 Prozent des gesellschaftlichen Reichtums auf sich, während die ärmeren 70 Prozent lediglich neun Prozent allen Vermögens besessen haben. Die obersten zehn Prozent wiederum kamen auf knapp 62 Prozent des gesellschaftlichen Vermögens. Aus einem Gesamtvermögen von 6,6 Billionen Euro ergab sich dabei ein mittlerer Vermögenswert von etwa 88 000 Euro, ein Besitzstand, von dem die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft sehr weit entfernt ist. Auch die Tatsache, dass das gesellschaftliche Gesamtvermögen in den vergangenen Jahren weiter gesteigert wurde, die Reallöhne aber gesunken sind, bedeutet, dass die unternehmerische Oberschicht ihre Gewinne auf Kosten der Beschäftigten steigern konnte. Dass diese Relationen von Arm und Reich in der Mittelschichtsthese des DIW nicht angemessen zum Ausdruck kommen, stellt deren Schichtmodell insgesamt in Frage. Die Studie ist schlichtweg verharmlosend, gibt aber immerhin Anlass zur Diskussion.

Während nun der Spiegel schon überall brennende Autos und Straßenkrawalle befürchtet, die durch eine weitere Erosion der Mittelschicht und ein Wachstum der Unterschicht ausgelöst würden, prognostizieren die DIW-Forscher einen aufkommenden Extremismus der Mitte: Statusängste in der Mittelschicht könnten dort zu Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass führen. FAZ-Autor Kaube hält dies für eine »unverschämte« Deutung, die der Phantasie entsprungen sei. Er hätte sich vorher mal besser genau umgeschaut. Denn bei den Kollegen von der Welt, die den Mittelschichtsabsturz ebenso für »Panikmache« halten, geht man davon aus, dass es unter anderem der »wachsende Anteil der Migranten«, die »durchschnittlich mehr Kinder bekommen als die Deutschen«, sei, der die Unterschicht anwachsen lasse. Dank ihnen würden also die Deutschen nicht nur »durchschnittlich dümmer« (Sarrazin), sondern auch durchschnittlich ärmer.