Roya Boroumand im Gespräch über eine neue Studie zu den Gefängnismassakern von 1988 im Iran

»Die Massaker waren entscheidend«

Roya Boroumand ist Direktorin der Abdorrahman-Boroumand-Stiftung, die jüngst eine Studie über die Gefängnismassaker im Iran im Jahr 1988 herausgebracht hat. Diese belastet unter anderen den heutigen religiösen Führer und damaligen Präsidenten Ayatollah Khamenei. Aber auch Mir-Hossein Mousavi, der heute als Führungsfigur der »Grünen Bewegung« gilt und in der Zeit der Massaker Premierminister war, wird erwähnt. Iranische Oppositionelle werfen der in Washington ansässigen Stiftung vor, ihre Publikation drohe Mousavi und damit die Oppositionsbewegung zu schwächen. Boroumand ist Historikerin und hat insbesondere zur iranischen Geschichte nach 1945 geforscht.

Vor 22 Jahren fanden im Iran die sogenannten Gefängnismassaker statt. Was ist damals geschehen? Am 28. Juli 1988 wurde eine Fawta vom damaligen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini erlassen, die Delegationen von Richtern erlaubte, in allen oder zumindest vielen Gefängnissen im Iran über die politischen Gefangenen Gericht zu halten. So wurden Menschen, die bereits zu Gefängnisstrafen verurteilt waren, nach ein paar Fragen über ihre Haltung zum Islam und ihre politische Gesinnung zum Tod verurteilt. In den Wochen von Ende Juli bis etwa Mitte August 1988 wurden mehrere tausend politische Gefangene in mehreren iranischen Gefängnissen gehängt. Viele hatten ihre Strafen bereits fast abgesessen. Sie hatten in der Regel keine Ahnung, dass die Fragen, die ihnen gestellt wurden, über Leben und Tod entscheiden würden. Viele dachten, es handle sich um eine Begnadigungskommission. Ihre Stiftung hat einen Bericht über das Gefängnismassaker veröffentlicht. Enthält er neue Einsichten über die Ereignisse? Dieser Bericht ist der bisher umfassendste, der in englischer Sprache vorliegt, und ist auch detaillierter als alles, was es dazu in Farsi gibt. Er enthält eine rechtswissenschaftliche Analyse von Geoffrey Robertson, einem sehr angesehenen Juristen und Experten für das Fachgebiet »Verbrechen gegen die Menschheit«. Er hat die Ereignisse untersucht, Überlebende interviewt und ist vielen Äußerungen des politischen Führungspersonals der Islamischen Republik nachgegangen, um festzustellen, was diese Tötungen im Rahmen des internationalen Rechts bedeuten. Dieser Bericht beleuchtet den Hintergrund der Ereignisse, den auch im Iran sehr wenige Menschen kennen. Wir haben über mehrerer Jahre hinweg Reden, Zeitungsartikel und Interviews dieser politischen Führungskräfte recherchiert, in denen es um die politischen Gefangenen geht. Diese Statements sind neben denen der Überlebenden und deren Angehörigen die Grundlage dieser juristischen Analyse. Es heißt, der Einzige, der sich aus dieser Führungsriege je zu den Massakern geäußert habe, sei Ayatollah Montazeri gewesen, während die Verantwortlichen entweder tot seien oder schweigen würden. Etliche iranische Politiker haben Andeutungen zu den Gefängnismassaker gemacht. Man muss verstehen, dass das im Iran ein sehr sensibles Thema ist. Dem politischen Establishment im Iran, egal welcher Fraktion, ist völlig bewusst, dass sie keine Rechtfertigung für diese Tötungen haben – weder im Sinne des internationalen Rechts noch gegenüber der iranischen Bevölkerung. Ayatollah Montazeri war mutig genug, Ayatollah Khomeini zu schreiben, als er erfuhr, dass diese Tötungen stattfinden. Es dauerte eine Weile, bis die Öffentlichkeit von diesen Briefen erfuhr, sie wurden, so weit ich weiß, erst im Jahr 2000 in seinen Memoiren veröffentlicht. Ein paar Monate nach den Ereignissen im Sommer 1988 wurde Ayatollah Khamenei, der damals noch kein Ayatollah, sondern nur der Präsident des Landes war, von Studenten zu den Tötungen befragt. Diese Debatte wurde in einer iranischen Zeitung veröffentlicht. Ein Student fragte ihn, was er zu den Hinrichtungen zu sagen habe. Khamenei leugnete die Tötungen nicht; er sagte, die Gefangenen hätten sich mit dem Feind, dem Irak, verschworen und hätten den Iran verraten, und in solchen Situationen solle niemand von der iranischen Führung erwarten, »Süßigkeiten zu bekommen«. Und dann sagte er, ohnehin sei nicht er verantwortlich gewesen, sondern die Justiz. Rafsanjani wurde ebenfalls befragt. Er behauptete, es habe »nur« etwa 1 000 Hinrichtungen gegeben. Inwieweit der damalige Premierminister Mir-Hossein Mousavi bei dem Massaker eine Rolle gespielt hat, ist nicht bekannt, aber ihm unterstand das Informationsministerium und damit der Geheimdienst. Und die Sache ist ja keine Kleinigkeit, da wurden mehrere tausend Gefangene, die bereits ihre Strafe verbüßt hatten, hingerichtet, weil sie nicht ihre politischen Ansichten widerriefen und sich nicht der Ideologie der Islamischen Republik unterwerfen wollten. Das war ihr »Verbrechen«. Es stimmt, dass die Volksmujahedin militärische Stützpunkte im Irak unterhielten und nach dem Waffenstillstand eine Invasion in den Iran begonnen hatten. Aber nachdem die Volksmujahedin hingerichtet waren, haben sie die Kommunisten hingerichtet, die zum Teil gegen die Mujahedin und sogar für die Islamische Republik waren. Das können sie nicht erklären. Welche Konsequenzen hatte das Massaker für die politische Kultur der Islamischen Republik? Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, dieses Massaker hatte eine sehr praktische Auswirkung, dass nämlich für mehrere Jahrzehnte jeder politischer Widerspruch neutralisiert wurde. Potentielle Dissidenten waren im Gefängnis. Menschen, die sich durch Gewalt nicht abgeschrecken ließen, wurden ausgelöscht. Die meisten von ihnen wären, hätte man sie nicht hingerichtet, in kurzer Zeit freigelassen worden, und zwar in eine Gesellschaft, die nach dem Ende des Krieges mit dem Irak nicht mehr durch einen kriegsbedingten Ausnahmezustand kontrolliert werden konnte. Die Überlebenden fühlten sich durch das, was sie gesehen und mitgemacht hatten, wie tot. Viele von ihnen haben uns gesagt, dass sie sich für ihr Überleben schuldig fühlen. Sie und ihre Familien und die der Getöteten sind schwer traumatisiert. Die Massaker waren absolut entscheidend, weil sich die Islamische Republik damals in einer Krise befand. Der Sturz Saddam Husseins war nicht gelungen. Der Iran hatte einen Friedensschluss unterzeichnen müssen, den Khomeini mit einem »Becher Gift« gleichsetzte, sie mussten ihren Plan aufgeben, nach der Befreiung der heiligen Stätte in Kerbala im Irak weiter gen Jerusalem zu ziehen. Das war ein schwerer Schlag für die Führung der Islamischen Republik. Die Menschen wurden mutiger, es gab erste kleinere Antikriegsdemonstrationen. Der Ölpreis war extrem niedrig, die Regierung hatte kaum Geld und war sehr angreifbar. Und in diesem Moment entledigte sie sich jedes potentiellen Widerspruchs und statuierte zugleich ein entsetzliches Exempel, das sich durch stille Post verbreitete und über das nicht wirklich diskutiert wurde. Sie erkauften sich sozusagen mehr als ein Jahrzehnt, um sich wieder als starke Regierung einrichten zu können. Eine Generation von Dissidenten wurde zerstört, und erst in den späten neunziger Jahren kam eine neue Generation, die sich nicht in dieser Weise an die achtziger Jahre erinnern konnte und begann, ihre Rechte einzufordern. Es dauerte also lange, bis sich die Iraner soweit erholt hatten. Und heute versammelt sich diese junge Generation hinter der Figur Mir-Hossein Mousavis – sozusagen hinter einem der Verbrecher der achtziger Jahre? Es ist ein wenig komplizierter. Viele dieser jungen Leute, von denen ich sprach, versammelten sich zunächst um Khatami. Er sprach von Zivilgesellschaft und Öffnung, das war für sie neu und attraktiv. Sie wurden aber schwer enttäuscht und mussten feststellen, dass eine Reform von oben nicht funktioniert. Langsam wurde ihnen klar, dass sich nichts ändern wird, solange die Verfassung so ist, wie sie ist. Das war ein langwieriger Prozess, an dem viele Gruppen und Individuen beteiligt waren, da geht es nicht einfach um eine Masse, die sich hinter irgendwem versammelt. Und so distanzierten sich schrittweise vor allem die studentischen Aktivisten vom Regime. Sie meinten, zu der herrschenden Macht auf Abstand gehen zu müssen, also beschlossen sie, die Wahlen zu boykottieren. An Khatamis Wiederwahl nahmen viel weniger Menschen teil. Dann gab es einen sehr großen Boykott derjenigen Wahl, aus der Ahmadinejad erstmals als Präsident hervorging. Als die Aktivisten merkten, dass es unter Ahmadinejad immer schlimmer wurde, wurde sehr ernsthaft diskutiert, was zu tun sei. Einige wollten weiterhin die Wahlen boykottieren, und andere beschlossen, lieber das kleinere Übel zu wählen. Sie taten das nicht, weil sie glaubten, das sei eine echte Demokratie. Vorgezogen hätten die Studenten und Frauenaktivisten auch eher den Kandidaten Mehdi Karroubi, weil der in vieler Hinsicht viel expliziter war. Aber Mousavi wirkte weniger polarisierend. Man kalkulierte, dass auch viele ihn wählen würden, die ihn noch als Premierminister der Kriegsjahre gut fanden. Es war also auch eine strategische Entscheidung. Aber selbst während der Kampagne konnte man sehen, wie auf Veranstaltungen Schilder mit der Aufschrift »1988?« hochgehoben wurden. Mousavi wurde auch während der Kampagne direkt auf seine Rolle bei den Tötungen angesprochen. Aber offiziell waren sie ein Geheimnis. Außerdem lebten 1988 36 Millionen Menschen im Iran, heute sind es fast 70 Millionen – viele waren damals also noch nicht geboren. Es gibt heute viele, denen die Gefängnismassaker nicht bewusst sind. Es ist also etwas komplizierter. Die Entscheidung, diesen Bericht zu publizieren, wurde von Teilen der iranischen Oppositionsbewegung kritisiert. Es hieß, es sei nicht der richtige Zeitpunkt, eine so wichtige Symbolfigur der Bewegung wie Mousavi zu belasten. Sie haben geantwortet, es sei nie der falsche Moment, die Wahrheit zu sagen. Kann die Debatte über das Massaker die Opposition eventuell auch positiv beeinflussen? Erstens wurde der Bericht geplant, als im vorletzten Sommer die Angehörigen der Opfer daran gehindert wurden, die Massengräber zu besuchen, in denen die Opfer zum Teil verscharrt sind. Der Friedhof wurde abgeschlossen. Früher wurden die Angehörigen nur etwas gegängelt, jetzt durften sie gar nicht mehr dort hin. Im Januar 2009 wurde ein Teil des Friedhofs mit Bulldozern umgepflügt, um ihn in einen Park umzuwandeln. Ungeachtet der politischen Umstände ist es wichtig, diesen Ort zu erhalten, damit die Angehörigen sich dort einmal im Jahr versammeln können, um zu trauern. Dies war das ursprüngliche Anliegen. Der zweite Aspekt betrifft die eigentliche Menschenrechtsarbeit. Es geht darum, Leute für Verbrechen gegen die Menschheit verantwortlich zu machen und damit zu zeigen, dass man sie auch in Zukunft dafür verantwortlich machen wird. Wenn ein Führer einer Bewegung im Begriff ist, ein potentieller Machthaber zu werden, wie in diesem Falle Mousavi – was hindert ihn daran, in der Zukunft zu tun, was er bereits in der Vergangenheit getan hat? Wenn er es in der Vergangenheit richtig fand, in einer Krisensituation Dissidenten auf diese Art auszuschalten, was heißt das für die Zukunft? Dieses Ereignis geschah, während er Premierminister war. Was seine genaue Rolle war, ist uns bislang sehr unklar. Aber ihm unterstand das sogenannte Informationsministerium, und das hatte damals Büros in allen Gefängnissen, die beurteilen sollten, inwieweit die Gefangenen widerrufen hatten. Diese Urteile wurden in den Schnellgerichten benutzt, um festzustellen, ob die Gefangenen die Richter belügen oder nicht. Zu dieser Zeit hat Mousavi nichts öffentlich gegen die Hinrichtungen gesagt. Wir wissen nicht, ob er privat etwas dagegen hatte. Heute sagt er, es seien Verräter gewesen und die Tötungen gerechtfertigt. Was bedeutet das, wenn er in Zukunft politische Macht bekommt, und es dann eine Krise gibt? Ich glaube, dass diese Diskussion daher sehr wichtig ist. Abgesehen davon geht es in dem Bericht nicht vorrangig um Mousavi. Als wir mit der Recherche anfingen, war er noch nicht wieder auf der politischen Bildfläche aufgetaucht. Aber viele Richter, die damals in den sogenannten Todeskommissionen waren, sind heute Richter in den Revolutionsgerichten und richten über die Dissidenten von heute. Khamenei, der damals Präsident war, ist heute Revolutionsführer, dem die Justiz untersteht. Es gibt einen damaligen Gefängniswärter, der in besonderer Weise für die Hinrichtungen verantwortlich war, er ist heute Richter des berüchtigten 26. Revolutionsgerichts. Er ist einer der schlimmsten Richter. Ist es ein guter Zeitpunkt für den Bericht? Ja, es ist ein guter Zeitpunkt. Er hat unter den Iranern eine sehr gute Debatte über die Notwendigkeit der Wahrheit angestoßen. Das ist wichtig für alle Gesellschaften, deren Geschichte von Diktatur geprägt ist.