Über die exzessive Ausweitung der prekären Arbeit

Gegen den grünen Schein

Unter den EU-Staaten hat Portugal den höchsten Anteil an prekär Beschäftigten. Initiativen wie Précarios Inflexiveis wehren sich gegen die Zumutungen unsicherer Arbeitsverhältnisse.

Ein junger Mann sitzt entspannt in einem Drehstuhl und spricht fröhlich in sein Headset. Eine gleichaltrige Frau kommt kurz vorbei und plaudert mit ihm, dann geht die Arbeit weiter. So schön kann ein Job in einem Call-Center sein, wenn man dem Werbespot einer der vielen Zeitarbeitsfirmen in Lissabon glauben will.
Vielen Portugiesen bleibt auch gar nichts anderes übrig, als sich an eine der vielen Agenturen zu wenden. Ob beim Telefon-Marketing, in der Gastronomie oder in der Verwaltung – immer mehr Stellen werden ausschließlich auf diese Weise vergeben. Die Bezahlung ist in der Regel schlecht, und die meisten Bewerber werden nur für kurze Zeit beschäftigt.
Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) arbeitet rund ein Viertel aller Beschäftigten in Portugal selbständig, in absoluten Zahlen entspricht dies etwa 1,3 Millionen Personen. Zählt man diejenigen hinzu, die von Leiharbeitsfirmen vermittelt werden oder nur über zeitlich befris­tete Arbeitsverträge verfügen, erhöht sich die Quote auf über ein Drittel aller Beschäftigten. Damit dürfte das kleine Land am Atlantik in Europa Spitzenreiter sein – in keinem anderen EU-Staat gibt es im Verhältnis zur Bevölkerungszahl einen derart großen Sektor prekärer Arbeit.
Eine portugiesische Besonderheit ist dabei das System der sogenannten Recibos Verdes, der grünen Quittungen. Ursprünglich dafür gedacht, einfache Dienstleistungen etwa von Handwerkern zu quittieren, haben sich die grünen Scheine zu einem wesentlichen Bestandteil der Sozialversicherung entwickelt. Auf dem kleinen Formular werden die Lohnzahlungen sowie die Beiträge für Steuern und die Sozialversicherung festgehalten. Die Vorteile für die Unternehmer liegen auf der Hand: Abgaben muss nur der Beschäftigte entrichten, bezahlt wird nur die tatsächlich geleistete Arbeitszeit. Kranken-, Weihnachts- oder Urlaubsgeld gibt es für die Prekären nicht. Zudem können sie von ihrem Chef jederzeit gekündigt werden, auch von einer Stunde auf die andere.

»Die Quittungen existieren bereits seit 30 Jahren«, erzählt Ricardo Vicente von der Initiative Précarios Inflexiveis (Unflexible Prekäre). »Aber in den vergangenen Jahren haben sie eine enorme Verbreitung gefunden.« Mittlerweile rechnen Beschäftigte quer durch alle Berufssparten über diese Scheine ab. Hinzu kommt die sukzessive Ausweitung der Leiharbeit. Wer auf diese Weise einen Job erhält, muss zwar die gleiche Arbeit verrichten wie die Kollegen mit Vertrag, aber zu einem wesentlich geringeren Lohn und ohne die damit verbundenen Rechte.
Auch Vicente hat nach seinem Studium der Agrarökonomie nur eine befristete Stelle gefunden und wurde von einer Leiharbeitsfirma an eine Behörde vermittelt. Jetzt ist er wieder arbeitslos und hat Zeit, sich bei der Initiative zu engagieren. »Den Namen haben wir gewählt, weil die prekären Verhältnisse einfach eine Realität sind«, sagt er. »Aber wir sind unflexibel, wenn es um unsere Rechte geht.«
Künstler, Medienschaffende, Hebammen oder klassische Freiberufler wie Architekten gehören schon seit langem zum klassischen Klientel, das auf Schein arbeitet. Neu ist hingegen, dass auch immer mehr Beschäftigte im öffentlichen Dienst davon betroffen sind. Galt früher ein Job im Staatsdienst als sicher, so landen heute viele oft nur noch über den Umweg einer Zeitarbeitsfirma in einer Behörde. Die Regierung, die wegen der Wirtschaftskrise im Frühjahr einen generellen Einstellungsstopp verhängt hat, profitiert von dieser Entwicklung. Die vermeintlich selbständigen Mitarbeiter tauchen nicht mehr in ihrer Stellenstatistik auf.
Kein Wunder also, dass Angel Gúrria, Generalsekretär der OECD, bei einem Treffen mit Unternehmern vergangene Woche in Lissabon die Regierung für ihren »Reformeifer« lobte. Zugleich wies er aber darauf hin, dass der portugiesische Arbeitsmarkt, insbesondere beim Kündigungsschutz, weiter »flexibilisiert« werden müsse. Nur so könne sich die Wirtschaft erholen und der Staatshaushalt saniert werden.
Zumal die Prekären deutlich billiger sind als die dauerhaft Angestellten. So offerierte vergangene Woche das Bildungsministerium auf seiner Website ein Jobangebot: Gesucht werden 100 Aushilfslehrer, die für drei Euro pro Stunde maximal drei Stunden am Tag arbeiten. Der Monatsverdienst liegt bei 198 Euro brutto. Mittlerweile arbeiten schätzungsweise 100 000 prekär Beschäftigte im öffentlichen Dienst.
Das führt auch zu kuriosen Konstellationen. Weil die freien Mitarbeiter miserabel verdienen, können sie oft die obligatorischen Steuern und Sozialabgaben nicht mehr entrichten. Deswegen erhalten sie regelmäßig Mahnschreiben – ausgestellt von temporär Beschäftigten bei den Sozialbehörden, die ebenfalls auf Basis der grünen Quittungen arbeiten.
In Spanien nennt man diese junge Generation, die nach Ausbildung und Studium ihre ersten Jobs sucht, mileuristas, die »1 000-Euro-Verdiener«, in Griechenland heißt sie »Generation 700 Euro«. In Portugal verdienen viele gerade mal 500 Euro, was in etwa dem Mindestlohn entspricht. Dabei handelt es sich um die gebildetste Generation der portugiesischen Geschichte. Fast 400 000 Studenten sind an den Universitäten eingeschrieben, rund 20 Prozent mehr als noch ein Jahrzehnt zuvor.
Wer wenig verdient und nicht einmal weiß, ob er nächsten Monat noch einen Job hat, macht kei­­ne großen Sprünge, fährt nicht in den Urlaub und kann sich erst recht keine eigene Wohnung leisten. Dann bleibt nicht viel mehr übrig, als weiterhin bei den Eltern zu wohnen. Rund drei Viertel der 20- bis 30jährigen leben noch oder wieder zuhause. Auch wenn in Südeuropa traditionelle Familienwerte immer noch die Gesellschaft prägen, sind doch die wenigsten davon begeistert, selbst im fortgeschrittenen Alter Küche und Bad mit Mutter und Großvater zu teilen.

Der Verbleib im Elternhaus kann sich allerdings schnell als soziale Falle erweisen. In Portugal kaufen sich Familien, wenn irgendwie möglich, eine Wohnung, da selbst ein Kauf auf Kredit günstiger ist als eine hohe Miete. Der Immobilienbesitz wird jedoch mit den Sozialleistungen verrechnet. Da viele der vermeintlich Selbständigen notgedrungen bei ihren Eltern gemeldet sind, gelten sie nun ebenfalls als »vermögend« und fallen aus der Sozialkasse heraus. Sie gehören dann zu dem Drittel der rund 700 000 Arbeitslosen, das im ärmsten Land Westeuropas mittlerweile keine finanzielle Unterstützung mehr erhält.
Die Familie dient mehr und mehr als letzte soziale Stütze, was sich auch in den neuen Sozialgesetzen zeigt. Ist das Vermögen zu niedrig, um die Sozialleistungen zu streichen, wird der gesamte »Familienhaushalt« zur Berechnung herangezogen, einschließlich der Kinder und der Großeltern. »Die meisten Leute, die ich kenne«, schreibt Tiago Gillot von den Precários Inflexíveis in einem offenen Brief an die Arbeitsministerin, »leben so: im Haus ihrer Eltern, wo das Geld nur für das Nötigste reicht. Viele Eltern verfügen gerade mal über so viel Einkommen, dass sie gezwungenermaßen die Sozialleistungen ersetzen müssen, auf die ihre Kinder eigentlich ein Recht haben. Wer seine Arbeit verliert, ist abhängig von der Familie.«
Die exzessive Ausweitung des prekären Sektors droht mittlerweile das gesamte Sozialsystem zu untergraben. Wer über den grünen Schein abrechnet, muss mindestens 36 Monate Sozialbeiträge entrichten, um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erhalten, das rund 300 Euro beträgt. Weil die meisten Prekären aber wesentlich kürzere Zeit beschäftigt sind, zahlen sie de facto ein, ohne je eine Gegenleistung zu erhalten.
Dabei haben die meisten Prekären nach dem portugiesischen Arbeitsrecht eigentlich einen Anspruch auf einen regulären Vertrag. In der Regel unterliegen die Schein-Beschäftigten ähnlichen Konditionen wie die Festangestellten, müssen Weisungen eines Vorgesetzten ausführen, sitzen an einem eigenen Schreibtisch und haben feste Arbeitszeiten. Nur die Rechte, die ein regulärer Vertrag gewährt, gelten für sie nicht.
Die Initiative FEVRE (»Wir haben diese grünen Quittungen satt«) reichte vergangenes Jahr daher eine Online-Petition ein, um gegen die Scheinselbständigkeit zu protestieren. Immerhin führte diese Kampagne zu einer öffentlichen Debatte. Über die Petition wurde sogar im Parlament diskutiert, und auch die Regierung reagierte. Ironischerweise stellte sie die Illegalität dieser Praxis gar nicht in Frage, verwies aber darauf, dass ein Scheinselbständiger schließlich seinen Auftraggeber verklagen könne – der in vielen Fällen der Staat ist.

»Nach dem Verständnis der Regierung handelt es sich um einen Konflikt zwischen zwei gleichberechtigten Parteien«, meint Vicente dazu. In der Realität wird jedoch kaum ein Schein-Beschäftigter seinen Arbeitgeber vor Gericht zerren, weil er anschließend vermutlich gar keinen Job mehr hat. »Die Regierung ignoriert diese ungleiche Machtverteilung und suggeriert stattdessen, dass die Selbständigen schließlich selbst unternehmerisch tätig sind, dass sie sozusagen ihre eigenen Chefs sind.«
Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern wird auch in Portugal seit einigen Jahren die selbständige Tätigkeit als Ausweg aus der Arbeitslosigkeit gepriesen. Dazu gehört die Aufforderung, sich ständig weiter zu qualifizieren und stets »flexibel« zu bleiben. Was für einige hochqualifizierte Fachkräfte vielleicht noch akzeptabel sein mag, bedeutet für die überwiegende Mehrheit permanente Existenzangst. »Wer prekär arbeitet, hat bislang kaum eine Möglichkeit, sich zu wehren«, sagt Vicente. Vor allem seit Beginn der Wirtschaftskrise vor zwei Jahren verwandele sich Portugal in eine Art soziales Experimentierfeld. »Hier wird gerade getestet, in welchen Maße die bisherigen sozialen Sicherungssysteme reduziert und in den privaten Bereich abgedrängt werden können, wie stark sich die Löhne senken lassen, ohne dass es zu großen Protesten kommt.«
Die enorme Zunahme der prekären Beschäftigung schwächt schließlich auch die Gewerkschaften, die bislang weitgehend hilflos auf die schwindende Zahl der regulären Arbeitsverhältnisse reagierten.
Initiativen wie die Precários Inflexiveis versuchen daher, eigene Akzente zu setzen. Die Aktivisten sprechen mit prekär beschäftigten Lehrern im Großraum Lissabon, organisieren Versammlungen und stellen den Kontakt mit den Gewerkschaften her. An einigen Schulen haben die Lehrer mittlerweile reguläre Arbeitsverträge erhalten. »Wir besuchen regelmäßig die Arbeitsagenturen und Sozialämter in den Vororten und Trabantenstädten von Lissabon«, erzählt Vicente. »Wir wollen die Leute ermutigen, selbst aktiv zu werden, und suchen Kontakte zu allen möglichen sozialen Initiativen.« So gibt es Kundgebungen und Treffen mit Hebammen in Porto oder mit Architektenvereinigungen in Lissabon.
Andere Gruppen wie die Künstlerinitiative »Plataforma Intermitentes do Espectáculo e do Audiovisual« wenden sich gegen die prekären Verhältnisse im Kulturbereich. Im Theater Rivoli in Porto etwa arbeiten 50 Schauspieler und Techniker auf Basis der grünen Quittungen und warten seit Monaten auf ihre Bezahlung. Sie wurden von einem Unternehmen angeheuert, das von der Stadtverwaltung von Porto bezahlt wird.
Für die Initiativen ist die rasante Ausweitung der prekären Beschäftigung nur ein Teil einer umfassenden Veränderung. Dazu gehören die rigiden Sparmaßnahmen im Sozialbereich und der zunehmende Druck auf die Gewerkschaften. Soziale Errungenschaften, die nach der Nelkenrevolution von 1974 eingeführt wurden, werden so nach und nach wieder zurückgenommen. Dazu passt, dass Portugal in dieser Woche mit einem großen Spektakel die Gründung der ersten Republik vor 100 Jahren feiert. Für die zahlreichen Veranstaltungen wurden bereits vor einigen Monaten Schein-Beschäftigte eingestellt, so auch für die große Ausstellung »100 Anos da Republica« in Lissabon. Die Zeitarbeitskräfte hätten seitdem keinen Lohn bekommen und müssten zudem eigentlich einen Arbeitsvertrag erhalten, kritisierten die Precários Inflexiveis vergangene Woche. »Die Republik feiert ihr Bestehen und respektiert dabei nicht einmal ihre eigenen Gesetze.«