Adornos Underground

Lisboa Beatet Bestes. Spezialfolge. Zwei Tage mit Chili Com Carne.

Zwei Tage lang habe ich unser schönes Haus, den Pool und unsere Gruppe verlassen und war verschwunden. Marcos Farrajota, Mastermind hinter Chili Com Carne, Portugals wichtigstem Independent-Comic-Verlag, hatte mich bei sich aufgenommen. Am ersten Abend zogen wir durch sein kleines, heruntergekommenes Innenstadtviertel, das offensichtlich noch nicht von Gentrifizierung bedroht ist. Die Häuser in den verwinkelten, labyrinthartigen Gassen, die sich durch das alte muslimische Mouraria-Viertel ziehen, verfallen langsam. Die Mieten sind immer noch niedrig, viele Migranten wohnen hier. Portugals Aufstieg lässt auf sich warten, und so scheint auch kein Geld da zu sein, um die jahrhundertealten Fassaden zu retten, und demzufolge glücklicherweise auch keines, um wohlhabendere Bewohner in die Innenstadt zu ziehen. Gegen Mitternacht holten wir Bier vom pakistanischen Kiosk und setzten uns auf die Kirchentreppen gegenüber von Marcos’ Haus, um uns näher kennen zu lernen. Wie ich hat Marcos in den neunziger Jahren autobiografische Comics über seine Erlebnisse in der Subkultur gemacht; über Musik, Konzerte, Drogen und Sex. Allerdings ist er künstlerisch ein Primitiver, stilistische und handwerkliche Verfeinerung lehnt er ab. Ihm geht es um Unmittelbarkeit und Spontaneität. Er zeichnet mit irgendeinem Stift auf irgendein Papier, das gerade zur Hand ist. Ich dagegen benutze seit 20 Jahren die gleiche Tusche, den gleichen Zeichenkarton und die gleiche Zeichenfeder. In verlegerischer Hinsicht ist Marcos progressiv, die Künstler, mit denen er in Kontakt ist, gehören zur internationalen Comic-Avantgarde. Obwohl wir der gleichen Generation angehören, hört Marcos fast ausschließlich neue Musik. So schenkte er mir unter anderem die erste Single von The Youths, einer poppigen Lissaboner Hardcoreband. Marcos sind sie zu konventionell, ich hingegen liebe sie. Die Gruppe hat sich leider im vorigen Jahr aufgelöst. Sota, der Sänger, meint sogar, die Lissaboner Hardcoreszene sei tot.
Wenn Marcos nach Hause kam, ging er immer zuerst zur Stereoanlage und legte irgend­eine Geräuschplatte auf, um den langweiligen Arbeitsalltag wegzuspülen. Das scheint gut zu funktionieren, denn danach war er immer bester Laune. Marcos arbeitet in Bedeteca, Lissabons einziger Comicbibliothek; er ist also Angestellter der Stadt. Vor Jahren finanzierte die Bibliothek noch Buchprojekte, Ausstellungen und sogar Comicfestivals. Jetzt ist die Krise auch hier angekommen und der Stab auf zwei Angestellte geschrumpft. Am zweiten Tag besuchte ich zwei von Marcos empfohlene Schallplattenläden, »Carbono« in der Rua do Telhan und »Louie Louie« in der Rua Nova da Trinidade. Beide ­Läden waren gut sortiert, aber leider teuer. Ich nahm also, was ich mir leisten konnte. Danach holte ich Marcos in Bedeteca ab. Die Bibliothek ist gut ausgestattet und im Viertel wohlbekannt. Allerdings sitzt auch hier eine Empfangsdame, und ein Wachmann wird auch beschäftigt. Es sind also noch Kürzungen möglich.
Danach gingen wir eine Kleinigkeit essen, in einer billigen, sehr portugiesischen Kaschemme. Wir aßen Teigtaschen, die mit irgendeiner fischigen Masse gefüllt waren. Mit Bier zusammen waren sie ganz lecker. Später kam Marcos’ Freundin Joana, die ebenfalls Comiczeichnerin ist, von der Arbeit in einer Grafikagentur und kochte für uns, während Marcos und ich un­sere Comicseite entwarfen. Angefeuert von einem abermaligen Besuch beim pakistanischen Kiosk, hörten wir uns durch einen Stapel Platten und zeichneten uns munter durch eine lange Nacht.
Am nächsten Abend trafen wir Ricardo Martins in einer Bar, wo er ein paar seiner Bilder ausstellte. Ricardo ist nicht nur ein sehr talentierter Maler und Grafiker, er spielt auch gleichzeitig in sechs (!) Lissaboner Bands. Mit Adorno, einer progressiven Hardcoreband, tourte er mehrmals durch Europa; mit I Had Plans wird er Anfang Dezember wieder in Berlin sein. Die Lissaboner Hardcoreszene mag tot sein, progressive Bands gibt es hingegen viele. Zumindest die Zukunft der portugiesischen Untergrundszene sieht gut aus.