War beim Auftakt des »Piratenprozesses« in Hamburg 

Kleine Fische in zu großen Hosen

Der Prozess in Hamburg gegen die mutmaßlichen Piraten aus Somalia hat schon zu Beginn allerlei Fragen aufgeworfen. Unter anderem die, ob die Angeklagten alle im straffähigen Alter sind.

Das Schloss rasselt, dann ruckt die kleine Türe mit den Eisenbeschlägen, die über Verbindungsgänge zum benachbarten Untersuchungsgefängnis führt. Sieben Männer aus Somalia betreten mit ernsten Blicken den Gerichtssaal in der ­Jugend- und Verkehrsstrafkammer des Landgerichts Hamburg. Einer zieht sein Bein etwas nach, ein anderer scheint einen steifen Arm zu haben. Fast alle sind hager und stecken in etwas zu großen Jeans oder Trainingshosen. Sie begrüßen ihre Anwälte, setzen sich neben sie und greifen zu den Kopfhörern. Nachdem die Kamera­leute den Saal verlassen haben, kommen noch drei somalische Jugendliche aus der kleinen Tür. Im Saal sitzen etwa 40 Journalisten, die Zuschauerbänke sind gefüllt, der Medienrummel ist groß. Nicht nur, weil es seit vielen Jahrhunderten erstmals wieder einen Piratenprozess in Hamburg gibt, sondern auch, weil sich eine weit entfernte Welt und ein großes Thema plötzlich in einem Hamburger Gerichtssaal einfinden.

Die zehn Angeklagten stehen seit Ende November wegen des Vorwurfs des erpresserischen Menschenraubs und Angriffs auf den Seeverkehr vor Gericht. Ihnen drohen bis zu 15 Jahren Haft. Anwälte und Menschenrechtler kritisieren allerdings das Verfahren und werfen rechtliche und politische Fragen auf. Die Anklage der Staatsanwaltschaft sei zwar nüchtern gehalten, so die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke vor Prozessbeginn, aber sie erfasse nicht den Vorgang. »Das ist nicht in einem deutschen Gerichtssaal zu verhandeln«, sagt Heinecke. »Wo ist der Sinn dieses Prozesses und wen will man eigentlich beeindrucken?« fragt die Strafverteidigerin eines 26jährigen Angeklagten. Sie mahnt ein rechtspolitisches Problembewusstsein an, das vor allem für die Frage der Schuld elementar sei. Man müsse sehen, in welcher Gesamtsituation sich die Handlung abgespielt habe. »Was mutet man Menschen zu, die in Ländern leben, die kaputtgemacht worden sind?« fragt Heinecke. Möglicherweise gebe es einen »völerrechtlichen Notstand«. In Somalia könne man kaum überleben. »Was mache ich, wenn mir niemand hilft und gleichzeitig die Fischkonserven an mir vorbeifahren?«
Zum Prozessauftakt demonstrieren vor dem Landgericht verschiedene Initiativen für einen »paritätischen Einsatz der Weltressourcen«. Andere Kritiker wundern sich darüber, warum die ­Piraterie als gewöhnliche kriminelle Handlung und nicht etwa die Raubfischerei als kriminelles Vorgehen eine »Bedrohung des Weltfriedens« sein soll, die dem UN-Sicherheitsrat erlaubt, Militär­aktionen zu rechtfertigen.
Im Gerichtssaal geht es aber weder um die politische Lage in Somalia noch um die illegale Industriefischerei der reichen Staaten und die Giftmüllverklappung an Somalias langer Küste. Den Angeklagten wird vorgeworfen, am 5. April die MV Taipan gekapert zu haben. Das Containerschiff befand sich etwa 530 Seemeilen östlich des Horns von Afrika auf dem Weg von Djibouti nach Mombasa. Die Angeklagten sollen sich durch ­Gewaltanwendung die Herrschaft über das Schiff verschafft und es dabei mit Schusswaffen beschädigt haben. Die 15 Seeleute an Bord hatten sich in einem sicheren Bereich verschanzt und ­einen Notruf abgegeben. Keine vier Stunden später befreite ein niederländisches Kommando der EU-Atalanta-Militärmission die Besatzung ohne Gegenwehr der mutmaßlichen Piraten. Der Richter lässt das Verlesen der Anklageschrift kurz unterbrechen, weil ein Verteidiger einen Dolmetscher zum jüngsten Beschuldigten gerufen hatte. »Er weint«, erklärt er.
Die Männer waren im Sommer von den Niederlanden an Deutschland ausgeliefert worden. Weil das Schiff seinen Heimathafen in Hamburg hat und der Hamburger Reederei Komrowski zufolge unter deutscher Flagge fuhr, sah sich die Staatsanwaltschaft Hamburg für den Fall zuständig. Sie geht von einem dringenden Tatverdacht aus, es gebe zahlreiche Zeugenaussagen, Bildaufnahmen und sichergestellte Maschinenpistolen, Messer, Enterleitern. Die zehn Angeklagten sitzen seither in Untersuchungshaft und schweigen zum Tatvorwurf. Ihr genaues Alter und ihre wirtschaftlichen Verhältnisse sind der Staatsanwaltschaft nicht bekannt. »Es handelt sich um überwiegend nicht verifizierbare Angaben«, meint der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Wilhelm Möllers.
Richter Bernd Steinmetz versucht der Reihe nach, die Namen, die Geburtsorte und das Alter der Beschuldigten zu klären. Es geht um Schreibweisen, die meist von den Müttern überlieferten Geburtsjahre und die Frage, welcher Teil des Namens denn der Familienname im hiesigen Sinne sei. Nur der Jüngste im Saal kann Angaben zu dem Tag, Monat und Jahr seiner Geburt machen. Einer Urkunde zufolge ist er 13 Jahre alt – und hätte nach deutschem Recht als Kind nichts vor Gericht verloren. Seine Verteidiger können zudem eine eidesstattliche Erklärung der Mutter vorlegen. Auch der Leiter der somalischen Schule, die der Junge besucht, habe die Angaben bestätigt, so der Rechtsanwalt Thomas Jung. Er kritisiert nicht nur das halbherzige Bemühen der Staatanwaltschaft, die vorgelegten Dokumente zu überprüfen: Sie würden pauschal nicht anerkannt, nur weil sie aus einer kleinen unbedeutenden Gerichtsstelle in Afrika stammten, sagt Jung. Er bemängelt auch die Untersuchungen zur Altersfeststellung, die er als unwissenschaftlich zurückweist – schon allein die Tatsache, dass der Junge in den Niederlanden auf 15 und in Hamburg auf 18 Jahre geschätzt wurde, müsse stutzig machen. Zudem habe man seinen Mandanten »wie ein Stück Fleisch« behandelt, indem man im Krankenhaus keinen Dolmetscher hinzugezogen habe. Jung beantragt, den Haftbefehl gegen den Schüler sofort aufzuheben.
Der Rechtsanwalt Claus-Philipp Napp trägt in einer gemeinsamen Erklärung der 20 Verteidiger mehrer Punkte vor, die vorrangig zu klären seien. Etwa, ob die Gewahrsamnahme, die Inhaftierung und die Auslieferung völkerrechtlich und nach niederländischem wie nach deutschem Recht überhaupt zulässig seien. Möglicherweise sei das Verfahren einzustellen. Hier geht es unter anderem darum, inwieweit das Militär – und nicht die Polizei – im Rahmen gemeinsamer Militäraktionen wie Atalanta, an der die deutsche Marine beteiligt ist, für Verbrechensbekämpfung zuständig ist.

Für einen Schuldnachweis müssten, so Napp, die genaue Tatbeteiligung und die Lebensbedingungen jedes Einzelnen aufgeklärt werden, wobei auch die Entwicklung Somalias seit 1991 und die Raubfischerei durch Flotten aus Europa und Asien zu beleuchten seien. Zudem fragt er, ob es überhaupt angebracht sei, dass sich die Hamburger Justiz mit Vorgängen im Indischen Ozean befasse. »Eine Resozialisierung der Angeklagten in der Bundesrepublik dürfte nicht gewünscht sein; eine Resozialisierung der Angeklagten für ihr Heimatland ist nicht möglich«, so Napp.
Erwartet wird ein zäher Prozess, Verhandlungstermine sind bis März anberaumt. Die Frage, ob der Prozess ohne Öffentlichkeit weitergeführt wird, wie es einige Anwälte beantragten, sei eine schwierige Gratwanderung zwischen dem Schutz der Persönlichkeitsrechte und dem Wunsch nach Öffentlichkeit, meint Heinecke. Aus ihrer Sicht habe es Sinn, den Prozess öffentlich zu führen: »Piraterie ist ein Problem der ganz reichen und der ganz armen Länder, und mit diesem Problem muss die Öffentlichkeit konfrontiert werden.«
Seit einigen Jahren rechtfertigen Piraten ihr kriminelles Vorgehen mit dem kriminellen Fisch­raub industrieller Flotten. Das Gericht wird zwar kaum in der Lage sein zu klären, wann eine Not­lage so lebensbedrohend ist, dass kriminelles Handeln legitim wird. Möglicherweise gelingt es aber durch den Prozess, die deutschen Militär­einsätze in fernen Weltregionen zu thematisieren und auch die Frage, wie weit Deutschland gehen wird, um seinen Reichtum und die Schiffsrouten zu sichern, mit welchen Mitteln und unter Aufgabe welcher rechtlicher Standards.