Spezialisten sammeln einsam

Berlin Beatet Bestes. Folge 74. Gary Edwards Combo: The Franz Liszt Twist (1962).

Bereits als Kind habe ich Comics gesammelt. Mit 13 fing ich dann an, Schallplatten zu sammeln, noch dazu sehr spezielle Platten. Meine Helden hießen Billy Lee Riley und Mykel Board, Serge Clerc und Pus­head. Die längste Zeit meines Lebens bin ich also ein Sammler und ein Spezialist. Und ein Snob. Psychologisch hängt das eng miteinander zusammen. Je eklektischer die eigenen Neigungen sind, desto weiter entfernt man sich von der Mehrheit. Spezialisten sind einsam, und es ist schwer, sich auf Dauer von den meisten Menschen unverstanden zu fühlen. Vielleicht sucht deshalb die Psyche einen Ausweg. Es kann nicht sein, dass du selbst verkehrt bist, nein, die anderen sind die Idioten. Die Idioten, die nicht verstehen, was gut und schön ist. Taliban, Satanisten, Nazis, Hell’s Angels und Plattensammler teilen da psychologisch eine gewisse Grundhaltung.
Als ich vor 13 Jahren meine Freundin kennenlernte und nach Berlin zog, änderte sich meine Einstellung. Es war allerdings ein langsamer und schmerzhafter Lernprozess. Ich stand mit ihr in ­irgendeiner normalen Kneipe und wollte sofort gehen: »Langweilig! Ich ertrage es nicht, hier zu sein.« Oder: Sie schaltete das Radio ein, und ich meinte: »Grausam! Ich ertrage diese Radiomusik nicht.« Auf gemeinsamen Reisen kam meine Schwäche besonders zum Tragen. Meine Freundin war aufgeschlossen und lernte schnell andere Menschen kennen, während ich mich zurückzog, wenn ich mich »langweilte«. Nur in meinem gewohnten Milieu, zusammen mit Gleichgesinnten, fühlte ich mich wohl. Ich war offensichtlich überhaupt nicht anpassungsfähig. Neben meiner Freundin fühlte ich mich wie sozial behindert. Das musste und wollte ich ändern. Weil ich nicht zu maßvollem Handeln neige, drehte ich es gleich ins Gegenteil. So wie ehemalige Raucher auch gern zu radikalen Raucherfeinden werden. Heute ertrage ich Snobs nicht mehr. Ich bleibe ein Sammler und Spezialist, aber ich glaube, ich kann meine Leidenschaft jedem Menschen vermitteln. Über ängstliche, sich andauernd abgrenzende Spezialisten mache ich mich nur noch lustig. Ich drehe das Radio auf und singe mit Sarah Connor.
Einige ältere Spezialisten kann ich seit einiger Zeit auf meinem Blog beobachten. Vor zwei Jahren postete ich mal eine Single der englischen Gary Edwards Combo. »Franz Liszt Twist« ist eine Cover-Version des von Christian Bruhn geschriebenen »Liebestraums als Twist« (Jungle World 46/10). Die Gary Edwards Combo hieß zunächst Solid Six und war Ende der fünfziger Jahre die erste Rock’n’Roll-Band von Cardiff. Offensichtlich hatte sich noch niemand die Mühe gemacht, für die Rock’n’Roller von Cardiff auch im Internet einen Platz zu schaffen. Auf der Kommentarliste meines Blog­eintrags hat sich mittlerweile ein richtiges kleines Forum eingenistet, in dem sich rüstige Rock’n’Roll-Rentner sehr sachkundig und leidenschaftlich miteinander über vergangene und aktuelle Ereignisse austauschen. Snobs sind sie bestimmt nicht.