Über die europäische Asylpolitik

Die innere Würde der EU

Die Bundesregierung will weiterhin Flüchtlinge nach Griechenland abschieben, obwohl die Flüchtlinge dort unter die Räder kommen. Ein einheitliches europäisches Asylrecht scheitert am Widerstand konservativer EU-Parlamentarier. Dafür beteiligen sich deutsche Grenzschützer an der Abschottung der Außengrenze der EU.

»Das Bundesamt hat der Situation im Irak Rechnung getragen und erkennt Angehörige religiöser Minderheiten wie Yeziden in der Regel als Flüchtlinge an«, heißt es einem Schreiben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aus dem Jahre 2007. Seit dem Irak-Krieg sind Yeziden wiederholt Opfer von Übergriffen durch Jihadisten geworden. Im August 2007 wurden bei Terroranschlägen im Nordirak über 700 Angehörige der Religionsgruppe getötet.
Said S. ist als verfolgter Yezide im Oktober 2007 aus dem Irak geflohen, zunächst Richtung Istanbul. Von der Türkei aus sollte es auf dem Schiff nach Italien weitergehen. Das Schiff geriet in Seenot, Said S. und die etwa 300 anderen Flüchtlinge an Bord mussten bereits im griechischen Pirgos an Land gehen. 200 von ihnen wurden von den Behörden sofort in die Türkei zurückgeschickt. Said S. konnte vorerst bleiben, er stellte einen Asylantrag. Er wurde inhaftiert, und nach einiger Zeit wieder freigelassen – warum weiß er selbst nicht. Von seinem Asylantrag hörte er nichts mehr. In einem LKW gelangte er später nach Deutschland, derzeit lebt er in Rietberg in der Nähe von Güters­loh.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge will Said S. kein Asyl gewähren. Wenn es nach dem Willen der Behörde ginge, wäre er schon längst nicht mehr hier. Seit 2009 werden irakische Yeziden nicht mehr als verfolgte Gruppe angesehen. Dabei spricht selbst ein Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom April dieses Jahres von einer signifikanten Diskriminierung von Yeziden im Irak. In einer gerichtlichen Stellungnahme des »Europäischen Zentrums für kurdische Studien« vom Februar werden die nordirakische Stadt Mosul, in deren Umkreis ursprünglich viele Yeziden lebten, sowie der Raum Bagdad als »No-go-areas« für Yeziden bezeichnet.
Auch früher hätte Said S. in Deutschland kaum Asyl erhalten, Deutschland fühlt sich für seinen Fall ohnehin nicht zuständig. Denn theoretisch hätte er bereits in Griechenland Schutz erhalten müssen. Wenngleich die Realität dort offensichtlich eine andere ist, besagt die Theorie der Dublin-II-Verordnung, dass Flüchtlinge in allen europä­ischen Staaten sicher sind. Die 2003 von den Mitgliedstaaten der EU beschlossene Verordnung sieht vor, dass jede Person nur in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag stellen darf. Im Regelfall ist das derjenige Staat, den man zuerst betreten hat. Flüchtlinge können daher nicht eigenständig über ihren Zufluchtsort entscheiden und werden vielfach von Land zu Land hin- und hergeschoben. Auf Grundlage der Dublin-II-Verordnung wurden 2009 von Deutschland aus über 3 000 Menschen in einen anderen EU-Staat überstellt.

Für den deutschen Staat, der keine europäischen Außengrenzen besitzt, hat die Verordnung den gleichen Vorteil wie die Drittstaatenregelung, durch die 1993 das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft worden war: Asyl erhalten kann hierzulande nur noch, wer über den Luftweg eingereist ist. Mit der Drittstaatenregelung wurde zugleich der Rechtsschutz eingeschränkt: Menschen, die bereits einen angeblich »sicheren Drittstaat« durchquert haben, werden sofort abgeschoben, ohne dagegen einen einstweiligen Rechtsschutz einlegen zu können. Dies gilt im deutschen Recht auch für die Dublin-Fälle.
Auch vielen deutschen Gerichten geht dies zu schnell. In mehr als 300 Fällen haben Verwaltungsgerichte bislang Abschiebungen nach Griechenland vorläufig unterbunden. Die Abschiebung von Said S. nach Griechenland wurde vom Bundesverfassungsgericht – wie auch in 13 anderen Fällen – vorläufig ausgesetzt. Demnächst wird das Gericht abschließend über den Fall urteilen. Bei der mündlichen Verhandlung im Oktober musste sich die Bundesregierung kritische Fragen von den Verfassungsrichtern gefallen lassen. Mehr als die Forderung, den Rechtsschutz auszuweiten und den Flüchtlingen eine Gnadenfrist vor ihrer Abschiebung zu gewähren, ist allerdings nicht zu erwarten. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in mehreren Entscheidungen deutlich gemacht, dass es europäische Regelungen nicht verwirft, selbst wenn Grundrechte im Einzelfall augenscheinlich verletzt werden. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, sagte, dass es nicht um eine abschließende Klärung des Falls oder um die Asylpraxis in Griechenland gehe, sondern darum, ob ein Asylsuchender einstweiligen Rechtsschutz gegen eine drohende Abschiebung in einen sogenannten Drittstaat beanspruchen könne. Von größerer Bedeutung könnte daher das Urteil des Europäischen Gerichtshofs sein, der sich demnächst mit der Verordnung beschäftigen wird.

Flüchtlinge sind nicht – wie es die Dublin-II-Verordnung suggeriert – in allen EU-Staaten gleichen Bedingungen ausgesetzt. Zahlreiche Berichte von Nichtregierungsorganisationen belegen, dass in Griechenland praktisch kein geregeltes Asylverfahren existiert und Menschen ohne Prüfung ihres Schutzbegehrens abgeschoben werden. Selbst wenn sie vorläufig im Land bleiben dürfen, sind sie von Obdachlosigkeit bedroht oder werden unter unwürdigen Bedingungen in Abschiebegefängnissen interniert. Die Ankündigungen der griechischen Regierung, die Bedingungen zu verbessern, sind bislang nicht realisiert worden.
Einen generellen Abschiebestopp, wie ihn Norwegen, Großbritannien, Belgien und die Niederlande, Island und Dänemark beschlossen haben, lehnt Deutschland dennoch weiter ab. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte, die »innere Würde der EU« gebiete es, alle EU-Mitglieder als Rechtstaaten zu betrachten. Auch die konservativ-christlichen Parteien in den EU-Staaten haben sich nun gemeinsam gegen eine grundlegende Umgestaltung des Dublin-Systems ausgesprochen. In einem Strategiepapier, das die Europäische Volkspartei (EVP) Anfang Dezember vorgelegt hat, wird Überlegungen eine Absage erteilt, den Problemen in Griechenland und anderen Staaten an den EU-Außengrenzen durch eine Umverteilung von Flüchtlingen in andere Staaten zu begegnen. In diesem Papier wendet sich die EVP, zu der auch die deutschen EU-Parlamentarier von CDU und CSU gehören, auch gegen die Vorschläge der EU-Kommissarin für Innenpolitik, Cecilia Malmström, das Asylrecht in Europa zu harmonisieren, denn »es wäre nicht hilfreich, wenn Garantien für Schutzbedürftige einseitig und umfassend verbessert würden«. Dabei gehen Malmströms Reformvorschläge nicht weit, sie sehen aber Verbesserungen beim Rechtsschutz und den Lebensbedingungen während des Asylverfahrens vor. Da die Kommission auf die Unterstützung der Konservativen im Parlament angewiesen ist, sind die Pläne vorerst gestoppt. Die EVP bietet allein eine finanzielle und technische Unterstützung für jene Länder an, die vergleichsweise viele Flüchtlinge aufnehmen.
Diese Form der Unterstützung wird bereits gewährt. An einem Einsatz der europäischen Grenzschutzagentur Frontex an der türkisch-griechischen Landgrenze sind auch deutsche Grenzschutzbeamte beteiligt. Diese Art der Unterstützung dient nicht einem besseren Flüchtlingsschutz, ist aber effektiv. Deutschland und die anderen Staaten, die an dem Frontex-Einsatz beteiligt sind, scheinen sich darüber bewusst zu sein, dass sie sich nicht mehr lange aus der Verantwortung stehlen können. Wenn sich die Situation in Griechenland nicht bessert und der öffentliche Druck durch Bilder aus griechischen Abschiebegefängnissen steigt, könnte auch Deutschland Flüchtlinge von Griechenland übernehmen müssen. Damit es nicht soweit kommt, hilft man den Griechen bislang lieber dabei, die Grenze dicht zu machen.