Ein Besuch in Parkfield, Kalifornien, wo es jeden Tag ein Erdbeben gibt

Wohnen auf dem Graben

Von Knud Kohr

Parkfield, Kalifornien, hat trotz seiner nur 19 Einwohner einiges zu bieten: So gut wie jeden Tag gibt es dort Erdbeben. Der Ort liegt nämlich auf dem San-Andreas-Graben, einem der tektonisch aktivsten Gebiete der Welt.

Wir stechen zum ersten Mal unsere Gabeln in die gerade servierten Steaks, als Violett zu uns an den Tisch kommt. Mit glasigen Augen fixiert sie uns. Plötzlich lässt sie sich auf den Rücken fallen, zieht die Beine an und wälzt sich auf dem Boden. Ihr brauner Körper ähnelt dabei entfernt den Baumstämmen, aus denen das Lokal gebaut wurde. Nur dass die weder schlackernde Ohren noch eine blaue, tropfende Zunge haben. Die Kellnerin des Parkfield Inn and Hotel winkt mit ihrem Geschirrtuch durch den Raum. »Gebt ihr bloß nichts zu fressen. Sonst habt ihr keine Ruhe mehr!«
Violett darf hier jeden anbetteln. Sie ist ein sagenhaft dicker Beagle. Nicht nur das Maskottchen des Lokals, in dem wir gerade sitzen, sondern von ganz Parkfield, Kalifornien. Schon vorhin, als wir hier angekommen sind, sahen wir die Hundedame sich zwischen den wenigen Häusern entlangwälzen, wobei sie echte Mühe hatte, sich den Bauch nicht auf dem Boden wundzuscheuern. Die Wände aller Häuser, an denen sie sich entlangschleppte, bestehen aus Baumstämmen. Solche Häuser sind widerstandsfähiger bei Erdstößen. Das kleine Dorf Parkfield, das laut Ortsschild 19 Einwohner hat und sich ziemlich genau auf halbem Weg zwischen San Francisco und Los Angeles befindet, ist einer der tektonisch aktivsten Plätze der Welt. Erdbeben gibt es hier so gut wie jeden Tag. Deswegen wollten wir eigentlich auch keinen sabbernden Hund treffen, sondern den Geologen und Erdbebenforscher Andrew Snyder. Und ein paar Leute fragen, warum sie ausgerechnet an einem Ort wie diesem leben. Doch Snyder hatte bei der Tresenfrau angerufen und uns ausrichten lassen, dass er heute erst später »in die Stadt« käme, weil er noch einige Messungen durchführen müsse. Was soll man schon tun in einer Metropole wie Parkfield? Sich erst mal ein bisschen umsehen, und danach etwas essen. Von Zeit zu Zeit schauen wir auf unsere Gläser. Hat sich die Oberfläche der Cola bewegt? Baut sich im Erdreich unter uns gerade eine Katastrophe auf? Gehört das vielleicht sogar zum Service des Hauses? Immerhin lautet der Werbeslogan des Parkfield Inn: »Eat here when it happens«.

Nur 100 Meter von Violetts Spazierweg entfernt verläuft der San-Andreas-Graben. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein trocken gefallener Bach, dessen Bett von Gras überwuchert wurde. Am südlichen Ortsrand von Parkfield überquert ihn die Straße mit einer kleinen Brücke. Wer die genauer betrachtet, bekommt eine Ahnung, welche Kräfte unterhalb von Parkfield wirken. Die wenige Jahrzehnte alte Brücke ist verbogen, als hätte ein riesiges Kind an ihr herumgezerrt.
Die San-Andreas-Verwerfung – so die offizielle wissenschaftliche Bezeichnung – erstreckt sich über mehr als 1100 Kilometer von Mexiko bis in den Norden von San Francisco, wo sie im San-Andreas-See endet. Faktisch teilt der Graben den Bundesstaat Kalifornien der Länge nach in zwei Hälften. San Francisco liegt auf der Nordamerikanischen Platte, Los Angeles hingegen auf der Pazifischen Platte. Der wenige Zentimeter breite Spalt ist über weite Strecken nicht auf Anhieb in der Landschaft zu erkennen und wurde deshalb mit Pfählen markiert. Dennoch wirken hier ungeheure Kräfte. Die beiden Platten verschieben sich gegeneinander. Das ist auch der Grund, warum die Brücke am Ortseingang von Parkfield so verbeult aussieht. Bis zu sechs Zentimeter schieben sich die Erdplatten pro Jahr aneinander vorbei. Am 18. April 1906 entstand in Kalifornien eine deutliche Bruchlinie. An diesem Tag wurde San Francisco von einem schweren Erdbeben der Stärke 7,8 auf der Richterskala heimgesucht.
»Dürfen wir uns zu euch setzen?« Ein Paar, etwa Mitte fünfzig, außer uns und der Frau am Tresen die einzigen Menschen im Lokal, hat sich erhoben und steht neben uns am Tisch. Die Frau hat ein bisschen zu viel Haarspray in ihren ergrauenden blonden Haaren. Ihr Mann schaut traurig. »Allein mit ihm ist es doch auf Dauer ein bisschen langweilig.« Der Mann schaut noch ein bisschen trauriger.
Wir nicken einladend. Jane und Frank, so heißen die beiden, setzen sich, und nach dem üblichen Geplänkel (»Where are you from? – Ah, Germany, great! – What do you do in Germany? – Ah, journalists, great!«) beginnt Jane, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, während Frank sich schweigend im Rand seiner Kaffeetasse verbeißt. Janes Familie lebt seit Generationen in Kalifornien. Das Erdbeben von 1906 hätte sie fast auseinandergerissen. Janes Großvater war damals drei Jahre alt und wurde von seinen Eltern getrennt, als ihr Haus einstürzte. Ums Leben kam niemand, aber der kleine Junge wurde vom Roten Kreuz aufgegriffen und nach Los Angeles gebracht. Da er keine Angaben über seine Adresse machen konnte, steckte man ihn in ein Heim. »Anderthalb Jahre hat es gedauert, bis meine Urgroßeltern ihn wiedergefunden haben«, erzählt Jane.

Hier in Parkfield bebt die Erde fast täglich. Meistens so schwach, dass höchstens die Tiere unruhig werden. Aber alle zwei bis drei Jahrzehnte gibt es stärkere Stöße. 1857, 1881, 1901, 1922, 1934, 1966, 2004. Diese Zahlen kann hier jeder auswendig. Das waren die Beben mit einer Stärke von rund sechs auf der Richterskala. Jetzt ist erst mal wieder Ruhe für rund 20 Jahre. Ganz schlimme Erdbeben wie das von 1906 in San Francisco kann es hier ohnehin nicht geben. Die Pazifische und die Nordamerikanische Erdplatte sind in der Gegend von Parkfield ineinander verkeilt. Ihre ganze Wucht können die Beben deshalb erst hunderte von Kilometern entfernt entfalten.
Das letzte größere Beben, das von 2004, erlebte Jane im Auto. Sie arbeitet als Lehrerin und war gerade auf dem Weg zu ihrer Schule, als der Wagen ins Schlingern geriet. »Ich dachte, dass mich eine schwere Windböe erwischt hätte oder etwas mit den Reifen nicht in Ordnung wäre.« Doch da der ganze Spuk nur eine halbe Minute dauerte, hielt sie nicht einmal an. Am Ziel erwarteten sie ihre Schüler vor einem halb eingestürzten Schulhaus. »Naja, wir müssen weiter nach Hause.« Sie erhebt sich resolut und zieht ihren Mann mit sich. »Wir machen hier nur zwei Tage Urlaub. Vorgestern haben wir Franks Mutter beerdigt, und vor einem halben Jahr seinen Vater.« Sie streicht ihm über die Wange. »Komm mal mit, armer Waise.« Frank versucht ein Lächeln, als er geht.
Auf einer Wiese neben dem Inn stehen zwei rissige Betonschuppen. Die Feuerwehr von Parkfield. Davor sitzt ein Mann im Schatten auf einer Bank, zwei jüngere Männer putzen unter Anleitung einer blonden Frau den Einsatzwagen. Nachdem wir uns vorgestellt haben, lädt uns der Mann neben sich auf seine Bank. Er heißt David Hosler und ist der Leiter der Truppe. Wenn er nicht gerade Feuer bekämpft, muss er hier oft auf der Bank sitzen und warten. Damit das nicht zu langweilig wird, hat er sich die Erforschung seiner Familiengeschichte zum Hobby gemacht.
»Die Familie meiner Mutter lässt sich bis ins 11. Jahrhundert nach Irland zurückverfolgen«, plaudert er los. »Sie wurden dann erst Hoteliers in der Schweiz und später Seefahrer. Einige von ihnen waren auf den ersten Booten, die in Neuengland ankamen. Bei der Landnahme bekamen sie das Stück Land, auf dem heute in New York der Bronx Zoo steht. Haben sie aber verkauft. Und mein Vater stammt von Wikingern ab.« Warum arbeitet Hosler gerade an einem so gefährlichen Ort, wagen wir zu unterbrechen.
»Mein Großvater war Feuerwehrmann, mein Vater auch. Feuer müssen gelöscht werden. Ehrlich gesagt habe ich nie daran gedacht, etwas anderes zu tun. Gerade nach dem 11. September können wir Erfahrenen nicht mehr aufhören. Plötzlich waren Feuerwehrleute Helden. Wir bekamen massenweise Bewerbungen aus dem ganzen Land, und die Truppe ist jünger geworden. Camilles Familie kämpft auch schon seit den sechziger Jahren gegen das Feuer.«
Wie die Hilfe hier eigentlich organisiert ist, wollen wir noch wissen. Parkfield County hat einen Durchmesser von 100 Kilometern, aber nur 900 Einwohner. »Die größte Gefahr geht von Gastanks aus, die bei Erdstößen Schaden nehmen«, sagt Hosler. »Die Leute helfen sich gegenseitig«, ergänzt Luck. »Zusätzlich zu unserem Notruf gibt es private Telefonketten. Nach einem Erdstoß weiß jeder, wen er anrufen muss. Geht jemand nach mehrmaligen Anrufen nicht an den Apparat, rücken wir aus.«
»Seht mal!« Hosler zeigt zu einem Trailer, der einen gekonnten Steinwurf vom Feuerwehrhaus entfernt aufgebockt wurde. »Andy ist jetzt da.«
Tatsächlich steht vor dem Trailer ein Wagen, der vorher noch nicht zu sehen war. Ein mattschwarzer, flunderflacher Sportwagen, auf dessen Nummernschild »EQ Hazard« steht, »Erdbebengefahr«, und der insgesamt so wirkt, als könnte er eine Rolle in der Neuverfilmung von »Knight Rider« durchaus bewältigen.

»Hello!« Andrew Snyder reißt die Tür von innen auf und drückt uns zur Begrüßung erst mal zwei Flaschen Wasser in die Hand. Er ist 1,85 Meter groß, ungefähr Mitte vierzig, trägt Jeans, Karohemd und Cowboystiefel mit Schmucknähten. Empirische Wissenschaftler in Mitteleuropa kleiden sich in der Regel anders. Aber die haben ja auch keine zwei Stetsons, also Cowboyhüte, zum Wechseln über ihrem Computer hängen. Am hinteren Ende des Innenraums steht ein durchgelegenes Feldbett. Scheinbar benutzt Snyder den Trailer auch als Wohnung?
»Ja«, bestätigt Snyder und zerrt einige große Pappplakate unter einem Aktenschrank hervor. »Eigentlich lebe ich mit meiner Freundin in der Nähe von LA. Aber manchmal muss ich eben für Feldstudien hier raus.« Mit einem Ruck zieht er die Plakate an die Brust. »Ihr wolltet doch mit mir über Erdbeben reden, oder?«
Die Plakate sind voll mit Grafiken, Zeittafeln und Verlaufsstudien. Aus ihnen geht hervor, was Andy Snyder hier eigentlich macht. Geduldig erklärt er uns, dass Parkfield aufgrund der Erdbebengefährdung zu den Regionen der Welt zählt, die am intensivsten beobachtet werden. Ziel der Untersuchung, die 1966 unter dem Namen »Parkfield Experiment« begann, ist es, die Vorhersagbarkeit von Erdbeben zu verbessern.
»Wer ein Erdbeben sicher vorhersagen kann, hat den Heiligen Gral gefunden.« Snyder hantiert mit einer weiteren Tafel vor seine Brust. »Wenn sie bis dahin einen Nobelpreis für Seismologie ausgelobt haben, steht der Gewinner fest. Mal abgesehen von der ganzen Kohle«, grinst er.
Zentrum der Untersuchung ist ein 1969 linienförmig angelegtes Messfeld aus Pflöcken, das über den Graben verlegt wurde und rund um die Uhr gefilmt wird, um durch Erdbeben ausgelöste plötzliche Sprünge nachweisen zu können. Spannungen im Erdreich werden anhand von 15 Drahtmessgeräten festgestellt. Mit einem Laser können Messungen des Abstands zu mehreren fest in der Landschaft installierten Reflektoren durchgeführt werden. Zudem werden regelmäßig die Konzentrationen des radioaktiven Edelgases Radon ermittelt, das bei Erdbeben verstärkt in die Atmosphäre tritt.

Als Snyder seine Unterlagen wieder weglegt, raucht uns der Kopf. »Außerdem haben sie mir hier vor zwei Jahren eine ganze Menge neuer Messgeräte hingestellt. Die habe ich heute wieder abgelesen, deshalb war ich zu spät.«
Neue Geräte. Immerhin. Die Fotografin erhofft sich Motive und fragt Snyder, ob er uns die Geräte zeigt. Der runzelt die Stirn. »Besonders spektakulär sehen die aber nicht aus.« Dann nimmt er doch einen seiner Hüte, geht mit uns zu unserem Wagen, setzt sich wie selbstverständlich ans Steuer und verbannt mich lässig auf den Rücksitz.
Tatsächlich ist es so, wie Snyder vorgewarnt hat: Die Messstationen rund um Parkfield sind zumeist Blechkisten, die im Gras stehen. Manche von ihnen wurden als Hundehütten oder Vogelhäuschen getarnt. Knapp zwei Stunden dauert die Fahrt entlang der Messstationen. Ab und zu hält Snyder an und springt mit Eva hinaus. Angeblich, um ihr eine besonders schöne Aussicht zu zeigen. Allerdings fragt er mich nie, ob ich mitkommen will. Auf dem Rückweg beginnt er sie »Baby« zu nennen. Aber andererseits verwickelt er mich auch in ein Gespräch über die Chancen von Ajax Amsterdam in der nächsten Saison der Champions League. Seine Freundin kommt nämlich aus Holland und ist Fußballfan.
Als wir uns an seinem Trailer von ihm verabschieden, hat er noch einen Tipp für uns. »30 Meilen von hier hat James Dean sich totgefahren. Die Tankstelle in der Nähe hat sich zu einer Art Gedenkstätte gemausert. Wenn ihr auf Kitsch steht, solltet ihr dort unbedingt anhalten.« Dann winkt Snyder zum Abschied mit seinem Hut und setzt sich wieder an seinen Computer.
Etwas unentschlossen stehen wir vor dem Trailer. Immerhin haben wir mit mindestens einem Fünftel aller Einwohner hier gesprochen. Vor ein paar Tagen, bei einer anderen Geschichte in San Francisco, war die Quote deutlich geringer. Bei der Abreise aus Parkfield halten wir noch einmal an der Brücke. Mit zwei Dosen Cola setzen wir uns auf den San-Andreas-Graben. Eva auf die San Francisco-Seite, ich auf die Los Angeles-Seite. Während wir der Sonne beim Sinken zusehen, lassen wir uns von den Erdplatten einige Mikrometer voneinander fortreißen.
»Die spinnen hier doch alle«, entscheidet Eva. »Naja, wenn du jeden Tag vom Erdboden verschluckt werden kannst«, gebe ich zu bedenken. Dann setzen wir uns ins Auto. Mal sehen, wo James Dean gestorben ist.