In der arabischen Welt hat der »change« begonnen

Die Zeit der Befreiung

Noch hat das ägyptische Regime der Demokratiebewegung nicht nachgegeben. Doch eine Rückkehr zur Normalität wird nicht stattfinden, und auch in anderen arabischen Staaten wird protestiert.

Viele Demonstranten verlassen den Midan al-Tahrir nicht mehr. Obwohl die nächtliche Temperatur in dieser Jahreszeit unter zehn Grad sinkt, übernachten sie auf dem »Platz der Befreiung« im Zentrum Kairos. Am Dienstag fand die bislang größte Demonstration statt, eine unüberschaubare Menschenmenge füllte den Platz und die umliegenden Straßen. Die Befreiung wird hier aber auch auf andere Weise vorbereitet. Am Sonntag wurde von den Repräsentanten der Komitees, die aus den illegalen Streiks der vergangenen Jahre hervorgingen, die Gründung eines unabhängigen Gewerkschaftsverbands bekanntgegeben. Die Gewerkschafter haben einen unbefristeten Generalstreik angekündigt, ein weiterer Streikaufruf kam von Arbeitern aus Suez.
Nach den Massendemonstrationen ist der politische Generalstreik zum Sturz des Regimes der wichtigste Schritt von der Revolte zur Revolution. Wird sie gelingen? Ihren Sturm auf die Bastille haben die Ägypter hinter sich gebracht. Am vergangenen Freitag zündeten Demonstranten das Hauptquartier der National Democratic Party (NDP) in Kairo an. Das brennende Gebäude der Regierungspartei war der passende Kommentar zu der Rede Hosni Mubaraks am gleichen Abend. Der Präsident kündigte eine Kabinettsumbildung an, die den Geheimdienstchef Omar Suleiman zum Vizepräsidenten machte. Der Erich Mielke Ägyptens mag im Ausland einen guten Ruf als Verhandlungspartner genießen, für die Bevölkerung repräsentiert er den Mukhabarat, der gefürchteter ist als die Polizei.
Suleimans Spitzelnetz ist mindestens ebenso engmaschig wie es einst das der Stasi war, doch wurde auch der ägyptische Geheimdienst von den Ereignissen überrascht. Eine unerwartet große Zahl von Demonstranten war am Dienstag vergangener Woche dem Aufruf der Gruppe »We are all Khaled Said« gefolgt, in Kairo und anderen Städten zu protestieren. Khaled Said, ein 28jähriger Blogger aus Alexandria, war im vergangenen Jahr von zwei Polizisten in einem Hauseingang zu Tode geprügelt worden. Es wurden an diesem »Tag des Zorns« aber auch allgemeinere Forderungen erhoben: die Aufhebung des seit 30 Jahren geltenden Ausnahmezustands, die Gewährung der Meinungsfreiheit und die Zulassung eines echten Mehrparteiensystems, aber auch eine Erhöhung des Mindestlohns auf umgerechnet 180 Dollar.
Es war ein erster symbolischer Sieg, dass in Kairo die Polizeikette überrannt wurde und die Demonstranten sich auf dem Midan al-Tahrir versammeln konnten. Später griff die Polizei an und konnte die Protestierenden zeitweise vertreiben. Das sollte in den folgenden Tagen immer seltener gelingen.

Seit dem 25. Januar ist in Ägypten jeder Tag ein Tag des Zorns. Soziale Netzwerke und Handys waren zwar wichtig für den Aufruf zu den ersten Protesten. Nachdem das Regime die Abschaltung sowohl des Internet als auch des Mobilfunknetzes anordnete, stieg die Zahl der Protestierenden dennoch weiter an. Den jungen Liberalen aus der Mittelschicht schlossen sich Arbeiter und Arbeitslose, Staatsangestellte und Kleinhändler an. Demonstriert wurde in allen größeren ägyptischen Städten, von Assuan im Süden bis Arish im Norden.
Mindestens 150 Menschen wurden getötet, unter ihnen waren offenbar auch einige Polizisten. Oft gelang es, die Polizei zurückzudrängen, die sich schließlich weitgehend zurückzog. Es kam zu Plünderungen in den wohlhabenderen Vierteln und sogar im Äygptischen Museum. Vor dem Museum bildeten Demonstranten eine Menschenkette, in vielen Vierteln organisieren die Anwohner Wachdienste. Auch der neue Gewerkschaftsverband rief dazu auf, die Fabriken vor Plünderungen und Zerstörung zu schützen. Die meisten Plünderer waren Agenten des Regimes, bei einigen wurden nach der Festnahme Polizeiausweise gefunden.
In der Nacht zum Samstag rollten dann Panzer in die Städte. Der Aufmarsch des Militärs wurde zunächst überwiegend begrüßt. Die Protestierenden hoffen offenbar, dass die Militärführung nach tunesischem Vorbild dem Präsidenten nahelegt, das Land zu verlassen, und eine Demokratisierung einleitet. Ist diese Hoffnung berechtigt? Bislang hat sich das Militär zurückgehalten. Panzer sperren die Straßen, doch die Protestierenden können passieren. Die Militärführung hat zugesagt, nicht auf die Demonstranten schießen zu lassen, doch bleibt unklar, welche politische Rolle sie zu spielen gedenkt.
Bei der Kabinettsumbildung hat Mubarak einige besonders unpopuläre wirtschaftsliberale Minister durch Offiziere ersetzt. Möglicherweise wurde diese Entscheidung vom Offizierskorps erzwungen. Seit dem Putsch der »Freien Offiziere« im Jahr 1952 steht Ägypten unter Militärherrschaft. Mubarak hat den Rang eines Generals und ist als Präsident auch Oberkommandierender des Militärs, doch gegen die Mehrheit der Offiziere könnte er sich nicht durchsetzen.
Mubarak gewährt seinen Offizieren zahlreiche Privilegien, überdies gibt es viele vom Militär geführte Unternehmen. Doch die Offiziere sehen den Aufstieg der zivilen Bourgeoisie, die einer Generation von jüngeren NDP-Bürokraten verbunden ist, mit Misstrauen. Der Repräsentant dieser neuen Bourgeoisie ist Gamal Mubarak, der Sohn des Präsidenten und nach Ansicht der meisten Ägypter sein auserkorener Nachfolger. Im August vorigen Jahres kritisierten pensionierte Offiziere in einem offenen Brief die geplante Erbfolge.

Nun wäre der geeignete Moment, die von der Militärführung wahrscheinlich bevorzugte Regelung durchzusetzen. Der 82jährige Hosni Mubarak müsste nicht einmal lügen, wenn er bekannt gäbe, dass er aus gesundheitlichen Gründen auf eine weitere Amtszeit verzichtet, und da die Kandidatur seines Sohnes nie offiziell bestätigt wurde, müsste sie auch nicht widerrufen werden. Der Weg wäre dann frei für die Krisenlösung des Militärs.
Den verständigeren Offizieren dürfte klar sein, dass es keine Rückkehr zur Normalität der Autokratie geben wird. Die Straßenproteste könnten militärisch niedergeschlagen werden, sofern die Wehrpflichtigen den Befehlen gehorchen. Doch es dürfte schwer fallen, die vielen Millionen Ägypter, die ihre Angst und Apathie nun überwunden haben, dauerhaft mit Gewalt niederzuhalten. Die Modernisierungspolitik wäre beendet, aus Ägypten würde das Nordkorea des Nahen Ostens.
Andererseits zeigen die anhaltenden Proteste in Tunesien (siehe die Seiten 4 und 5), dass die arabische Demokratiebewegung mehr will als einen neuen Mann an der Spitze des Staates. Die schlichte Parole »Hurriyya« (Freiheit) steht nicht nur bei den jungen Facebook-Liberalen für Presse-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit sowie die Forderung nach freien Wahlen. Ein Nachgeben könnte letztlich auch die privilegierte Stellung des Offizierskorps gefährden.
Wahrscheinlich wird die Militärführung Mubarak zwingen, den Verzicht auf eine weitere Amtszeit bekanntzugeben, eine gewisse Liberalisierung gewähren und eine Runden Tisch mit wichtigen Repräsentanten der Opposition einberufen, um über Reformen zu beraten. Die US-Regierung scheint eine solche Lösung zu befürworten. Präsident Barack Obama erhob die kuriose Forderung, Mubarak möge »eine bessere Demokratie« schaffen, als müssten nur einige Kleinigkeiten geändert werden. Andererseits hat Außenministerin Hillary Clinton recht deutlich von der Notwendigkeit sofortiger Reformen gesprochen. Die USA unterhalten sehr enge Beziehungen zum ägyptischen Offizierskorps, das ohne die amerikanische Militärhilfe von 1,3 Milliarden Dollar pro Jahr mit weitaus dürftigerem Material auskommen müsste. Obama war bislang kein eifriger Unterstützer der Demokratiebewegung im Nahen Osten. Doch auch ihm dürfte klar sein, dass Mubarak keine »Stabilität« mehr garantieren kann, und es wäre katastrophal für das Image der USA, wenn ihr engster Verbündeter in der Region Tausende Zivilisten massakrierte.
Fraglich ist allerdings, ob die Protestierenden sich mit weniger als dem sofortigen Rücktritt Mubaraks und der Gewährung der bürgerlichen Freiheiten zufrieden geben werden. Die Bewegung scheint sich eher zu radikalisieren, auch das von Mohammed al-Baradei geführte Bündnis der traditionellen Oppositionsgruppen wird mit Misstrauen betrachtet. Andererseits kann man nicht erwarten, dass es überall so schnell geht wie in Tunesien. Auch in Frankreich vergingen zwischen dem Sturm auf die Bastille und der Ausrufung der Republik drei Jahre. Sicher ist jedoch, dass in der arabischen Welt der change begonnen hat. Mit atemberaubender Geschwindigkeit erfasst die Demokratiebewegung einen Staat nach dem anderen. Der jordanische König Abdullah sah sich am Dienstag gezwungen, sein Kabinett zu entlassen. Protestiert wird auch im Sudan, im Jemen und sogar in Syrien, unter dem brutalsten arabischen Regime.
Entscheidend sind zwei politische Strömungen, die sich in den vergangenen Jahren im Untergrund organisierten, junge Liberale aus der Mittelschicht und Gewerkschafter. Beide Gruppen rebellieren gegen ein autoritäres Herrschaftssystem, das die schlechtesten Seiten von Stalinismus und Kapitalismus vereinigt: den Stumpfsinn und die Gängelungswut einer repressiven Bürokratie mit der ungebremsten Rücksichtslosigkeit einer Bourgeoisie, die sich vor niemandem rechtfertigen muss.
In einer Region, von der man glaubte, dass sie nicht ohne Alpha-Männchen auskommen könne, ist eine Bewegung ohne Führer entstanden. Nur selten sind die alten antizionistischen Parolen zu hören, und wenn derzeit etwa in Ägypten die USA kritisiert werden, dann meist nicht, weil sie existieren, sondern weil Obama sich nicht mit der Demokratiebewegung solidarisiert hat.
Die ägyptische Muslimbruderschaft beteiligte sich erst an der Revolte, als klar wurde, dass sie andernfalls weiter an Einfluss verlieren würde. Ernstzunehmende Experten wie Olivier Roy haben bereits vor Jahren darauf hingewiesen, dass islamistische Organisationen bei freien Wahlen nur selten mehr als 20 Prozent der Stimmen erhalten. Das iranische Regime, al-Qaida und andere Jihadisten haben seitdem dazu beigetragen, den Islamismus weiter zu diskreditieren.
Zwar gibt es in jeder arabischen Gesellschaft eine mehr oder minder große religiös-konservative Bevölkerungsgruppe und eine Minderheit von Islamisten. Dass die islamistischen Bewegungen sich gezwungen sehen, ihre Forderungen zu relativieren, in Tunesien etwa die Sharia, eigentlich das ewige »Gesetz Gottes«, zur Abstimmung stellen wollen und es in Ägypten für denkbar halten, dass auch eine Frau oder ein Christ das Land führen, zeigt, welche Ideen in der Gesellschaft nun vorherrschend sind.

Neben diversen Verschwörungstheorien gab es im Nahen Osten immer eine berechtigte Kritik an der westlichen Politik. Unterstützung für eine Demokratiebewegung hat es nie gegeben. Daran scheint sich wenig zu ändern, allenfalls die Erwägung, dass Mubarak sich ohnehin nicht halten wird, gibt Anlass für die Forderung nach Reformen, die ja auch in den vergangenen 30 Jahren schon hätte erhoben werden können. Das Ansehen der USA und der EU wird sinken, dass Halliburton und Siemens in Zukunft womöglich weniger Staatsaufträge bekommen, muss aber nicht betrüben. Bedauerlich ist jedoch, dass die israelische Regierung sich so eifrig für Mubarak engagiert. Denn die Demokratisierung ist die beste Chance für den Frieden (siehe Interview Seite 6). Überdies wurden die Islamisten von den Autokraten gestärkt, teils direkt, wie in den siebziger Jahre in Ägypten von Anwar al-Sadat, teils indirekt durch den nicht zuletzt von Mubarak protegierten reaktionären Staatsislam, der sich kaum vom Fundamentalismus unterscheidet.
Die palästinensischen Kämpfer haben ihre Avantgarderolle bereits an die demokratischen Revolutionäre aus dem unscheinbaren Tunesien abtreten müssen. In der arabischen Welt hat eine neue Ära begonnen. Die antikoloniale Epoche war das Zeitalter des Nationalismus, das Scheitern der staatskapitalistischen Entwicklungsdiktaturen stärkte seit den siebziger Jahren den politischen Islam. Nun aber fordert die »arabische Straße« Freiheit, Demokratie und Jobs, von denen man leben kann.