Über den Film »Unter die Stadt«

Kein Strand unter der Stadt

Christoph Hochhäuslers Film »Unter dir die Stadt« übersetzt das aus der Mode gekommene Entfremdungsthema in die Gegenwart.

Svenja Steve (Nicolette Krebitz) langweilt sich. Sie ist gerade erst mit ihrem Mann Oliver (Mark Waschke) von Hamburg nach Frankfurt am Main gezogen. In der frisch bezogenen Altbauwohnung sind die Kisten noch nicht ausgepackt, im Schlafzimmer steht kein Bett, es liegt lediglich eine Matratze am Boden, das Sofa wird noch von der Schutzfolie bedeckt. Während Oliver Karriere in der Bank macht, liegen Svenjas berufliche Ambitionen brach. Sie kennt kaum jemanden in der neuen Stadt, und in der Bankenwelt ihres Mannes gibt es keinen Platz für sie: Die Männer bleiben unter sich und machen die Geschäfte, die Frauen kümmern sich um die Förderung von Kunst und Kultur.
Auf einer Ausstellung im Firmengebäude lernt sie den Banker Roland Cordes (Robert Hunger-Bühler) kennen. Die Begegnung der beiden ist so beiläufig wie bedeutungsvoll: Roland Cordes und Svenja Steve verlassen unabhängig voneinander den Saal und teilen sich eine Zigarette. Was Svenja zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Cordes ist der Vorstandsvorsitzende der Bank. Die beiden beginnen eine Affäre, und als eine Stelle in Indonesien vakant wird, sorgt Cordes dafür, dass Oliver dorthin versetzt wird und Svenja alleine in Frankfurt zurückbleibt.
Christoph Hochhäuslers Film »Unter dir die Stadt« wurde in Cannes 2010, wo er leider nur im Rahmenprogramm und nicht im Wettbewerb lief, von Kritikern gefeiert, jetzt kommt er in die deutschen Kinos. Das Drehbuch hat Hochhäusler gemeinsam mit dem Schriftsteller Ulrich Peltzer (»Teil der Lösung«) verfasst. Beide verbindet, dass sie kein Interesse am Nachzeichnen einer Amour Fou haben. Statt für die Psychologie der Figuren interessieren sie sich für ihr Handeln. Das innere Gefühlsleben beschäftigt sie nur am Rande. Sie zeichnen stattdessen sehr präzise nach, wie aus Langeweile Begehren entsteht, wie das Begehren sich auf ein Ziel richtet, wie Emotionen das Handeln antreiben.
Genau wie Svenja langweilt sich auch Roland Cordes, ihm fehlt die Orientierung. Gerade wurde er zum »Banker des Jahres« gekürt, doch der Höhepunkt seiner Karriere ist im Grunde auch ihr Ende. Er hat alles, für das er sein ganzes Leben lang gearbeitet hat, erreicht. Er ist auf der Suche nach einer Echtheit, die es nicht geben kann: Von seinem Chauffeur lässt er sich ins Frankfurter Bahnhofsviertel bringen, sieht dort Junkies beim Spritzen zu. Svenja nimmt er mit auf eine Fahrt nach Mannheim, erzählt ihr, er sei hier aufgewachsen, erfindet eine Arbeiterkindheit und verleugnet seine Jugend in einer privilegierten Familie in der Schweiz.
Svenja geht es in gewisser Weise ähnlich: Sie ist verloren in einer Welt, in der ihre kulturellen Codes, die sie aus Hamburg kennt, nicht mehr funktionieren, in der es eine Trennung zwischen weiblicher und männlicher Sphäre gibt. Ihre Orientierungslosigkeit ist so groß wie ihr Unwillen, um jeden Preis zu irgendetwas dazuzugehören. Svenja kann nirgends andocken: Ihre Hände gleiten permanent über glatte Oberflächen, sie lässt sich durch die Stadt treiben, geht joggen, verfolgt eine Frau durch die Frankfurter Innenstadt, weil diese das gleiche Kleid trägt.
Wer »Unter dir die Stadt« als simple Kritik an der Bankenkrise und am Wirken und Handeln der Banker versteht, irrt gewaltig. Hochhäusler beschäftigt die innere Leere des Einzelnen. Er untersucht sehr genau, was die Entfremdung mit den Menschen macht, spürt den Handlungsmöglichkeiten in Zeiten der persönlichen Krise nach, die, wie sich herausstellt, erschreckend klein sind.
Es geht um Macht und wie sie sich in den privaten Beziehungen auswirkt. Der Film zeigt das anhand der Beziehung von Svenja und Cordes, die die Affäre als Ebenbürtige beginnen. Natürlich gibt es ein offensichtliches Machtgefälle zwischen den beiden. Schon alleine wie ihre Figuren im Film behandelt werden, zeigt deutlich: Sie ist Svenja, aber er ist Herr Cordes, er ist der erfolgreiche Banker und sie die gelangweilte junge Frau. Doch Svenja ist auch die einzige, über die er nicht bestimmen kann, die keine Angst vor ihm hat. Das löst sein Begehren aus, reizt ihn. Als die beiden ihre Affäre in einem Hotelzimmer beginnen, sagt Svenja zu Cordes: »Du bist gar nicht so groß«, und nachdem beide in einem Konferenzraum miteinander Sex hatten: »Ich habe keine Angst vor dir.«
Die Entfremdung der Figuren spiegelt sich in der Architektur. Cordes verbringt seine Tage in der Bank und erzählt Svenja, dass seine Büros in Frankfurt und in London bis hin zu den Bildern an den Wänden identisch sind. Sie sagt daraufhin: »Dann ist man ja immer schon da, das ist ja furchtbar.« Beide bewegen sich durch Frankfurt wie Gefangene. Gleichzeitig wird immer wieder der Druck von außen spürbar, der sich durch die Affäre kurzfristig verdrängen lässt.
Nachrichten aus Indonesien brechen in die Handlung ein. Es gibt Gerüchte, dass der Mitarbeiter, dessen Stelle Oliver übernommen hat, Opfer einer Entführung geworden ist. Oliver ruft Svenja aus der Ferne an, kann aber nicht lange sprechen, die Erwartungen anderer wollen ständig erfüllt werden.
Hochhäusler inszeniert identitätslose Fluchten; Hotelflure, die ins Nirgendwo führen, ein ausgeräumtes Bürogebäude im Bahnhofsviertel, die Blicke aus dem Bankenturm in eine Stadt, die nur aus Glas, Beton und Stahl zu bestehen scheint, die nicht eingeräumte Wohnung von Svenja und Oliver, die noch nichts Persönliches enthält, die repräsentative, aber dennoch austauschbare Villa der Cordes. Räume sind Transitbereiche in »Unter dir die Stadt«. Die Affäre findet im Grenzgebiet statt: Das erste Herantasten im Museum, das erste Treffen in der sterilen Zwischenetage des Commerzbank-­Towers und schließlich die Begegnungen in den Hotels geben der Unmöglichkeit dieser Affäre eine Umgebung.
Christoph Hochhäusler, der durch die von ihm mitbegründete Filmzeitschrift Revolver und seinen Blog »Parallelfilm« dafür bekannt ist, die Produktionsbedingungen im deutschen Kinobetrieb und auch den vorherrschenden Stil im deutschen Kino deutlich zu kritisieren, hat in seinem Film viele Sicherheiten, die die hiesige Kinolandschaft allzu oft bestimmen, hinter sich gelassen. Sein Film ist beeindruckend und mutig, nie erklärt er zu viel, nie misst er den Zeichen zu viel Bedeutung zu, und obwohl »Unter dir die Stadt« ein Kunstfilm ist, rutscht er nie ins Prätentiöse ab und ist oft überraschend komisch.
»Unter dir die Stadt« ist ein komplexer Film, der sich davor hütet, Antworten zu geben oder plumpe Einsichten zu vermitteln. Diese Offenheit hält er bis zum Ende durch: In der letzten Szene des Films liegen Svenja und Cordes schlafend in einem Hotelbett, obwohl es so schien, dass die Affäre der beiden vorbei sein könnte. Dann steht Svenja auf, schaut auf die Straße herunter, auf der Menschen panisch weglaufen, die Geräusche erinnern an einen Katastrophenfilm. Sie dreht sich zu Cordes um, sagt seltsam unbeteiligt: »Es geht los.« Einmal mehr löst Hochhäusler die gängigen Erzählmuster auf und gibt seinem Film einen würdigen Abschluss.

»Unter dir die Stadt« (D 2010). Regie: Christoph Hochhäusler. Buch: Christoph Hochhäusler/Ulrich Peltzer. Start: 31. März