Über den Film »Un homme qui crie«

Um Leben und Tod

Mahamat-Saleh Harouns Meisterwerk »Un homme qui crie« verhandelt einen Vater-Sohn-Konflikt vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs im Tschad und kommt dabei nahezu ohne Gewaltdarstellung aus. Dennoch ist die Brutalität allgegenwärtig.

Der im Tschad geborene, in Frankreich lebende Regisseur Mahamat-Saleh Haroun hat jede Menge Sinn für Humor: Adam (Youssouf Djaoro), die Hauptfigur seines Films »Un homme qui crie«, ist ein Bademeister und ehemaliger schwarz-afrikanischer Schwimmstar, der einst die Afrika-Meisterschaft gewonnen hat. Nun sind erstens Menschen aus Afrika für ihre Schwimmleistungen nicht gerade berühmt – da gibt es eher wenig zu berichten. Außerdem ist der Tschad, der Schauplatz des Films, nicht gerade für seine üppige Ausstattung mit dem flüssigen Element bekannt. Der Film hinterlässt jedoch keineswegs den Eindruck, sein Schöpfer habe nicht gewusst, was er tut. Dafür ist »Un homme qui crie« schlicht und einfach zu sehr Meisterwerk. Weshalb ich an dieser Stelle auch eindringlich dazu raten möchte, den Film anzusehen.
Sehr zu Recht schaffte es der Film 2010 als erster Beitrag aus dem Tschad überhaupt in den Wettbewerb von Cannes und erhielt auf Anhieb den Preis der Jury. Der Film hat ein gutes Drehbuch, überzeugende Schauspieler und ist mit spartanischen Mitteln genial in Szene gesetzt. Zudem lebt er von einer guten Portion Suspense und folgt strukturell dem Aufbau einer Novelle, jener Geschichtenform, die uns von einer unerhörten Begebenheit berichtet. In diesem Fall sind es der Verrat des Sohnes an dem Vater und der Verrat des Vaters an dem Sohn.
»Champ« Adam, Ende 50, passt in einer Hotelanlage in Tschads Hauptstadt N’Djamena auf den Swimmingpool auf. Zu den Gästen zählen wohlhabende Touristen und UN-Soldaten. Sozusagen um die Ecke spielt sich der Darfur-Konflikt ab. Der Krieg im Nachbarland Sudan ist im Alltag schon spürbar: Immer mehr Menschen werden in die Kämpfe hineingezogen, es gibt Plünderungen in der Grenzregion, Waffen werden verschoben, Nachschublinien verlaufen durch das Land. Reiter- und andere Milizen operieren aus dem Grenzgebiet heraus. Alsbald herrscht auch im Tschad der Kriegs- und Ausnahmezustand. Die Armee rekrutiert junge Männer zur Sicherung der Grenzen, es eilt, eigentlich kann man schon von Aushebungen sprechen.
Spürbar sind diese Vorgänge in jeder Sekunde des Films, zu sehen aber sind sie kaum. »Der Krieg«, sagt Haroun, »ist wie ein Geist, der durchs Land jagt und ab und an erscheint.«
Wie beiläufig reden die Leute auf der Straße von den Kriegshandlungen, sie sind bereits Alltag. Die Bedrohung ist jederzeit präsent, der erwartete Ausbruch bleibt aus, doch die Gewalt schleicht sich allmählich in das Leben der Menschen.
Der Pool erscheint zu Beginn des Films wie eine Welt für sich, man klatscht sich zum Dienstbeginn ab, Adam gibt Schwimmunterricht und passt auf, dass keiner von der Seite reinspringt. Auch sein Sohn Abdel (Douc Koma) ist in dem Hotel beschäftigt, dem Vater ist es gelungen, ihn als Assistenten in der Anlage unterzubringen. Nun schäkert der junge Mann mit den Touristinnen. Einträchtig sieht man die beiden im firmeneigenen Motorradgespann umherfahren.
Es ist ein einfaches, aber modernes und sehr aufgeräumtes Afrika, in dem sich »Un homme qui crie« bewegt: Die Leute haben Arbeit, sie halten ihren Laden am Laufen. Man schaut, dass es der Familie gut geht und der Stress gering bleibt.
Die scheinbar heile Welt kriegt die ersten Macken, als das Hotel den Besitzer wechselt. Die neuen Chefs kommen aus China und zeigen der Belegschaft gleich mal, was Globalisierung ist: Kostenersparnis minus Belegschaft. Sprich: Den Job von zweien kann auch einer allein erledigen. Sohn Abdel wird neuer Chef am Pool, und da es auch im Tschad soziale Gesichtspunkte gibt, wird Adam als Pförtner weiterbeschäftigt. »Vater, das ist gut so. Ich hab ja jetzt auch Verantwortung«, sagt Abdel.
Das Motorrad hat er jetzt auch für sich allein. Adam sieht’s mit Grausen. Dass der alte Torwächter, dessen Stelle er jetzt hat, gefeuert wurde, daran möchte er lieber gar nicht denken, wenn er dem Mann auf der Straße begegnet.
Bald geht es um Leben und Tod. »Nein, wirklich?« fragt Adam mit gespieltem Erstaunen. »Aber wenn ich es dir doch sage«, antwortet der stolze Nachbar in der Abendsonne: Dessen Sohn ist zur Armee gegangen, und nun ist er Leutnant mit einer schönen Uniform. Die Existenz ist gesichert, der Nachwuchs geplant. Soziale Not und Krieg bedingen einander. Das wäre doch auch was für Abdel, meint der sorgende Adam. Die Arbeit am Pool ist doch eher für alte Leute und verspricht auch wenig Renommee.
In der Rekrutierungsstube sieht man das auch so. Ganz unverbindlich hat sich Adam mit dem Distriktkommandanten unterhalten, und ebenso beiläufig teilt er der Militärpolizei mit, wo sein Sohn sich die nächste Zeit aufhalten wird. Und so machen sich die Polizisten auf den Weg, nehmen Abdel mit, und der Vater steht wie unbeteiligt daneben.
Man ahnt es schon: Das ist wahrscheinlich nicht die beste Idee, die der alte Schwimm-Champ in seinem Leben gehabt hat. Der Titel des Films bekommt seinen Sinn: Adam wird einiges an Leid herauszuschreien haben.
Haroun entwirft in »Un homme qui crie« eine moderne Tragödie: Der Vater verrät den Sohn und schadet sich selbst. Als er dies erkennt, ist natürlich alles zu spät. Hier müssen einfache Menschen die schwierigen Fragen beantworten, die sich stellen, wenn der Krieg eintritt.
Adam, der erste Mensch, steht nach dem Sündenfall vor den Scherben seines bisherigen Lebens. Richtig deutlich wird das Ausmaß erst, als Abdels künftige Frau (Djénéba Koné) auftaucht: Sie ist als Vorbotin der Katastrophe auf der Flucht in Richtung Kamerun. Adam teilt sie mit, dass sie mit seinem Enkelkind schwanger ist. Das ist der Grund, warum Abdel den Job im Hotel unbedingt haben wollte.
Die Prozesse sind nicht mehr umkehrbar. Die Personen handeln unter dem Eindruck der Zwänge von Ökonomie und Politik. Ausweglos ist die Situation, und dann macht man sie selbst noch schlimmer. Jeder Fehltritt hat die schlimmsten Folgen. Ein strammes Gleichnisspiel präsentiert der Regisseur: Adam, das ist der Mensch in der Zwickmühle.
Oder verhält es sich anders? Verführt das Schicksal die Menschheit? Die Umstände bringen Harouns Modellmenschen dazu, unmenschlich zu werden.
»Un homme qui crie« kann man vor allem als Plädoyer für eine Politik verstehen, die niemanden in die Ecke drängt und die Extreme vermeidet. Für die Durchschnittsmenschen, die Familie des Alltags, deren Ressourcen schnell erschöpft sind, kommt nur Mist dabei heraus. Mögen die anderen Kriegshelden werden: Wer arm ist, schaut seinen Kindern beim Sterben zu. Und ist auch noch selbst schuld daran.

»Un homme qui crie« (Tschad/F/B 2010). Regie: Mahamat-Saleh Haroun, Darsteller: Youssouf Djaoro, Emile Abossolo M’bo u.a. Kinostart: 7. April