Die Behindertenrechtskonvention und ihre Umsetzung in Deutschland

Deutschland bleibt unkonventionell

In Kürze wird der erste Staatenbericht erwartet, in dem Deutschland darlegt, wie es hierzulande um die Verwirklichung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bestellt ist. Verbände und Initiativen rechnen mit einem ernüchternden Ergebnis.

Papier ist geduldig. An dieses Sprichwort scheint sich Deutschland zu halten, zumindest wenn es um die Realisierung von UN-Konventionen geht, die eine Verbesserung der Situation von gesellschaftlich benachteiligten Gruppen vorsehen. Vor zwei Jahren hat die Bundesrepublik die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, kurz Behindertenrechtskonvention (BRK), unterzeichnet. Die Ziele der Konvention sind weitreichend, ihre Verwirklichung würde die hierzulande bestehende soziale Infrastruktur grund­legend verändern. Es wird erwartet, dass die Bundesregierung in Kürze ihren ersten Staatenbericht vorlegt, der eine Bilanz des bisher Erreichten darlegen soll. Wenn man sich anschaut, wie in Deutschland die vor 20 Jahren ratifizierte Kinderrechtskonvention in die Tat umgesetzt wurde, darf man skeptisch sein. Im deutschen Bildungssystem herrscht weder »Chancengerechtigkeit«, noch wurde ein angemessener Lebensstandard für alle Kinder erreicht, stattdessen nimmt die Kinderarmut seit einigen Jahren deutlich zu.

Die UN-Konvention sieht vor, dass behinderte Menschen nicht mehr aufwendig in die Gesellschaft integriert werden sollen, sondern ganz selbstverständlich dazugehören. Sie sollen sich nicht mehr der Gesellschaft anpassen müssen, sondern diese soll sich auf ihre Bedürfnisse einstellen. Die Konvention verlangt in allen gesellschaftlichen Bereichen eine Abschaffung von Diskriminierung wegen Behinderung. Dies bedeutet, dass Schüler einen Rechtsanspruch auf eine integrative »Beschulung« erhalten sollen. Die Aufteilung in verschiedene Formen von »Sonderschulen« soll der Vergangenheit angehören. »Die Beschlüsse treffen ein Schulsystem, das weltweit führend in der Selektion der Schüler ist«, sagt Wulf Rauer, Schulpädagoge der Universität Hamburg. Daran hat sich auch in den zwei Jahren seit der Ratifizierung wenig geändert. »Es müssen noch große Anstrengungen unternommen werden, um die Ziele der Konvention zu erreichen«, sagt Rauer. Der Präsident des Sozialverbandes Deutschland, Adolf Bauer, mahnt, dass »die wesentlichen Ziele der UN-Konvention unberücksichtigt bleiben«. Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen« findet noch deutlichere Worte. »Viele Länder haben die Konvention lange nicht ernst genommen und mit dem in der Konven­tion erwähnten ›angemessenen Zeitraum‹ für die Umsetzung ihre Untätigkeit entschuldigt«, sagt Camilla Dawletschin-Linder, die Vorsitzende der BAG.

Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen scheinen vorerst am Status quo festhalten zu wollen. Vor allem im Süden der Republik bemüht man sich um eigenwillige Interpretationen der UN-Konvention. In Bayern und Baden-Württemberg beruft man sich auf das »Kindeswohl«, das in der Konvention doch schließlich auch irgendwie enthalten sei. »Dieses Kindeswohl wollen sie im Einzelfall prüfen, das heißt, es soll geschaut werden, ob die behinderten Kinder unter den nichtbehinderten leiden und umgekehrt«, sagt Dawletschin-Linder. Vom eigentlichen Gedanken der Konvention ist diese Argumentation weit entfernt. Denn das »Kindeswohl« wird sogar als Druckmittel gegen die Eltern verwendet. »In Bayern und Baden-Württemberg gibt es Fälle, in denen Eltern mit dem Entzug des Sorgerechts gedroht wird, wenn sie für ihre Kinder weiter auf eine integrative Beschulung drängen und den Besuch einer Förderschule ablehnen«, sagt Dawletschin-Linder. Die betroffenen Familien wehren sich mit Anwälten gegen die behördlichen Maßnahmen. In der baden-württembergischen Stadt Bühl kämpft beispielsweise eine Mutter seit einem Jahr dagegen, dass ihr elfjähriger behinderter Sohn eine Sonderschule besuchen muss. Die Behörde hatte immer wieder versucht, sie zu überreden, und dabei als Argument auch die »Mittelknappheit« vorgebracht. Seit September 2010 besucht das Kind keine Schule mehr, eine Rechtsanwältin versucht, die integrative »Beschulung« durchzusetzen. Die Mutter hofft nun, dass sich unter der neuen grün-roten Landesregierung etwas ändert. In Bayern besteht diese Hoffnung nicht. Auch bei der geplanten Novellierung des bayerischen Schulgesetzes sind kaum Änderungen in Hinblick auf die bisherige Praxis der Segregation vorgesehen. »Das individuelle Recht auf inklusive Bildung wird nicht anerkannt«, schreibt Wolfgang Patzwahl vom »Bündnis Inklusive Schule in Bayern – jetzt!« in einer Petition an den bayerischen Landtag.
Im Norden der Republik sieht die Lage – zumindest auf dem Papier – schon besser aus. Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein haben als einzige Bundesländer bereits erste Schritte zur Inklusion unternommen. In Hamburg wurde noch unter dem schwarz-grünen Senat vor einem Jahr das Schulgesetz reformiert und dabei das Recht auf Inklusion festgeschrieben. Kinder der Klassenstufen eins und fünf kommen seitdem nicht mehr auf eine Förderschule, sondern werden in Integrationsklassen unterrichtet. Die Förderschulen für Lern- und Sprachbehinderte sollen sukzessive verringert werden und irgendwann der Vergangenheit angehören.
Während sich in anderen Bundesländern bisher wenig geändert hat, führt die Geschwindigkeit, mit der in Hamburg die Inklusion vorangetrieben wird, mitunter zu chaotischen Zuständen. Denn viele Grund- und Stadtteilschulen sind überhaupt nicht auf den Unterricht mit behinderten Schülern vorbereitet. »Diese Aufgabe allein den Schulen zu überlassen, ist nicht richtig«, sagt Rauer. Seiner Ansicht nach müssen mehr Mittel bereitgestellt werden. Das fordert auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, denn am Hamburger Beispiel kann man beobachten, wie versucht wird, mit der Inklusion Geld zu sparen.

»Pädagogische Ideale scheitern in der Regel an den Haushaltspolitikern«, sagt Rauer. Für die integrative »Beschulung« von behinderten Schülern erhalten Hamburgs Schulen in der Anfangszeit pro Schüler drei zusätzliche Lehrerstunden, die von Sonderpädagogen übernommen werden. Es ist vorgesehen, diese drei Stunden später auf eine oder eineinhalb Stunden zu reduzieren. Dass mit dieser geringen Stundenzahl mitunter schwerwiegende schulische oder soziale Probleme nicht bewältigt werden können, liegt auf der Hand.
In Hamburg steht ein Erfolg des integrierten Unterrichts allerdings auch im Zusammenhang damit, dass die Stadtteile in arm und reich getrennt sind. Während in reicheren Bezirken die Inklusion auch mit weniger Mitteln gelingen könnte, kommen auf Schulen in sozial benachteiligten Stadtteilen mit vielen Kindern und Jugendlichen aus sogenannten bildungsfernen Familien vielfältige Aufgaben zu.
»Es kann so sehr leicht zu einer doppelten Benachteiligung kommen«, sagt Rauer. Die Stadtteilschulen könnten die neuen »Resteschulen« werden, da sich mittlerweile ein deutlicher Trend zur Flucht aufs Gymnasium oder in Privatschulen abzeichne. Auffallend ist, dass im Zusammenhang mit den Gymnasien bisher niemand über Inklusion gesprochen hat. So wirkt die Inklusion angesichts der zunehmenden Ausgrenzung innerhalb der Gesellschaft beinahe wie eine Idee linker Sozialromantiker. Durch die Versuche, die Inklusion vor allem möglichst billig einzuführen, wird dieser Eindruck noch verstärkt.