Über die »Zweite Revolution« in Ägypten

Das Militär ist gewarnt

Auf dem Tahrir-Platz wird wieder demon­striert. Die Proteste der säkular orientierten Gruppen richten sich gegen das herrschende Militär. Gefordert werden das Ende der Militärtribunale und politische sowie ökonomische Reformen.

In der Nacht vor der Demonstration am 27. Mai scheint in Kairo niemand zu schlafen. Es ist kurz nach zwei Uhr nachts und im Minutentakt laufen die Twitter-Nachrichten ein. »Schaut«, schreibt Salma Said. Sie gehört zu den unermüdlichen Bloggern und Bloggerinnen, die für die ägyptische Bewegung so bedeutsam sind und jetzt allesamt vor ihren Bildschirmen sitzen. Said schickt den Link zu einem Video, in dem die schönsten Szenen der Revolution zu sehen sind. »Damit ihr euch erinnert, wie stark wir zusammen sind!«
Seit Wochen ruft die junge Bewegung zu Protesten am 27. Mai. Die »Zweite Revolution« haben manche den Tag genannt. »Ich sehe keine Veränderung! Ich gehe zurück auf den Platz«, ist der Titel eines Aufrufes, der seit Wochen im Netz kursiert. Viele Aktivistinnen und Aktivisten befürchten derzeit eine Niederlage der Revolution und wollen deshalb zurück auf die Straße. Im Aufruf werden die großen Enttäuschungen thematisiert, die die junge Bewegung seit dem Rücktritt des Staatspräsidenten Hosni Mubarak erlebt hat. Aufgrund dieser Enttäuschungen demonstrieren sie nicht mehr mit ihren ehemaligen Verbündeten, dem Militär und der Muslimbrüderschaft, sondern gegen sie.

Das Video der Kampagne zeigt etwa einen General, der behauptet: »Es gab keine Menschenrechtsverletzungen. Wer das sagt, soll Beweise liefern.« Schnitt. Es folgen die Bilder von den Verletzungen und Verbrennungen auf den Rücken der Demon­s­tranten, die am 9. März von der Armee festgenommen und gefoltert wurden. »Wir haben nie auf Protestierende geschossen«, sagt auch General Mohammed Hussein Tantawi, Oberster des herrschenden Militärrates (SCAF). »Wir haben keinen einzigen Schuss abgegeben.« Schnitt. Danach ist zu sehen, wie in der Nacht auf den 9. April Soldaten das Feuer auf die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz eröffnen und wie die Menschen in Panik davonstürmen oder zu Boden sinken. Die sarkastische Unterzeile dazu lautet: »Nein, Herr General, nicht einen einzigen Schuss. Unzählige.«
Anders als ein großer Teil der ägyptischen Bevölkerung hat die politische Bewegung das Vertrauen in das Militär verloren, welches in den vergangenen Monaten brutal gegen die Protestierenden vorging. Die Bloggerszene war schon vor der Revolution, als noch Zensur herrschte, sehr aktiv gewesen. Jetzt hat der Militärrat erneut eine Verordnung erlassen, die es den Medien verbietet, ohne Genehmigung über das Militär zu berichten. Die meisten Medien leisten dem Folge, während die Blogger sich entsetzt wehren. Sie erklärten den 23. Mai zum »Noscaf-day«, fast 400 Menschen beteiligten sich an diesem Aktionstag und protestierten gegen die Menschenrechtsverletzungen, die fatale Politik und die Lügen des Militärrates. Seit Anfang April arbeitet die Kampagne »Nein zu Militärtribunalen für Zivilisten«, die von Anwälten und vielen jungen Leuten getragen wird, fieberhaft dagegen, dass Menschen, die aus politischen Gründen verhaftet werden, in nur wenige Minuten dauernden Prozessen von Militärgerichten verurteilt werden – meist zu mehreren Jahren Haft. Es wird geschätzt, dass 7 000 Personen auf diese Weise seit Februar verurteilt worden sind.
Das Ende der Militärtribunale für Zivilisten steht an erster Stelle in fast allen der zahlreichen Forderungskataloge, die die verschiedenen Gruppen vor dem 27. Mai veröffentlicht haben. Weitere wichtige Themen sind die Kontrolle der neu geschaffenen Geheimdienste, die Aufhebung des seit mehr als 30 Jahren geltenden Ausnahmezustands, ein Ende der Straffreiheit für Polizisten und Angehörige des Militärs, die Protestierende gefoltert oder getötet haben, ein radikaler Personalwechsel in der Ministerien und insbesondere in der Presse sowie ein Ende des gewalttätigen Vorgehens gegen Streiks und Proteste. Vor allem der radikale, nicht in festen Strukturen organisierte Teil der Bewegung, der sich hauptsächlich im Internet vernetzt, formuliert die Ziele der Demonstration deutlich: »Wir wollen einen zivilen Staat und eine zivile Regierung. Kein Militär und keine Religion in der Politik!«, sagt Razab. Der 21jährige gehört zu denjenigen, die auch ökonomische Forderungen stellen, wie die Erhöhung des Mindestlohns, eine progressive Besteuerung und die Umverteilung des Reichtums im Land. Seit einigen Wochen wird eine heftige Debatte über die derzeitige ökonomische Krise geführt (siehe Seite 13), vor allem die staatlichen Medien machen die Revolution und die andauernden Proteste dafür verantwortlich.

Der 27. Mai beginnt früh für die Demonstranten. Kurz nach fünf Uhr morgens sind alle Straßen, die auf den Tahrir-Platz führen, mit Stacheldraht und provisorischen Barrikaden abgesperrt. Junge Männer und Frauen stehen Wache und schicken Auto- und Taxifahrer freundlich zurück. Manch einer schimpft darüber, dass ihm der Weg schon wieder versperrt wurde, die meisten sind es nach wochenlangen Demonstrationen und Besetzungen inzwischen gewohnt. Auf dem Weg zum Platz werden die Leute sorgfältig abgetastet, niemand soll Waffen mitbringen. Einige hundert, vielleicht auch 1 000 meist junge Leute sind schon da. Fast alle kennen sich von den vergangenen Protesten. Sie grüßen sich, nicken sich zu, schlagen ein. Händler pressen Saft aus frischen Mangos und kochen Kaffee auf mobilen Gaskochern.
Auf den Wiesen vor dem wuchtigen Block des Verwaltungsgebäudes Mugamma schlafen diejenigen, die zu weit weg wohnen. Die Sonne geht auf und beginnt, die weiten Teerflächen aufzuheizen. Die ersten Plakate werden an den Laternenmasten hochgezogen, eine Gruppe probt Demonstration und zieht skandierend um den Platz. Manchmal wird plötzlich »Baltagiya« (Schlägertrupps) gerufen, die Leute springen auf. Fehlalarm. Alle setzen sich wieder.
Bei der Demonstration ist die Stimmung sehr angespannt. Die Menschen haben nicht vergessen, dass das Militär nun schon zweimal das Feuer auf Protestierende eröffnet und mehrere Hundert von ihnen verletzt hat. Die Anzahl der Getöteten ist noch unbekannt. Zwei Tage vor der Demonstration verhaftete die Militärpolizei drei bekannte Künstler, als sie Plakate klebten, und zwei Mitglieder der Bewegung 6. April, die beim Verteilen von Flyern ertappt worden waren. Zudem sorgten zwei Erklärungen, die der SCAF auf seiner Facebook-Seite veröffentlichte, für Verunsicherung. Der Militärrat machte zunächst »Kräfte aus dem Ausland« für Proteste und Unruhen verantwortlich, die Ägypten angeblich schwächen wollten. Dann kündigte das Militär an, dass es künftig Demonstrationen nicht schützen werde, was auch immer geschehe, denn es werde danach immer behauptet, die Armee würde auf Demonstranten schießen. Für die meisten Protestierenden war dies eine klare Botschaft: Das Militär würde nicht selbst angreifen, sondern diese Aufgabe, wie schon während der Revolution, den bezahlten Schlägertrupps, den Baltagiya, überlassen.

Die Stimmung auf der Demonstration entspannt sich erst, als im Laufe des Vormittags immer mehr Leute eintreffen. Der Platz füllt sich und sieht bald aus wie bei den meisten Großdemon­strationen seit dem Ende des alten Regimes. Von verschiedenen Bühnen schallen aus scheppernden Boxen Reden und Musik zugleich, fliegende Händler pressen Säfte, schwenken Teigtaschen und geben süßen Couscous aus. Viele tragen selbst gemalte Plakate und schwenken die ägyptische Flagge über dem Kopf. Und doch ist an diesem Tag vieles anders als bei der »ersten Revolution«, denn die Muslimbrüder fehlen. Mit ihnen hatte die Jugendbewegung während der Revolution und in der Zeit danach eine Art Zweckbündnis geschlossen. Viele der Jugendlichen konnten mit den Positionen der Muslimbruderschaft nie etwas anfangen. Dennoch haben sie auf dem Tahrir-Platz mit ihnen zusammen gekämpft. Die Muslimbrüder haben nach Einschätzung vieler Aktivisten auch eine wichtige Rolle gespielt bei der Verteidigung des Platzes während heftiger Angriffe der Polizei und des Militärs, wie am 2. Februar. Die Muslimbrüder haben nicht nur Erfahrung im Umgang mit Repression, sie waren auch bedingungslos bereit, den Platz notfalls mit ihrem Leben zu verteidigen.
Bei der Demonstration vom 27. Mai ist dieses Bündnis endgültig zerbrochen. Die Muslimbrüder haben sich dem Protest nicht angeschlossen und hetzten tagelang in den Medien gegen die Jugendbewegungen und die Parteien, die zur Demonstration mit aufriefen. Die Protestierenden würden das Land zerstören und einen »Keil zwischen Volk und Armee« treiben. Die Muslimbrüder könnten von dem Plan der Armee profitieren, möglichst bald Wahlen abzuhalten. Zudem haben sie gute Verbindungen zum Militär. Einige radikale Salafiten-Gruppen schlossen sich ihnen an: Alle, die am Freitag auf den Platz demonstrierten, seien »Atheisten« und »Ungläubige«.
Auf dem Platz macht sich das Fehlen der religiösen Massenorganisation bemerkbar: 50 000 bis 100 000 Menschen haben sich inzwischen hier versammelt, nicht so viele wie bei der letzten Großdemonstration Anfang April. Dennoch sind die meisten froh, den unliebsamen Bündnispartner losgeworden zu sein.
»Die Stimmung ist viel entspannter, wenn die nicht dabei sind, und endlich werden keine religiösen Reden mehr auf den Bühnen gehalten«, sagt Razab. »Hier ist das Zentrum der Revolution«, sagt auch Habib und zeigt über den Platz, auf dem vor allem junge Menschen versammelt sind. Viele kennen sich und sehen sich zum ersten Mal wieder nach dem Rücktritt Mubaraks. Am Abend twittern die Aktivisten Scherze und hämische Worte über die Muslimbrüder: »Seht her, wir können das auch ohne euch!« Von nun an ist allen klar: Die Grenze verläuft zwischen jenen, die ein säkulares und ziviles Ägypten wollen, und den Religiösen und dem Militär. Für die Bewegung ist das eine Erleichterung – aber zugleich eine Gefahr, denn ein Großteil der Bevölkerung setzt weiterhin seine Hoffnung in die Militärregierung.
»Das ist erst der Anfang«, sagen denn auch viele nach der Demonstration, als die Nacht hereinbricht. Sie versuchen, diejenigen, die bleiben wollen, davon zu überzeugen, dass die Zeit für eine erneute Besetzung des Platzes nicht günstig sei. Zeitweise gibt es Auseinandersetzungen mit Fremden, die auf den Platz kommen, die Stimmung bleibt angespannt, bis der Morgen graut. Schon für kommende Woche sind weitere Demonstrationen geplant. »Wir werden zurück auf die Straße gehen«, sagt Alia. »Und auch auf den Platz, da bin ich mir sicher. Wann, das werden wir sehen.« Wenn man es eine zweite Revolution nennen möchte, dann hat sie gerade erst begonnen.