Anklage im Libanon wegen des Mordes an Rafik Hariri

Rühr meinen Attentäter nicht an

Die libanesische Hizbollah versucht, einen Prozess gegen vier ihrer Mitglieder wegen des Anschlags auf Rafik Hariri zu verhindern, und verbreitet altbekannte Verschwörungstheorien.

Die Ermittler ließen sich Zeit. Sechs Jahre ist der Anschlag auf die Wagenkolonne des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri bereits her. Am 30. Juni erhob das UN-Sondertribunal für den Libanon nun endlich Anklage in dem Mordfall. Vier Mitglieder der libanesischen Hizbollah sollen den Mord ausgeführt haben. Der Anschlag im Februar 2005, bei dem 22 Menschen starben, hatte wochenlange Massenproteste zur Folge, die schließlich den Abzug der syrischen Besatzungstruppen erzwangen.
Überraschend kam die jetzige Anklage nicht. Seit vergangenem Herbst liegen die Ermittlungsergebnisse zur Bekanntgabe bereit, und bereits im Mai 2009 hatte der Spiegel enthüllt, dass die Ermittlungen auf eine Anklage gegen Hizbollah-Mitglieder hinauslaufen würden. Jeder im Land kannte die Ergebnisse, über das Tribunal gibt es heftige Auseinandersetzungen. Als Daniel Bellemare, der leitende Ankläger des Tribunals, Ende vorigen Jahres die Ermittlungen für abgeschlossen erklärte, kündigte der Hizbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah an, jedem die Hand abzuhacken, der es wagen sollte, einen seiner Leute zu verhaften. Die Minister der Hizbollah verließen das Kabinett, Experten und Medien warnten, eine Anklageerhebung könne zum Bürgerkrieg führen. Das Tribunal und die UN hatten sich davon offenbar einschüchtern lassen und die Veröffentlichung der Ermittlungsergebnisse zunächst aufgeschoben. Jetzt haben sie jedoch den perfekten Zeitpunkt für die Anklageerhebung gewählt.

Die Hizbollah hat gerade einen politischen Sieg errungen, aber ihre Macht könnte schwinden. Nach fünf Monaten ist es dem von ihr nominierten Ministerpräsidenten Najib Mikati zwar endlich gelungen, ein Kabinett zusammenzustellen, der Libanon hat nun eine von Hizbollah-Ministern und ihren Verbündeten dominierte Regierung. Der Aufstand gegen das syrische Regime bedroht jedoch die Macht der Hizbollah. Die schiitisch-islamistische Partei muss nicht nur fürchten, dass einer ihrer wichtigsten Schutzherren, der syrische Präsident Bashar al-Assad, sich ebenfalls bald vor einem internationalen Gericht zu verantworten hat. Sie verliert auch immer stärker an Rückhalt bei den eigenen Anhängern, weil sie sich ungeachtet der Massaker an Oppositionellen nicht vom syrischen Regime distanziert.
Als die libanesische Regierung im Mai 2008 das private Telefonnetz der Hizbollah lahmlegte, rief Hassan Nasrallah zum Sturm auf West-Beirut auf. Eine solche Machtdemonstration kann er sich nicht noch einmal leisten. Auf Hilfe aus Syrien kann er derzeit nicht zählen. Präsident Assad ist vollauf damit beschäftigt, das eigene Regime zu retten. Auch der Iran, der wichtigste Verbündete der Hizbollah, dürfte kein großes Interesse an einer zweiten Front haben, da er bereits Assad Personal für die Repression zur Verfügung stellt. Außerdem gäbe es im Libanon kaum Verständnis für einen Aufmarsch gegen eine Regierung, in der die eigenen Leute sitzen. Nasrallah beschränkt sich daher diesmal auf den Versuch, das Tribunal zu delegitimieren.

Nach Ansicht des Hizbollah-Generalsekretärs ist das Sondertribunal ein israelisch-amerikanisches Projekt. Als Beweis für seine absurde Behauptung nennt er eine UN-Lieferung von Computern über die Grenze nach Israel. Diese hat es tatsächlich gegeben. Zumindest zeigte der Fernsehsender MTV ein Zolldokument, das die Überstellung von Computern ausweist. Aber nicht das Tribunal, sondern die UN Truce Supervision Organization verschickte die Computer. Diese wacht über den Waffenstillstand zwischen Israel und seinen Nachbarn. Unter anderem operiert sie an der libanesischen Grenze und arbeitet eng mit der UN Interim Force in South Lebanon zusammen, die Krieghandlungen an der libanesisch-israelischen Grenze beobachtet.
Es liegt nahe, dass hier einfach Computer von einem Büro in ein anderes geschafft wurden. Die libanesische Opposition behauptet, das Zolldokument sei von der Hizbollah hergestellt worden. Nur einer ihrer Abgeordneten, Hadi Hobeish von Hariris Zukunfts-Partei, kam auf einen naheliegenden Einwand. »Um Informationen nach Israel zu senden, muss man nicht ganze Computer schicken«, sagte er in einem Radiointerview. Ein Film, in dem ein Redner einer Sicherheitskonferenz in dem Tel Aviver Vorort Herzliya den Vorsitzenden des Libanon-Tribunals, Richter Antonio Cassese aus Italien, als »Freund Israels« bezeichnete, gilt Nasrallah als weiterer Beweis.
Das Ziel des Tribunals sei es, einen Bürgerkrieg im Libanon zu entfachen, sagte Nasrallah in einer Ansprache. Seine Folgerung ist allerdings eher beruhigend. Er versicherte, dass er eine Eskalation nicht zulassen werde. »Wir müssen ruhig bleiben angesichts dieser Provokationen«, mahnte er seine Anhänger. Trotz mancher Warnungen hat sowieso niemand ernsthaft an einen Bürgerkrieg geglaubt. Vielmehr scheint die ganze Aufregung der Versuch zu sein, die Bedeutungslosigkeit der Hizbollah angesichts der Turbulenzen in der Region zu überspielen.
Dies gilt auch für die Opposition. Sie drohte, um ausländische Hilfe zu bitten, falls die Regierung nicht mit dem Sondertribunal kooperiere. In diesem Fall will sie eine politische Kampagne in die Wege leiten, um die arabischen Staaten und die »internationale Gemeinschaft« dazu zu bringen, die Zusammenarbeit mit der libanesischen Regierung abzubrechen. Unterdessen überschlagen sich die Warnungen vor einer internationalen Einmischung. So schrieb die englischsprachige Beiruter Tageszeitung Daily Star in ihrem Editorial: »Wenn ausländische Länder intervenieren und versuchen, die Ereignisse im Libanon zu beeinflussen, (…) werden sie aufgrund ihrer Interessen handeln, und diese sind nicht unbedingt die Interessen der Menschen hier.«
An dieser im Libanon typischen Sichtweise hat sich in den vergangenen 20 Jahren nichts geändert. Stets sind es »ausländische Mächte«, die intervenieren und »Ereignisse beeinflussen«, wobei »Ereignisse« ein Euphemismus für den Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 ist. Die Erkenntnis, dass Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können, verbreitet sich in der Region. Doch offensichtlich ist bisher wenig vom Geist der arabischen Revolutionen im Libanon angekommen.

30 Tage haben die libanesischen Behörden Zeit, um die Angeklagten an das internationale Tribunal zu überstellen. Da die Hizbollah dagegen ist, wird dies jedoch wohl nicht geschehen. Das Sondertribunal wird die Namen der Angeklagten veröffentlichen und den Prozess in ihrer Abwesenheit eröffnen. Aber die Macht der Hizbollah kann ihr in diesem Fall auch zum Verhängnis werden. Wenn die vier Angeklagten schuldig gesprochen werden, sei klar, dass »die Partei auf die eine oder andere Weise die Operation ausgeführt hat«, erläuterte der Abgeordnete Hadi Hobeish. Schließlich habe Nasrallah die Angeklagten unterstützt.
In einer sich rasch wandelnden arabischen Welt, in der der Gedanke der Rechtsstaatlichkeit sich gerade gegen den Hang zu Verschwörungstheorien durchzusetzen beginnt, könnte die Hizbollah weiter an Popularität verlieren, wenn sie alle Ermittlungen im Fall Hariri zu blockieren versucht. Doch Hassan Nasrallah ist in dieser Welt anscheinend nicht angekommen. Das zeigt nicht nur sein Unwissen hinsichtlich des modernen Informationsaustauschs.