Die Krise und die Rechten

Die Krise wirkt

Europas Börsen schmieren ab. Die ideologische Deutungshoheit über die Krise ­verschiebt sich dabei immer weiter nach rechts. Das hat seine Gründe.

Der Mann ist an Probleme gewöhnt. In seiner Karriere als EU-Krisenlöser beschäftige er sich mit Rinderwahn und Tschernobyl. Jetzt steht Horst Reichenbach vermutlich vor noch größeren Herausforderungen. Im Auftrag der EU-Kommission soll er als Chef einer »Arbeitsgruppe Technische Assistenz« die pünktliche Umsetzung aller Maßnahmen überwachen, die Griechenland den Euro-Ländern und dem Internationalen Währungsfonds zugesagt hat – und Athen »andernfalls zur Ordnung rufen«, wie die griechische Tageszeitung Kathimerini kürzlich berichtete.
Es mag ein Zufall sein, dass ausgerechnet ein deutscher Technokrat als Oberkontrolleur in Athen fungiert. Doch der Umstand passt perfekt zur deutschen Krisenstrategie. Seit Beginn des Schuldendesasters in der Eurozone propagiert die Regierung in Berlin einen riskanten Kurs. Sie hält sich mit Zusagen solange zurück, bis die jeweiligen Länder kurz vor dem Kollaps stehen. In letzter Minute willigt sie einem Hilfspaket zu, um die Pleite abzuwenden, verlangt aber einen hohen Preis dafür: Spar-, Reform- und Privatisierungsmaßnahmen, die ansonsten wohl keine Regierung in Friedenszeiten durchsetzen würde. Immer hart am Abgrund – damit hat es die Bundesregierung geschafft, sich in kurzer Zeit höchst unbeliebt in Europa zu machen. Nur zaghaft setzt sich die Erkenntnis durch, dass mit sparen allein keine Krise zu lösen ist. Zu wenig und zu spät: Die mittlerweile beschlossenen Investitionsprogramme für die griechische Wirtschaft werden daran nicht viel ändern.

Auch angesichts der aktuellen Entwicklung in der Eurozone bleibt Deutschland hart: Eine Aufstockung des Euro-Rettungsfonds EFSF ist nach Aussage der Bundesregierung nicht geplant – obwohl schon längst nicht mehr nur Griechenland, sondern auch große Euro-Staaten wie Spanien und vor allem Italien in ernsthaften Schwierigkeiten stecken. Für Spanien könnte das Volumen des Fonds gerade noch reichen – Italien, die drittgrößte Nationalökonomie der Euro-Zone, würde den EFSF aber überfordern.
Anfang der Woche begann daher die Europäischen Zentralbank (EZB), Staatsanleihen dieser Länder zu kaufen, obwohl sie einen solchen Schritt noch vor kurzem kategorisch ausgeschlossen hatte. Dennoch rauschten die europäischen Börsenkurse in die Tiefe – in Athen verzeichnete der Handel am Montag ebenso einen Rekordverlust wie der Dax in Frankfurt. Selbst an der Kreditwürdigkeit Frankreichs wird mittlerweile gezweifelt. Italien, Spanien und bald vielleicht sogar Frankreich: Die Schuldenkrise in der Eurozone eskaliert, und offenbar weiß niemand so recht, wie es weitergehen soll.
Dabei gibt es für die Krise viele strukturelle Gründe. Die griechische Klientelwirtschaft, die noch an die oligarchische Ordnung vergangener Jahrhunderte erinnert, oder die spanische und irische Immobilienblase, die sich auf einen irrwitzigen Bauboom gründete. Alle Länder leiden jedoch gleichermaßen vor allem darunter, dass sie wirtschaftlich kaum noch konkurrenzfähig sind, was an ihren Handelsbilanzen deutlich abzulesen ist. Gewinner sind deutsche Unternehmen, die sich durch Lohnsenkung Vorteile gegenüber den meisten Euro-Staaten verschafft haben.
Immerhin ist es Deutschland dadurch gelungen, ein Kunststück zu vollbringen: Trotz fulminanter Wachstumszahlen entwickelte sich hier der größte Niedriglohnsektor in Europa. In manchen Branchen gingen einer kürzlich veröffentlichten Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) zufolge die Löhne in den vergangenen zehn Jahren um über 20 Prozent zurück. Über sieben Millionen Menschen arbeiten unter Bedingungen, die eigentlich nicht zum Leben reichen. Und selbst die im Aufschwung zustande gekommenen Tarifabschlüsse können vermutlich kaum die Inflation ausgleichen.
Erstaunlich ist dabei, mit welchem Gleichmut die Plagerei dennoch ertragen wird. Die Eurozone spaltet sich in der Krise: Während im Süden Europas die Konflikte zeitweise fast ägyptische Dimensionen erreichen, reagieren die nördlichen Gesellschaften der Eurozone auffallend apathisch. Dort sind die Gewerkschaften kaum mehr in der Lage, ihre Mitglieder zu mobilisieren. Belegschaften fühlen sich eher dem Standort verpflichtet als den Kollegen in anderen Ländern. Und die prekär Beschäftigen denken sowieso in anderen Kategorien: Bin ich noch lohnabhängig oder schon scheinselbständig? Die Ich-AG ist mit sich selbst beschäftigt, auch wenn es vielen ähnlich miserabel ergeht. »Die Menschen sehen alle gleich aus, irgendwie individuell«, dichtet dazu der Sänger Rainald Grebe.

Vor allem aber mobilisiert die Krise die latenten Abstiegsängste der Mittelklasse. Sie hat noch etwas zu verlieren, sozialen Status und materielle Privilegien. Sie sieht sich von zwei Seiten bedroht. Einerseits durch die zunehmende Masse der sozial Deklassierten, anderseits durch die neuen Finanzeliten, die das alte industriell geprägte System ersetzen. Die soziale Mobilität erfuhr dadurch eine enorme Beschleunigung. Der rasche Aufstieg eines Start-up Unternehmers ist prinzipielle ebenso möglich wie der Absturz in die Unterklasse, auch wenn letzteres in der Regel wahrscheinlicher ist. Die Mittelklasse steht zudem unter besonderen Druck, weil sie in hohem Maße die Lasten der Krise zu tragen hat. Die Steuereinnahmen, mit denen letztlich die Folgen des deregulierten Kapitalismus finanziert werden, stammen im Wesentlich aus ihrem Einkommen. Objektiv läge es nahe, dass sie sich mit den ökonomischen Verlierern solidarisieren, und sei es nur, um für sich selbst eine ähnliche Perspektive abzuwenden. Subjektiv verhalten sie sich umgekehrt und suchen stattdessen den Schulterschluss mit den Eliten. Sie wenden ihre Angst vor dem Abstieg gegen die Verlierer: Der Hass, der den liederlichen Griechen entgegen schlägt, kommt aus demselben Impuls, mit denen die Harz-IV-Empfänger oder Migranten verachtet werden.
Darin spiegelt sich der Neid auf das scheinbar mühelose Auskommen und den Müßiggang, den man selbst gerne für sich reklamieren würde. Dem Establishment unterstellt man zwar ebenfalls, dass es ohne große Anstrengungen zu Reichtum gelangte. Doch erscheint es zugleich unangreifbar, während sich sozial Marginalisierte kaum wehren können. In Merkels Kritik an den faulen Griechen, die sich angeblich auf »unsere« Kosten zu viel Urlaub gönnen, trifft sich die rabiate Rhetorik von Regierung und Boulevard. Damit fördern sie zusammen ein Ressentiment, auf das sich gerade die sogenannten Rechtspopulisten erfolgreich beziehen. Diese gewinnen ihre Anhänger längst nicht mehr nur an den Rändern, sondern aus der Mitte der Gesellschaft. Kein Zufall, dass sie ausgerechnet in jenen Ländern besonders erfolgreich sind, die, wie in Skandinavien, aber auch in Österreich oder den Niederlanden, bislang über einen ausgeprägten Sozialstaat verfügten. Jetzt, wo es nicht mehr viel zu verteilen, aber umso mehr zu verlieren gibt, kündigen sie den alten sozialdemokratischen Konsens und vereinen sich gegen die vermeintlichen Schmarotzer und Parasiten.
Egal, ob sie sich nun als »Freiheitliche«, »Fortschrittliche« oder »Wahre Finnen« bezeichnen – sie alle versprechen den verängstigten Mittelschichten, dass künftig kein Cent mehr an die ökonomischen Verlierer verschwendet wird. Eine Entwicklung, die nicht nur in Europa stattfindet. Eine ihrer derzeit einflussreichsten Varianten findet sich in den USA. Die kompromisslose Forderung der Tea-Party-Vertreter, nur bei der Unterschicht zu sparen, und die Eliten von jeder Beteiligung an der Krise zu verschonen, die sie selbst verursacht haben, wirkt dabei schon fast wie eine Parodie auf den historischen Klassenkampf.
In Europa sehen die linken Parteien und Bewegungen hilflos dabei zu, wie sich die ideologische Deutungshoheit über die Krise nach rechts verschiebt. Es gibt viele Probleme, mit denen sie sich beschäftigen: Die Gentrifizierung im eigenen Kiez, die Soli-Flotte nach Gaza – die fundamentale Krise in Europa gehört offensichtlich nicht dazu. Wie soll man darauf auch reagieren? Einige Zeit galt das »andere Europa« als vermeintlicher Hoffnungsträger einer neuen zivilgesellschaftlichen Bewegung. Nun, da sich die Regierung in Berlin als europäische Ordnungsmacht profiliert, ist davon keine Rede mehr. Doch ebenso wenig können die Protestbewegungen im Süden derzeit mit der Solidarität aus dem Norden rechnen. Ohne politische Veränderungen in den reichen Eurostaaten bleiben die Proteste in Griechenland, Portugal, Spanien und Italien vermutlich wirkungslos. Diesen Ländern droht die dauerhaft ökonomische und soziale Deklassierung.

Bislang haben die Gewinner der Krise noch das Privileg, dass sich das von ihnen mitproduzierte Elend vornehmlich in den Abendnachrichten abspielt. Der Ruin ganzer Regionen, die bis vor kurzem noch zu den bevorzugten Absatzmärkten deutscher Waren zählten, bleibt jedoch nicht ohne Folgen. Vieles spricht dafür, dass das neue deutsche Wirtschaftswunder schon bald vorbei ist. Und einiges deutet darauf hin, dass die Chauvinisten dann die weitere Entwicklung dominieren könnten. Anders ist das schon manische deutsche Bestreben, eine Transferunion in Europa zu verhindern, nicht zu verstehen. Ein radikaler Schuldenschnitt sowie eine Angleichung der Sozial- und Tarifsysteme könnten vielleicht die krassen ökonomischen Diskrepanzen in Europa zumindest mildern. Doch davon will man in Berlin, Wien oder Helsinki nichts wissen.
Da aber die aktuelle Krisenstrategie ebenfalls nicht funktioniert, bleibt offen, wie es weitergeht. Das Schuldenproblem ist offensichtlich auch für die politische Klasse nicht regulierbar. Man müsse jetzt sehen, wie die Märkte reagieren, erklärte Angela Merkel nach den Beschlüssen auf dem jüngsten EU-Sondergipfel. Niemand wisse, wohin sie tendieren werden. Das Kapital ist schließlich, wie ja immer wieder gerne paraphrasiert wird, »ein scheues Reh«. Und wenn die Panik weiter um sich greift, dann hilft womöglich selbst ein Oberkontrolleur wie Horst Reichenbach nicht mehr weiter.