Eine Internetkampagne gegen Frauenfeindlichkeit in der Türkei

Die Defne-Revolution

Mit einer Internetkampagne wehrt sich die türkische Journalistin Vivet Kanetti gegen die Diffamierung einer unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommenen Berufskollegin.

Defne Joy Foster hätte sich sicher nie träumen lassen, Namensgeberin einer sozialen Bewegung in der Türkei zu werden. Die junge Frau war in der Medienbranche tätig. Sie arbeitete als DJ, moderierte Musiksendungen und war als Darstellerin in TV-Serien tätig. Im Fernsehen wirkte sie stets selbstsicher und lebhaft. Auf den letzten Fotos, die es von ihr gibt, sieht man eine glückliche Mutter, die ihren kleinen Sohn an sich drückt.
Was genau in der Nacht zum 2. Februar dieses Jahres passiert ist, konnte bislang nicht eindeutig geklärt werden. Fest steht: Gegen drei Uhr morgens rief der Journalist Kerem Altan einen Krankenwagen zu seiner Wohnung im Stadtteil Caddebostan im asiatischen Teil Istanbuls. Doch Defne Joy Foster konnte niemand mehr helfen, die 32jährige war bereits tot, als der Notarzt eintraf. Als Todesursache wurde schnell ein Asthma-Anfall festgestellt. Warum das Asthmaspray der jungen Frau allerdings unbenutzt in ihrer Tasche lag, ist immer noch unklar. In ihrem Blut wurden Spuren von Alkohol nachgewiesen. Foster war zuvor mit Freunden im Istanbuler Nachtleben unterwegs gewesen.
Die Nachricht vom Tod der Prominenten löste bei ihren Fans spontane Trauer- und Sympathiebekundungen im Internet aus. Zwei Tage nach Bekanntwerden ihres Todes veröffentlichte der bekannte Kolumnist Hıncal Uluç in der auflagenstarken Tageszeitung Sabah einen hetzerischen Kommentar. Uluç ist der Onkel des jungen Journalisten Kerem Altan, in dessen Wohnung die Frau tot aufgefunden worden war. In seiner Kolumne gab er intime Informationen preis. Aus dem Familienumfeld habe er erfahren, Kerem habe die junge Frau am Abend in einer Bar kennengelernt, sie seien beide betrunken gewesen, und so habe er sie mit nach Hause genommen. Es folgen moralisierende Betrachtungen zum Verlust der »wahren Liebe«. Die einzig Schuldige am Tod Defne Joy Fosters war nach dieser Auffassung sie selbst. Was habe eine verheiratete Frau und Mutter in der Wohnung eines unverheirateten Mannes zu suchen, fragte Uluç. Sie sei nicht Opfer ihrer Asthma-Erkrankung, sondern ihres unpassenden Lebensstils geworden. Die Kolumne schloss mit dem Sprichwort: »Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht.« Mit anderen Worten: Die Schlampe hat es nicht besser verdient.
Die Journalistin Vivet Kanetti las wie viele andere Leser in der Türkei mit Befremden dieses scheinheilige, von Doppelmoral triefende Pamphlet und teilte auf Twitter ihre Empörung darüber mit. »Es war, als hätte ich einen Knopf gedrückt«, erinnert sie sich. »Plötzlich bekam ich Mitteilungen aus der ganzen Türkei. Ich saß fast die ganze Nacht am Rechner und kommunizierte mit Islamisch-Konservativen aus Bursa, Anarchisten aus Ankara, Hausfrauen, Arbeitern, Kollegen. Ganz egal, welcher ideologischen Richtung sie folgten und welche soziale Stellung sie hatten, alle, die bei diesem spontanen Chat dabei waren, waren sich einig: Hier war eine Grenze überschritten worden.« Eine Woche lang schrieben die Leute ununterbrochen, eine Lawine war losgetreten worden. In den Postings wird deutlich, dass die Leute die polemische Macht bestimmter Medien in der Türkei leid sind. Kanetti verfasste eine Internetpetition und veröffentlichte sie sowohl auf Türkisch als auch auf Englisch auf Facebook und Twitter: »Die Defne-Revolution«, auf Türkisch: »Defne devrimi«. Darin heißt es: »Soziale Medien sind unser neues Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Sie haben Menschen mit unterschiedlichen politischen Sichtweisen zusammengebracht und geben uns die Möglichkeit, zusammen aktiv zu werden. Wir sind gegen Frauenfeindlichkeit, gegen Rassismus und gegen jede Form von Diskriminierung und Ungleichheit.«
Shelale Kadak arbeitet wie Hıncal Uluç als Kolumnistin für die regierungsnahe Tageszeitung Sabah. Sie hat die Petition mitunterschrieben. Die Journalistin ist etwa im gleichen Alter wie Defne Joy Foster und hat ebenfalls einen kleinen Sohn. Ihr Fachgebiet ist Wirtschaft. Häufig schreibt sie über die hegemonialen Strukturen der globalisierten Weltwirtschaft. »Diese junge Frau hat ihr Leben verloren«, meint sie ernst. »Auch im Islam gibt es ein Gebot, das den Menschen verbietet, schlecht über Tote zu reden. Wir sehen hier die typische Art, wie in der Türkei mit Frauen umgegangen wird. Ein Mann würde nie posthum Opfer einer solchen Schmähkampagne werden.« Shelale Kadak gehört mittlerweise selbst zu den Aktivistinnen der »Defne-Revolution« und verfolgt auch am Arbeitsplatz die Debatten auf Facebook. »Das kollidiert nicht einmal mit meinem Job, denn als Kolumnistin soll ich ja Themen und Trends aufspüren.« Auf der Seite zur Defne-Revolution werden inzwischen Debatten geführt, die über den Fall hinausgehen. Der Prozess gegen die Mörder des armenischen Journalisten Hrant Dink ist dort ebenso Thema wie die Hungersnot in Somalia. »Uns ist wichtig, neue Diskurs- und Solidaritätsformen zu schaffen, an denen jeder teilnehmen kann.« so Kardak. Die Defne-Seite im Internet wendet sich jedoch vor allem gegen Diskriminierung in den türkischen Medien. »Defne Joy Foster wurde öffentlich verurteilt, weil sie eine Frau ist«, betont Vivet Kanetti.
Kanetti stammt aus der sephardisch-jüdischen Familie des Schriftstellers Elias Canetti, die bis zum Ersten Weltkrieg in Bulgarien lebte. Ein Teil der Familie wanderte nach Westeuropa aus, Vivets Vater ließ sich in Istanbul nieder. Aus dem »C« im Nachnamen, das aus der Sprache der sephardischen Juden, dem Ladino, stammt, wurde das türkische »K«. Wie der berühmte Großonkel Elias ist auch Vivet Kanetti Schriftstellerin und außerdem eine einflussreiche Journalistin mit einer eigenen Fernsehsendung in der Türkei. Warum nutzt sie das Internet als Plattform für die Antidiskriminierungskampagne? »Das Internet«, meint sie, »ist für uns momentan das demokratischste Medium. Es ist nicht so schnell zensierbar und viel spontaner.« Fast 9 000 User haben die Petition der Defne-Revolution bislang unterschrieben. Die Familie von Defne Joy Foster, ihr Ehemann und ihre Mutter, haben mittlerweile den Mut aufgebracht, eine Verleumdungsklage gegen Hıncal Uluç einzureichen. Ihr Anwalt Ersan Tastekin hat außerdem Einspruch dagegen erhoben, dass die Akte am 6. Juni mit dem Hinweis, Foster sei eines natürlichen Todes gestorben, geschlossen wurde. Im Rahmen der Ermittlungen der Todesumstände gibt es Ungereimtheiten. Die DNA-Spuren aus der Wohnung zeigen, dass sich neben Foster und Altan noch ein zweiter Mann in der Wohnung befunden hat, dessen Spermien an der Unterwäsche der jungen Frau gefunden wurden. »Kerem Altan wird von seinem Umfeld geschützt«, so Vivet Kanetti, »als Aktion Defne-Revolution unterstützen wir die Familie von Defne Joy Foster. Sie hat ein Recht darauf zu erfahren, was in dieser Wohnung wirklich passiert ist und ob die beiden Männer wegen unterlassener Hilfeleistung oder Schlimmerem angeklagt werden müssen.«