Das Werk der Autorin Gudrún Eva Minervudóttir

Keine Liebesgeschichte

Gudrún Eva Minervudóttir schreibt über Sexpuppen und Magersucht.
Jessica Zeller hat die Autorin getroffen und nach der Einsamkeit der Isländer gefragt.

Der Hringvegur ist die längste und älteste Straße Islands. Sie misst 1 339 Kilometer und führt nahezu um die gesamte Insel. In etwas mehr als 24 Stunden ist man zurück am Ausgangspunkt. »Auf Island kann man einfach nicht weglaufen. Einen Zug nehmen und in ein paar Stunden in einem anderen Land sein: Vergiss es!« Gudrún Eva Minervudóttir klingt etwas frustriert, wenn sie von der Überschaubarkeit ihres Landes spricht. Auch seine Bewohner erscheinen ihr alle gleich: »Ich hasse es, es zuzugeben, aber irgendwie sehen wir uns alle ähnlich. Es gibt kaum Subkultur, und wenn doch, dann sind diese Gruppen sehr klein. Leute, die aus dem Rahmen fallen, haben es hier schwer.« Warum sie immer noch in Island lebt und nicht längst in London, Barcelona oder Berlin? Vor allem wegen ihrer Freunde und der Sprache, die sie liebt und in der sie schreibt.
Die Mittdreißigerin ist einer der Nachwuchsstars der isländischen Literatur und hat bereits sieben Bücher veröffentlicht. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse wurde ihr bereits 2008 auf Isländisch erschienener Roman »Der Schöpfer« ins Deutsche übersetzt und im Berliner Taschenbuchverlag veröffentlicht.
Protagonist des Buches ist Sveinn, ein Mann im selben Alter wie die Autorin, der die brotlose Kunst an den Nagel gehängt hat, um stattdessen lebensgroße Sexpuppen aus Silikon herzustellen. »Damals war ich für ein Autorenstipendium in Paris. In dem Zimmer, wo ich übernachtet habe, fand ich zufällig eine Modezeitschrift, die wohl jemand vergessen hatte. Darin enthalten war eine Reportage über eine Sexpuppenmanufaktur. Ich habe mich gefragt: Wer braucht diese Puppen und was sind das für Menschen, die sie herstellen?«, beschreibt Minervudóttir die Entstehungsgeschichte ihres Romans.
Für Sveinn sind Geld und Anerkennung wichtige Gründe für seine Berufswahl: »Er scheffelte jede Menge Geld, von dem er noch nicht mal wusste, was er damit anfangen sollte.« Doch es ist nicht nur der wirtschaftliche Erfolg, der Sveinn sein Handwerk immer weiter perfektionieren lässt, indem er rund um die Uhr arbeitet. Sveinn liebt die Puppen und fürchtet die Menschen. Doch dann bricht das echte Leben über ihn herein. Lóa, alleinerziehende Mutter zweier Töchter, landet nach einer Reifenpanne direkt vor seiner Haustür und wie im Film treffen die Hauptpersonen beim Autounfall aufeinander. Auch Lóa ist keineswegs ein einfacher Mensch. In Sveinns Haus angekommen, führt sie zunächst weitschweifige Monologe, betrinkt sich dann mit Rotwein und übernachtet schließlich im Wohnzimmersessel. Am nächsten Morgen entwendet sie »Die Schwarzhaarige«, das neueste Exemplar aus Sveinns Werkstatt, legt es in den Kofferaum ihres inzwischen reparierten Wagens und verschwindet. Sie möchte die Puppe ihrer magersüchtigen Tochter Margrét schenken, »die an Körperablehnung und Lebensablehnung« leidet. »Wenn Margrét die Puppe bei sich hätte, wäre ihre Einsamkeit vielleicht nicht mehr so schmerzhaft«, denkt Lóa.
»Für mich besitzen Sveinn und Lóas Tochter eine große Ähnlichkeit«, erzählt die Autorin über die Charaktere ihres Buches. »Sie möchte sterben, oder wenigstens nicht leben, oder mit irgendjemandem sprechen. Sie wünscht sich die Leere, das Nichts. Sveinn lebt diesen Traum, dieses leere Leben, das bei Margrét nur als Phantasie existiert.«
Einsamkeitsgefühle ist Lóa nicht fremd. Sie arbeitet in der Werbung und fühlt sich nur bei der Arbeit »richtig wach«. Enge Beziehungen zu anderen Menschen hat sie kaum. Ihre Kinder überfordert sie mit ihrer hektischen und bisweilen übergriffigen Art. Es ist ein kluger Schachzug der Autorin, die Erzählstruktur des Romans so anzulegen, dass die Kapitel abwechselnd aus Sveinns und Lóas Perspektive erzählt werden. Da beide oft dieselben Sachverhalte beschreiben, wird die Unterschiedlichkeit ihrer Wahrnehmungen und Handlungsstrategien besonders deutlich. »Ich habe diese Erzählform gewählt, um Brücken zu schaffen. Das ist vielleicht das stärkste Anliegen dieses Buches. Menschen tun selten bewusst etwas Böses. Es ist viel banaler. Meist sind es einfach nur Missverständnisse, die zu Verletzungen führen. Wenn man spricht, sagt man immer etwas anderes, als man tatsächlich meint, und das Gegenüber versteht noch einmal etwas anderes. Kommunikation ist ein fast unmögliches Unterfangen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum jemand Puppen den Menschen vorzieht.«
Die Autorin schreibt atmosphärisch dicht, bleibt dabei stets lakonisch und ist keineswegs herablassend. Als Höhepunkte in Sveinns von Isolation geprägtem Leben muss der Geschlechtsverkehr mit einer seiner Puppen gelten. »Er legte sie rücklings auf die Bettdecke, zog seine Unterhose bis zu den Oberschenkeln runter und schloss die Augen, während er sich bereit machte, in sie einzudringen.« Der Akt entbehrt nicht einer gewissen Komik. Denn selbst der Sex mit einer Puppe bedarf vorbereitender Maßnahmen. Ohne Gleitcreme ist dieses Gegenüber schlicht zu trocken. Zudem ist die Puppe, mit der er intim wird, keineswegs ein fertiges Modell, sondern lediglich ein Rumpf mit Beinen, ist ihm doch die bereits versandfertige »Schwarzhaarige« von Lóa entwendet worden: »Er wollte ihr durchs Haar streichen und sich ein wenig aufrichten, griff aber ins Leere. Wo war er nur mit seinen Gedanken? Es war gelinde gesagt abstoßend, es mit einer zu treiben, die keinen Kopf hatte. Das hatte er noch nie gemacht.«
Im Anschluss an die missglückte Annäherung fühlt sich Sveinn »armselig«. Er setzt sich ins Auto, um die reale Frau zu suchen. Zumindest möchte er wissen, warum Lóa ihn bestohlen hat. Er trifft sie in ihrer Wohnung in heller Aufregung an: Die Puppe ist zwar noch da, aber Margrét ist nach der Schule einfach verschwunden. Sie wollte nicht, wie vereinbart, in eine psychiatrische Klinik, um ihre Magersucht behandeln zu lassen. Hat sie sich womöglich etwas angetan?
Was dann folgt, ist zwar keine romantische Liebesgeschichte, mindestens aber ein gelungenes Roadmovie. In den Tagen zwischen dem hereinbrechenden Frühling und stürmischen Rückfällen in den Winter begeben sich Sveinn und Lóa auf dem Hringvegur auf die Suche nach der verlorenen Tochter.
Am Ende sitzt Lóa am Strand und schaut gedankenverloren aufs Meer, während Sveinn zurück an seine Arbeit geht. Gibt es für beide ein Happy End? Das Urteil der Autorin ist hart: »Ich hoffe nicht, denn Sveinn ist zwar ein netter Typ, aber als Partner völlig ungeeignet.« Doch wenigstens raubt sie dem Leser nicht die letzte Hoffnung. Lóa schickt Sveinn eine SMS. Er versteht sie nicht und schreibt nach einiger Zeit doch zurück. Wie im wirklichen Leben.

Gudrún Eva Minervudóttir: Der Schöpfer. btb, Berlin 2001, 304 Seiten, 19,99 Euro