In Libyen gilt immer noch die Sharia

Viele Frauen und ein Gott

Nach der Befreiung Libyens von Muammar al-Gaddafi steht die Befreiung von der Re­ligion noch aus. Nach wie vor gilt die Sharia als Basis der Rechtsprechung. Islamistische Tendenzen stoßen jedoch nicht nur im Land selbst auf Widerstand.

Militante Islamisten, Rachemorde und eine strikte Auslegung der Sharia – die Nachrichten aus dem befreiten Libyen sind erschreckend. Dass es in Libyen militante Islamisten gibt, ist spätestens seit der Befreiung von Tripolis ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Ehemalige Afghanistan-Kämpfer hatten die libysche Hauptstadt eingenommen. Der Nationale Übergangsrat hatte schon zuvor in seinem Verfassungsentwurf die Sharia als Hauptquelle der Gesetzgebung festgelegt. Für säkular denkende Menschen war das kein gutes Signal, aber noch kein Grund zur Panik. Die Sharia ist in den meisten arabischen Ländern Hautquelle der Gesetzgebung. Die konkrete Auslegung variiert aber stark.
In Libyen scheint die Auslegung eher rückschrittlich zu sein. Drei Tage nach dem Tod Muammar al-Gaddafis erklärte der Übergangsrat Libyen zu einem befreiten Land. Der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats, Mustafa Abd al-Jalil, kündigte dabei vor Zehntausenden Menschen in Bengasi an, die Sharia werde die Grundlage aller Gesetze sein und bestehende, die im Widerspruch zum Islam ständen, würden annulliert. Er sprach sich für die Gründung neuer Banken aus, die islamischem Recht entsprechen. Damit dürften sie keine Zinsen verlangen. Außerdem soll die Polygamie erleichtert werden. »Gott hat über die Revolution und ihren Sieg gewacht«, verkündete er.

Al-Jalil bedient sich schon seit längerem einer deutlich religiösen Rhetorik, die sonst nur islamistische Politiker in der Region verwenden. Er ist aber kein Islamist, sondern war Gaddafis Justizminister. Ali al-Salabi, einer der führenden ­Islamisten Libyens, stellte al-Jalils Führungsanspruch schon im September in Frage und warf ihm und anderen prominenten Säkularen im Übergangsrat Korruption vor.
Tatsächlich hat al-Jalil in Bezug auf die Sharia nur den Status quo bestätigt. Sie gilt schon seit den siebziger Jahren als Quelle der Rechtsprechung. Das stand nicht in der Verfassung, da Gaddafi diese abgeschafft hatte. Laut ihm – und nur seine Meinung war Gesetz – war von Menschen gemachtes Recht ein Übel, die Religion sollte die alleinige Quelle der Gesetzgebung sein. Unter König Idriss hatte es neben der zivilen Rechtsprechung noch die unter osmanischer Herrschaft eingeführten religiösen Gerichte gegeben. Da nach Gaddafis Willen die gesamte Rechtsprechung religiös begründet sein sollte, schaffte er das zweigleisige System ab und ließ die gesonderten islamischen Gerichte schließen – damit nahm er islamischen Gelehrten ein wichtiges Einflussinstrument.

Gaddafi verbot Alkohol und Glücksspiel und führte »Huddud«, körperliche Strafen, ein, etwa das Handabhacken bei Dieben. Sie wurden jedoch selten ausgeführt. Die Banken durften seit 1975 keine Zinsen mehr verlangen. Sie taten es trotzdem und Gaddafi ließ sie gewähren, da der Bankensektor in dem Erdöl-Boomland zu wichtig war, um für Experimente herzuhalten. Daran hat sich im von Gaddafi befreiten Libyen nichts geändert. Faktisch war die Jamahirya, wie Gaddafi sein System taufte, ein islamistischer Staat. Das Erstarken der Islamisten und islamistischer Positionen hat deshalb vollkommen andere Ursachen als in Tunesien und Ägypten.
Wenn Yassin Musharbash auf Spiegel Online in Bezug auf Tunesien, Libyen und Ägypten behauptet, es dränge »an die Oberfläche, was allzu lange brutal unterdrückt worden ist: das Bewusstsein großer Teile dieser Gesellschaften, eine muslimische Identität zu besitzen«, hat er damit Unrecht. In Libyen hat Gaddafi diese islamische Identität so hoch gehalten wie die Regimes in Saudi Arabien und im Iran. Ebenso falsch liegt, wer einen Rückfall in den Islam behauptet. Aus den Erklärungen des Nationalen Übergangsrats lässt sich nichts weiter ablesen als ein Verharren im alten Verhältnis zum Islam.
Nur in einem Punkt will al-Jalil die Sharia strikter auslegen, als es Gaddafi tat: in der Frage der Polygamie. Gaddafi hatte bestimmt, dass die Zustimmung der Frau notwendig sei, wenn der Mann eine zweite Frau heiratet. Auch musste eine Begründung für eine zweite Heirat geliefert werden. Beides will al-Jalil abschaffen. Es ist ein Zugeständnis an die Islamisten, auf Kosten der libyschen Frauen, die die Revolte entschieden beeinflusst haben.
Der Übergangsrat fürchtet sich vor den Islamisten, die in Libyen deutlich fanatischer sind als in den umliegenden Ländern. Da unter Gaddafi keinerlei politische Aktivität erlaubt war und er sogar die Prediger der Moscheen aussuchte, wurden Anhänger anderer Auslegungen des Islams in die Illegalität gezwungen. Viele ließen sich als Kämpfer im von der Sowjetunion besetzten Afghanistan anheuern. In den neunziger Jahren kämpften sie gegen das Gaddafi-Regime und wurden brutal niedergeschlagen. Dass dieselben Menschen nun geläuterte Demokraten sein sollen, erscheint nicht wahrscheinlich. In erster Linie sind sie Kämpfer, die gelernt haben, ihre Ziele im Untergrund und mit Gewalt zu verfolgen.
Doch diese Jihadisten vertreten nicht die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung. 96 Prozent der Libyerinnen und Libyer wünschen sich einen demokratischen, zivilen Staat auf Grundlage der Menschenrechte, fand die Garyounis Universität in Bengasi heraus. Die wütenden Reaktionen libyscher Frauen auf al-Jalils Äußerungen zur Polygamie zeigen, dass sich eine offene Diskussionskultur entwickelt, in der die Gemäßigten eine mächtige Stimme haben.

Im Wahlkampf könnten die Islamisten allerdings ihre Geldquellen nutzen. Bekannt ist, dass Saudi-Arabien die Islamisten unterstützt. Auch der Iran wird Geld geben, schon allein, weil er ein Interesse am Kampf gegen den »arabischen Frühling« hat. In diesen Machtkampf werden sicher auch die Nato-Staaten eingreifen. Der Übergangsrat scheint geradezu darauf zu hoffen. Darauf deutet die Bitte an die Nato hin, noch bis Ende des Jahres im Land zu bleiben. Das Mandat des UN-Sicherheitsrats, die Zivilbevölkerung zu schützen, kann allerdings nicht dafür genutzt werden, angesichts eines drohenden Bürgerkriegs Truppen präventiv im Land zu lassen. Inzwischen stimmte die Nato für ein Ende des Mandats, seit Montag dieser Woche hat sie in Libyen keinen Auftrag mehr.
Das bedeutet nicht, dass ihre Mitglieder keinen Einfluss hätten. Der französische Außenminister Alain Juppé beantwortete al-Jalils Rede ungewöhnlich deutlich: »Wir werden darüber wachen, dass die Werte respektiert werden, die wir an der Seite des libyschen Volkes verteidigt haben: demokra­tischer Wechsel, Respekt menschlichen Lebens, die Gleichheit zwischen Mann und Frau.«
Der türkische Premierminister Erdogan erteilte islamistischen Plänen eine Abfuhr, als er jüngst in Ägypten für einen säkularen Staat nach Vorbild der Türkei plädierte. Auch er will in der Region eine Führungsrolle übernehmen und wird es sich nicht nehmen lassen, in Libyen ein Wörtchen mitzureden.
In dieser Lage scheint es eher unwahrscheinlich, dass der schlimmste Fall eintritt und die Befreiung Libyens nach Art der »iranischen Revolution« entgleist. Binnen 30 Tagen soll in Libyen eine provisorische Regierung gebildet werden. Die in Großbritannien erscheinende, arabische Tageszeitung Ashark al-Awsat hält die Kandidatur des französisch-libyschen Juristen Hadi Schalluf für den Posten des Premierministers für am aussichtsreichsten, obwohl auch zwei einflussreiche Islamisten kandidieren. Schalluf kündigte an, Minister aller politischen Richtungen in sein Kabinett aufzunehmen, wandte sich dabei aber gegen einen Stammesproporz.