Bleibt trotz der Islamisten optimistisch

Rückwärts nimmer

Trotz drohender konfessioneller Bürgerkriege und islamistischer Machtgewinne: Die politischen und sozialen Kämpfe in den arabischen Ländern berechtigen zur Hoffnung.

Der Abgeordnete Sadok Chourou ließ seiner Phantasie freien Lauf. Unter Berufung auf einen Text aus der Zeit des Propheten Mohammed machte der Hinterbänkler der tunesischen Partei Ennahda, die seit den Wahlen vom Oktober mit einer relativen Mehrheit ausgestattet ist und in einer Koalition regiert, Vorschläge für die Behandlung von Demonstranten, die Straßen oder Fabriken blockieren. Vom Kreuzigen war da die Rede, auch vom Amputieren und von anderen Hinrichtungsarten. Gegen diese und andere Ausfälle richtete sich am vergangenen Samstag in Tunis eine große Demonstration »für die Freiheiten«.

Äußerungen wie die Chourous sind nicht repräsentativ für die realpolitische Strategie der Regierungspartei Ennahda. Aber die Strategie steht oft unvermittelt neben einer Ideologie, die sich aus vormodernen Denkmustern und über ein Jahrtausend alten Textquellen speist. Ähnlich verhält es sich mit den historischen Vorstellungen von Hamad Jebali, der im Herbst 2011 in einer Rede von einem »sechsten Kalifat« schwärmte – dessen Errichtung er zurzeit nicht ernsthaft anstrebt –, bevor er in die Rolle des bürgerlichen tunesischen Premierministers schlüpfte. Die ideo­logische Scheinwelt, aus der solche Politiker einen Teil ihrer Gedanken beziehen, wird nun mit der politischen und sozialen Wirklichkeit konfrontiert, vergleichbar einer Mumie, die plötzlich der Luft und dem Licht des Tages ausgesetzt ist. Welche Zerfallsprodukte dieser Prozess hervorbringen wird und welche Brüche sich zwischen den der Tagespolitik verpflichteten Fraktionen und den nach ideologischer Reinheit strebenden Kräften auftun werden, bleibt abzuwarten.
Der Prozess wird auf jeden Fall die politische Entwicklung der arabischen Gesellschaften in den nächsten Jahren prägen. Daneben sind aber auch die sozialen Verteilungsfragen und -kämpfe, die sich zum Teil mit den zu erwartenden politischen Auflösungs- und Umgruppierungsprozessen überschneiden werden, von wesentlicher Bedeutung.
Die soziale Frage spielt eine ganz entscheidende Rolle, wenn es darum geht, welche Kräfte mittel- oder längerfristig als »Alternativen zum Bestehenden« gestärkt werden könnten. Das gilt auch für die Frage, ob konfessionelle Konflikte – wie im besetzten Irak vor allem in den schlimmsten Phasen zwischen 2005 und 2007 oder auch im Libanon vor dem Waffenstillstand 1990 – und islamistische Mobilisierungen eher das Bild beherrschen, oder aber eher zivile, soziale und politische Mobilisierungen, unter Beteiligung von Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Menschenrechtsverbänden und Intellektuellen. In einigen Ländern ist die Entscheidung zwischen diesen beiden denkbaren Entwicklungen noch nicht gefallen. In anderen Ländern dagegen deutet die vorhandene Sozialstruktur darauf hin, in welche Richtung die Dinge mit einiger Wahrscheinlichkeit gehen dürften.

In Libyen beispielsweise existiert keine organisierte Arbeiterbewegung, nicht einmal in Ansätzen. Das hatte einerseits mit der Politik des alten Regimes zu tun. Es verbot gesellschaftliche Organisation jeder Art und verfügte selbst nicht einmal über eine Staats- oder Einheitspartei. Seine Hierarchien waren weitgehend informell und basierten auf Verwandtschaftsbeziehungen im engeren und weiteren Sinne. Auf den unteren und mittleren Ebenen des Staates reaktivierte dieses Regime in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder vormoderne, tribalistische Sozialstrukturen, die sich zwar im Prinzip überlebt hatten – die Mehrheit der Libyerinnen und Libyer lebt in Städten und technisch in der Moderne –, doch als politische Organisationsformen immer wieder genutzt wurden. Denn hinter der angeblichen »Staatslosigkeit« in Li­byen, dem vordergründigen Fehlen formaler politischer Hierarchien, verbargen sich auf örtlicher Ebene tribalistische Repräsentationsformen.
Lohnabhängige Arbeit, auch industrielle, gab es in Libyen. Doch sie wurde von einem Millionheer von Migranten, überwiegend aus dem subsaharischen Afrika, verrichtet. Ihre Situation hat sich drastisch verschlechtert. Die Präsenz einiger schwarzer Söldner, etwa der Präsidentengarde des Tschad, in Gaddafis Armee führte während des libyschen Bürgerkriegs im Jahr 2011 zu einer »Söldnerhysterie« und pogromartigen Ausschreitungen gegen diese Migranten. Von ihnen ist daher in naher Zukunft wohl nur geringer Widerstand zu erwarten, zu prekär, zu angsterfüllt ist ihre Lage.
Eine klassenförmige Organisierung derjenigen, die die gesellschaftlich am geringsten geschätzten Tätigkeiten verrichten, ist daher in Libyen nicht in Sicht. Dies hat aber Auswirkungen darauf, wie sich eine Gesellschaft strukturiert. Rivalitäten zwischen über ihre Stammeszugehörigkeit definierten Gruppen, Regionen und Städten prägen die innergesellschaftlichen Widersprüche. Die Rebellion, die das alte Regime im Zusammenspiel mit einer ausländischen Militärintervention stürzte, wurde von miteinander rivalisierenden, bewaffneten Haufen getragen. Als Träger einer mit sozialem Anspruch auftretenden Alternative erscheinen Islamisten. Vor diesem Hintergrund ist für Libyen auf absehbare Zeit wohl eher mit religiös aufgeladenen Konflikten, mit von außen irrational erscheinenden Spannungen und immer wieder mindestens sporadisch aufflammenden bewaffneten Auseinandersetzungen zu rechnen, nicht aber mit Klassenkämpfen oder Kontroversen um politisch-ideologische Werte.

Dabei ist Libyen allerdings eher die negative Ausnahme als die Regel. Auch in den arabischen Golfländern existiert ein Millionenheer von Lohnabhängigen, bzw. im mehr oder minder buchstäblichen Sinne Arbeitssklaven, die den jeweiligen Staatsangehörigen die als schmutzig betrachteten Tätigkeiten abnehmen. Zumindest in einigen Fällen aber fanden eigenständige Mobilisierungen auch dieses multinationalen Industrie- und Dienstleistungsproletariats statt oder spielten eine entscheidende Rolle bei den Revolten. In Bahrain fand unmittelbar vor der Massenbewegung der sozial benachteiligten und politisch unterdrückten, aus Schiiten bestehenden Bevölkerungsmehrheit im Februar 2011, die auch nach ihrer Niederschlagung immer wieder aufflammt, ein Streik von 1300 Arbeitern des Bausektors für höhere Löhne statt. Es handelte sich bei ihnen meistens um Einwanderer aus Südasien. Ihre erfolgreiche Mobilisierung war ein ermutigendes Beispiel für andere Einwohner des Landes.
In anderen Fällen konnten solche Kämpfe des auf der niedrigsten Stufe in der sozialen Hierarchie der Golfgesellschaften stehenden, eingewanderten Proletariats zwar nicht direkt als Anlass für breitere Protestbewegungen dienen, sich aber dennoch neben ihnen entwickeln. Im Sultanat Oman etwa stellen Einwanderer vier Fünftel der Arbeitskräfte im privaten Wirtschaftssektor. Seit Anfang des Jahres fanden zweimal hintereinander Streiks und Demonstrationen dieser oft südasia­tischen Arbeiter statt. Die breite Protestbewegung, die in Oman im vergangenen Jahr auch mit zahlreichen Arbeitskämpfen von der Telekommunikation bis zur Ölindustrie einherging, war zuvor abgeebbt, nachdem die abhängig Beschäftigten große materielle Zugeständnisse erstritten hatten. Es blieben zunächst die Kämpfe von Arbeitslosen, die aber mit der Bekanntgabe der Schaffung von 55 000 Jobs – das ganze Land hat knapp drei Millionen Einwohner – beruhigt werden konnten, und Jugendlichen.
Aus dieser Kombination von politischen Kämpfen, sozialen Mobilisierungen und dem Kampf für Minderheitsforderungen erwächst die Hoffnung. Es wird zweifellos Jahre in Anspruch nehmen, demokratische Mindeststandards durchzusetzen. Die Umwälzung hat begonnen, sie lässt sich nicht rückgängig machen. Es gibt durchaus beunruhigende Entwicklungen. In Syrien beispielsweise ist ein konfessioneller Bürgerkrieg nicht auszuschließen, auf den jedenfalls das Regime zielstrebig hinarbeitet, das seine Kader zum Gutteil aus der lange Zeit benachteiligten, religiösen Minderheit der Alawiten rekrutiert.
Rückschläge und negative Entwicklungen drohen also in einigen Ländern. Doch dies stellt die Gesamtentwicklung nicht derart in Frage, dass es gar berechtigt wäre, den alten diktatorischen Führungen nachzutrauern. Denn dass die Gesellschaften konfessionell gespalten und von zahl­losen Konflikten durchzogen sind, ist schließlich der jahrzehntelangen Herrschaft dieser Diktatoren zu verdanken.