Die Gauck-Debatte

Ein rotes Tuch für Kommunisten

Mit Joachim Gauck hat Rot-Grün Deutschland einen Bundespräsidenten beschert, der den Konservativen ganz besonders zusagt.

Norbert Röttgen schmunzelte. Bei der letzten Bundespräsidentenwahl habe es Rot-Grün mit ihrem Kandidaten der Union besonders schwer machen wollen. »Jetzt ist es besonders leicht für uns, für Joachim Gauck zu sein«, sagte der Landesvorsitzende der CDU in Nordrhein-Westfalen am vergangenen Samstag verschmitzt. Mehr als zwei Stunden lang hatte der schwarz-gelb-rot-grüne Einheitskandidat für das Bundespräsidentenamt zuvor den nordrhein-westfälischen Christdemokraten Rede und Antwort gestanden. Danach erkoren auch sie Gauck zu ihrem »Präsidenten der Herzen«. Er habe »wirklich Eindruck gemacht«, schwärmte Röttgen von dem »absolut starken, überzeugenden Auftritt«.
Die Union macht ihren Frieden mit dem Bundespräsidenten in spe, dessen Nominierung ihr von einer ungewohnten Allianz aus SPD, Grünen und FDP am Karnevalssonntag aufgenötigt worden ist. Während sich der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler noch darüber freut, wie er Angela Merkel übertölpelt hat, erkennen immer mehr Unionspolitiker, was für ein Glücksfall ihnen zugestoßen ist. Was solle er eigentlich gegen einen Mann einwenden, der zu Hartz IV stehe, gegen den EU-Beitritt der Türkei sei und »für Thilo Sarrazin auch ein gutes Wort gefunden hat«, jubilierte Edmund Stoiber auf dem politischen Aschermittwoch der CSU in Passau. Mit Gauck bekäme die Republik einen Präsidenten, »der viel konservativer sein dürfte als seine Vorgänger«, konstatierte zufrieden der Bonner Politikwissenschaftler und frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Gerd Langguth. Merkel könne »zufrieden sein, denn sie hat aus einer vermeintlichen Niederlage vielleicht sogar einen Sieg gemacht«.

Es hätte für die Kanzlerin tatsächlich schlimmer kommen können – etwa wenn ihre eigene Rechnung aufgegangen wäre. Als sie am Tag des Rücktritts von Christian Wulff Grüne und SPD einlud, um gemeinsam mit der Regierungskoalition einen »Konsenskandidaten« für die Nachfolge zu finden, hatte sie sich Personen zurechtgelegt, die allesamt von SPD und Grünen nur schwer abzulehnen gewesen wären: den auf Vorschlag der SPD zum Verfassungsrichter gewählten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, den ebenfalls der SPD nahestehenden ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Wolfgang Huber, sowie den von den Grünen geschätzten früheren CDU-Umweltminister Klaus Töpfer. Doch zuerst lehnte Voßkuhle dankend ab, anschließend blockierte die FDP sowohl Huber als auch Töpfer. Mit großem Getöse sprach sich die Partei plötzlich für den eher pro forma von Rot-Grün im Rennen gehaltenen Gauck aus. So wurde jemand gekürt, den Merkel eigentlich nicht wolle, um den Eindruck zu vermeiden, sie habe mit ihrem Wunschkandidaten Wulff vor zwei Jahren eine Fehlentscheidung getroffen.
SPD und Grünen könnte ihr vermeintlich genialer Schachzug noch übel aufstoßen. Fassungslos fragt der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter, ob es ihnen gleichgültig sei, wenn künftig von einem Bundespräsidenten »Tadel über fehlgeleitete 68er, linksliberale Diktaturapologeten, Phantasten der Ostpolitik, über den Frevel jeglicher Sozialismusvorstellungen und mögliche Koalitionen mit ›Linken‹ anzuhören sind«. Im »Gestus des auserwählten Freiheitskünders« repetiere Gauck »die Botschaften des alten, klassisch konservativ-liberalen Bürgertums der fünfziger bis siebziger Jahre«. Niemand sonst aus der Reihe der Symposiums- und Akademieeliten habe sich in jüngster Zeit »so herablassend über Bürgerproteste aller Art ausgelassen wie er«, schreibt Walter. Kaum jemand habe »die Ursachen für die Sozialproteste so wenig begriffen«.
Die ostdeutschen »Herbstrevolutionäre« der Umbruchzeit von 1989 hätten »vom Paradies geträumt und wachten in Nordrhein-Westfalen auf«, sagte der Theologe 1999 anlässlich des zehnten Jahrestags des Mauerfalls im Bundestag. Doch er selbst begehrte nie mehr als die Einverleibung des ihm verhassten »Arbeiter- undBauernstaats« durch die BRD. Ein »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, von dem so viele Dissidenten geträumt hatten, war dem Rostocker Pfarrer stets ein Gräuel. Sein Freiheitsbegriff ist ein eingeschränkter, was sich auch darin zeigt, dass er die Überwachung der Linkspartei durch den Verfassungsschutz befürwortet – sein Problem ist also nicht Überwachung an sich, sondern nur, dass in der DDR die Falschen bespitzelt wurden. Vor allem aber ignoriert der Apostel der Marktwirtschaft, dass auch die ökonomischen Verhältnisse Menschen in Unfreiheit halten können. »Von daher gesehen wirkt das Freiheitspathos Gaucks heute wie ein verspäteter Fanfarenstoß des Ultraliberalismus«, stellte Christian Semler zutreffend in der Taz fest.

Gauck sei »kein Vater der protestantischen Revolution, sondern er gehört zu denen, die sie beendet haben«, bemerkte der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche. »Endlich ist Gauck dort angekommen, wo er schon immer hin wollte – im konservativen Teil der westlichen Gesellschaft«, schrieb der 82jährige Grüne vergangene Woche im Freitag. Deswegen sei Gauck auch »die falsche Person« für das Amt. Aber innerhalb seiner Partei ist Tschiche mit seiner Auffassung in der Minderheit. Die grüne Führung, die 2010 gemeinsam mit der SPD Gauck als Konkurrenten Wulffs aufgestellt hatte, will nicht zugeben, dass sie sich mit ihren taktischem Manöver vertan hat, und redet nun ihre Personalentscheidung schön. »Wir haben Frau Merkel nach der Abschaffung der Wehrpflicht, nach dem Atomausstieg auch in der Frage des Bundespräsidenten unsere Position aufgezwungen«, prahlte ihr Cheftaktiker Jürgen Trittin in einem Interview mit der Taz.
Auf kritische Töne reagiert der Fraktionsvorsitzende der Grünen, dessen Idee der Coup vor zwei Jahren war, höchst gereizt. Das bekam ausgerechnet die Chefredakteurin der Taz, Ines Pohl, vergangene Woche zu spüren. Sie solle sich »für Ihre Zeitung« entschuldigen, forderte Trittin in der ZDF-Talkshow »Maybrit Illner«. Anlass für Trittins Attacke war ein Text, in dem der Taz-Redakteur Deniz Yücel Gauck vorwarf, er betreibe »eine Verharmlosung des Holocausts«. Als Beleg führte ­Yücel einen Vortrag Gaucks aus dem Jahr 2006 an. Darin beklagte Gauck »eine Tendenz der Entwelt­lichung des Holocausts«, die dann stattfinde, »wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht« werde. Indem Gauck von einer »Überhöhung« des Holocausts zu einer quasireligiösen Instanz spräche, »spricht er der Shoah die Singularität als ebenso wahnhaften wie systematischen Massenmord an Millionen Juden ab«, kritisierte Yücel, der auch Mitherausgeber der Jungle World ist.
Es sei ungeheuerlich, Gauck derartiges vorzuwerfen, polterte Trittin in der Talkshow. Schließlich sei der künftige Bundespräsident Vorsitzender des Vereins »Gegen Vergessen – Für Demokratie«. Und dessen Zweck sei die »Aufarbeitung und Bewahrung des Vermächtnisses des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur, zur Aufklärung über den Ursprung des Nationalsozialismus und des Faschismus und ihrer Strukturen sowie zur Darstellung der Opposition, des Widerstands, der Verfolgung und des Exils der Gegner des NS-Regimes«, las der grüne Spitzenpolitiker vor. »Dem Vorsitzenden dieses Vereins Verharmlosung des Holocausts vorzuwerfen, das ist wirklich, auf Deutsch gesagt, Schweinejournalismus«, wies er die irritierte Pohl zurecht.

Trittin zitierte dabei zwar richtig, aber unvollständig. Er vergaß den zweiten Zweck des Vereins. Gegründet wurde dieser laut Satzung auch »zur Darstellung der Opposition, des Widerstands und der Verfolgung im kommunistischen System durch Aufklärung über die Entwicklung des Kommunismus«. In totalitarismustheoretischer Manier bezeichnet der Verein auf seiner Homepage »die Stärkung der Demokratie in Deutschland und die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen sowie dem Unrecht des SED-Regimes« als Ziel. Damit taugt der Verein schlecht als Kronzeuge gegen Yücels Behauptung, dass Gauck den Holocaust relativiere – im Gegenteil.
Bei Gauck gibt es den Nationalsozialismus nur im Doppelpack mit dem eigentlichen Objekt seines Interesses: dem Kommunismus. Dessen Brandmarkung steht bei ihm im Mittelpunkt, wobei er nicht viel Wert auf Differenzierung legt. Ob stalinistischer Terror oder die poststalinistischen Verhältnisse in der DDR – das ist für ihn höchstens ein gradueller Unterschied. »Zwar erlebten wir in den letzten Jahren vor 1989 einen Kommunismus in der DDR, der nicht mehr mordete und folterte«, konzediert Gauck in seinem Beitrag für das »Schwarzbuch des Kommunismus«, das ändere jedoch grundsätzlich nichts: »Eine nüchterne Betrachtung der politischen Verhältnisse wird dennoch zu einem Urteil gelangen, das den Kommunismus ebenso als totalitär einstuft wie den Nationalsozialismus.«
Die Auseinandersetzung mit dem National­sozialismus besitzt für Gauck keinen eigenen Wert, ja verstellt für ihn eher den Blick auf das eigent­liche Unrecht, das er selbst erlebt hat. »Ich wuchs in einer der vielen Familien auf, die nach dem Krieg die neue Ordnung als despotisch, ungerecht, staatsterroristisch erfuhren«, schreibt er im »Schwarzbuch«. Was er dort nicht erwähnt: Mit dem alten Regime hatte seine Familie weit weniger Probleme. Seine Mutter trat bereits 1932 in die NSDAP ein, sein Vater folgte 1934. Kein Wunder also, dass ihr Sohn »mit einem gut begründeten Antikommunismus aufgewachsen« ist.

Es ist dennoch Gaucks hoch anzurechnendes Verdienst, dass die von ihm mitbegründete und geleitete Behörde für die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit zum ersten Mal in der deutschen Geschichte Spitzelopfern und der interessierten Öffentlichkeit ermöglichte, ein Recht auf Einsicht in die Geheimdienstakten wahrzunehmen. Genau das ist es jedoch, was ihm DDR-Nostalgiker nicht zuletzt in der Linkspartei bis heute verübeln. Angesichts des Hasses, mit dem die SED-Nachfolgepartei seiner Kandidatur begegnet, erscheint manch anderes von ihr gegen Gauck vorgebrachte Argument vorgeschoben.
Dass die Linkspartei nun doch noch das Angebot von Beate Klarsfeld zur Gegenkandidatur angenommen hat, ist trotzdem eine gute Nachricht. Die 73jährige, die einst Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger wegen seiner NSDAP-Vergangenheit eine Ohrfeige verpasste und dafür ins Gefängnis musste, habe »im Gegensatz zu anderen niemals einen Zweifel an der Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit der deutschen Verbrechen gelassen«, sagte der Linkspartei-Vorsitzende Klaus Ernst nach ihrer Nominierung. Damit stellt sie eine Alternative zu Gauck dar, wie man sie sich auch von der SPD oder den Grünen gewünscht hätte.