Der Keynesianismus und die Krise

Die Krise nach den depressiven Dreißigern

In der derzeitigen Wirtschafts- und Finanzkrise erfährt die Theorie des britischen Ökonomen John Maynard Keynes eine Renaissance. Seine Überlegungen basierten auf einer Analyse der Weltwirtschaftskrise von 1929. Trotz vieler Ähnlichkeiten heutiger ökonomischer Probleme mit der Krise von damals stößt der Keynesianismus als Strategie zur Krisenlösung inzwischen aber auf unüberwindbare Hindernisse.

Schon kurz nach dem Anbruch der sich gegenwärtig zur Depression entwickelnden Wirtschafts- und Finanzkrise gab das Bundeswirtschaftsministerium Entwarnung. »Aufgrund der Maßnahmen zur Stabilisierung der Finanzmärkte, der wachstumsgerecht gestalteten Konjunkturprogramme sowie der expansiv ausgerichteten Geldpolitik sind – verglichen mit der Weltwirtschaftskrise – die Aussichten für die weitere Entwicklung deshalb heute ungleich günstiger zu beurteilen«, hieß es in dem Monatsbericht des Ministeriums vom Juni 2009. Die Überschrift des Artikels lautete »Die Weltwirtschaftskrise von 1929: Nicht vergleichbar mit der aktuellen Rezession«. Ganz ähnlich äußerte sich etwa zur gleichen Zeit Christina Romer, die Vorsitzende des Wirtschaftsbeirats des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama. In einem Beitrag zum Thema Konjunkturzyklen beschrieb sie die aktuellen Entwicklungen als lediglich kurzfristige Störungen des Wirtschaftsprozesses, ansonsten sah sie »keinen Grund dafür, warum überhaupt Zyklen auftreten sollten«. Eine Wiederholung der »Great Depression« sei mehr als unwahrscheinlich.

Knapp drei Krisenjahre später wächst die Kritik an dieser Beschwörung der vermeintlichen Stabilität kapitalistischer Akkumulation, wie sie von den meisten Ökonominnen und Ökonomen der Gegenwart praktiziert wird. Einen »Angriff auf den Elfenbeinturm« forderte zuletzt selbst die Zeit. Beispiele für die völlige Unfähigkeit zur Analyse gibt es innerhalb des Wirtschaftwissenschaftsbetriebes viele: etwa das Konzept der »Great Moderation« des Kapitalismus, das der heutige Vorsitzende der US-amerikanischen Notenbank, Ben Bernanke, 2004 vorgestellt hat und demzufolge eine unendliche Stabilität dieses Systems durch die Kontrolle der Inflationsrate erreicht werden soll. Gregory Mankiw, der Autor des mit Abstand meistverkauften Lehrbuchs der Volkswirtschaftslehre und von 2003 bis 2005 Berater von George W. Bush, erklärte das Zeitalter der Krisen gar ganz für beendet.
James Kenneth Galbraith, der Sohn des großen Chronisten der Weltwirtschaftskrise, John Kenneth Galbraith, kam dementsprechend bereits vor der Krise zu dem Schluss, es sei völlig »sinnlos, Diskussionen weiterzuführen, die sich auf die konventionelle Wirtschaftswissenschaft stützen«. Verdeutlicht wurde der desolate Zustand dieses Wissenschaftszweigs, als die britische Königin Elisabeth II. im November 2008 von den selbsternannten Expertinnen und Experten der London School of Economics Rechenschaft verlangte. Erst acht Monate später waren die Ökonominnen und Ökonomen in der Lage, die Frage zu beantworten, warum niemand von ihnen die Krise vorausgesehen hatte. Das dreiseitige Antwortschreiben gipfelte in der Aussage, es habe sich um »ein Versagen der kollektiven Vorstellungskraft vieler kluger Menschen« gehandelt.
Angesichts dieser offensichtlichen Orientierungslosigkeit finden Anhängerinnen und Anhänger eines linken Keynesianismus mehr Gehör. Sie eint zunächst der stete Vergleich der aktuellen Entwicklungen und ihrer Ursachen mit denen von 1929. Heiner Flassbeck, unter Oskar Lafontaine 1998 und 1999 Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und seit 2000 Chefvolkswirt der Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD), spricht von einer »fast perfekten Parallele zur Weltwirtschaftskrise in den Jahren 1929/30«. Max Otte, der als einer von wenigen die Krise bereits vor ihrem Ausbruch in seinem Buch »Der Crash kommt« vorausgesagt hatte, findet die Parallelen »fast schon beängstigend«. Ähnlich äußert sich auch Yanis Varoufakis, der vielleicht prominenteste Vertreter dieser Schule, in seinem gerade erschienenen Buch »Der globale Minotaurus«. »Die Welt hat sich gerade auf eine Weise in Erstaunen versetzt, die es seit 1929 nicht mehr gegeben hatte«, schreibt er.

Tatsächlich scheinen die Ähnlichkeiten zwischen beiden Krisen so auffällig zu sein, dass man sie kaum leugnen kann. Die fünf Hauptursachen der Weltwirtschaftskrise von 1929, die John Kenneth Galbraith in seinem Buch »The Great Crash, 1929« identifiziert hatte, sind gegenwärtig wieder zu finden: zunächst die immer weiter auseinanderdriftende »ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung«. In den USA, dem Ausgangspunkt der beiden großen Krisen des industriellen Kapitalismus, betrug der Einkommensanteil der reichsten fünf Prozent der Bevölkerung 1929 und auch 2007 mehr als ein Drittel des Gesamteinkommens – ein Rekordwert. Bei der Vermögensverteilung wird die Ungleichheit noch deutlicher. In den USA gehören den reichsten 20 Prozent der Bevölkerung etwa 85 Prozent aller Vermögenswerte, in der Bundesrepublik immerhin 80 Prozent. Hier finden sich die gigantischen Summen überakkumulierten Kapitals, für das vor den beiden Krisen, sowohl Ende der zwanziger Jahre als auch in den vergangenen Jahrzehnten, keine produktiven Anlagemöglichkeiten gefunden werden konnten und das stattdessen in immer neue spekulative Finanzprodukte investiert wurde. Schließlich verflüchtigte sich dieses Kapital, als die Spekulationsblasen platzten.
Noch deutlicher sind die Ähnlichkeiten bei der zweiten Ursache, der unzureichenden Kapital­deckung. Sowohl private Finanz- und Investmenttrusts als auch Banken, die Derivate spekulativ aufblähten – die 2007 immerhin den siebenfachen Gesamtwert des Weltsozialprodukts besaßen –, verfügten über keine ausreichende Absicherung durch Eigenkapital. Hinzu kommt, dass die Ungleichgewichte in den Außenhandelsbilanzen immer größer wurden. In den USA lag das Außenhandelsdefizit in den vergangenen Jahren stabil bei über 800 Milliarden US-Dollar, während vor allem in Deutschland und China die Überschüsse weiter stiegen – eine Umkehrung der Verhältnisse der zwanziger Jahre. Die Schulden durch die Ausgabe von Staatsanleihen auszugleichen, war schon damals problematisch. Galbraith hatte schließlich noch auf den subjektiven Faktor verwiesen: Die Unfähigkeit der »Wirtschaftstheologie« (Galbraith) zu langfristigen und rationalen Analysen habe die Auswirkungen der Krise nur immer weiter verschärft.

Der britische Ökonom John Maynard Keynes empfahl damals eine sogenannte Defizitfinanzierung: Der Staat solle sich weiter verschulden und mit öffentlichen Aufträgen die Nachfrage anregen, um der Rezession zu entkommen. Die heutigen Keyne­sianerinnen und Keynesianer stehen allerdings nicht mehr Vertreterinnen und Vertretern einer Deflationspolitik oder Marktradikalen vom Schlage eines Herbert Hoover gegenüber. Vielmehr haben auch öffentliche Konjunkturprogramme, die Verstaatlichung von Banken und die starke Senkung der Leitzinsen die Krise nicht eindämmen können. Zwar sind die Kontraktionen des Welthandels aufgrund dieser Maßnahmen bisher weniger stark als damals – zwischen 1929 und 1932 schrumpfte der Welthandel auf fast ein Drittel seines Volumens vor der Krise, während es zwischen 2008 und 2011 lediglich um elf Prozent zurückging –, doch dafür ist ein Ende der Rezession noch lange nicht in Sicht.
Forderungen wie etwa die des Wirtschaftsnobelpreisträgers Paul Krugman nach neuen Konjunkturprogrammen oder die Flassbecks nach mehr Regulierung und der Verstaatlichung von Finanzinstituten sind nicht nur längst umgesetzt worden, sondern bewirkten die Sozialisierung der Verluste, was von den Ökonomen sicherlich nicht intendiert war. Erfolgversprechender wirkt dagegen Varoufakis’ Vorschlag zur Etablierung eines »globalen Mechanismus zum Überschussrecy­cling«, einer internationalen Steuer für Länder, die Überschüsse erwirtschaften. Die Einnahmen könnten dann als Entwicklungszuschuss an die Defizitländer fließen. Die Idee geht auf Keynes’ Vorschlag der Bildung einer »International Clearing Union« zurück, einer Art globaler Bank. Auf der Konferenz von Bretton Woods 1944 lehnten die USA diesen Vorschlag ab, da sie damals noch Überschüsse erwirtschafteten, zurzeit wäre eine Akzeptanz durch Deutschland und China ebenso unwahrscheinlich.

Es sind aber weniger reine Machtverhältnisse, die die Rettung der Verwertbarkeit des Kapitals durch eine staatliche Stützungspolitik wie nach 1945 verhindern. In der Nachkriegsepoche konnten zunächst noch Absatzgebiete nach innen und außen erschlossen werden, heute sind die Gesellschaften längst vollständig und global der Warenförmigkeit unterworfen. Wegen der Überkapazitäten in allen wichtigen Branchen und des beständigen Sinkens der Profitraten des produzierenden Gewerbes wird es außerdem weiterhin schwierig sein, das eingesetzte Kapital rentabel zu verwerten, wie auch Robert Brenner in seinem Buch »The Economics of Global Turbulence« überzeugend nachgewiesen hat.
Das zentrale Hindernis für die Überwindung der Akkumulationskrise stellt aber die schwindende finanzielle Handlungsfähigkeit der Staaten selbst dar. Als die USA 1971 beschlossen, das Bretton-Woods-System aufzukündigen, betrugen ihre Schulden weniger als 38 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Mittlerweile liegen sie bei über 100 Prozent des BIP, in den meisten anderen OECD-Ländern sind die Raten weitaus höher. Konnte der beständige Rückgriff auf Konjunkturanreize seitens des Staates immerhin noch Prosperität zum Preis einer wachsenden Verschuldung vorgaukeln, könnte die Staatsschuldenkrise auch diesem Trugbild endgültig den Garaus machen. Der Marxist Paul Mattick Jr. kommt in seinem gerade übersetzten Buch »Business as Usual« zu dem Fazit, dass auch »die Verfechter massiver key­nesianischer Konjunkturprogramme keine wirkliche Antwort mehr« hätten. Sich die Wirklichkeit einfach zurechtzubiegen, wie es das Bundeswirtschaftsministerium gerne tut, ist da auch nicht schlimmer.