Der Bürger ist zurück

Dawn of the Dead

In Deutschland hat es den Bürger seit je nur als Phantom gegeben. Deshalb folgten die Versuche, ihn auszutreiben, meist einer Logik des Wahns. Nachdem er lange besiegt schien, kehrt er nun als Zombie der Zivilgesellschaft zurück.

Der Menschen Sehnsüchte sind vielfältig. Die einen wünschen sich ein Häuschen mit Garten, die anderen Sex in der öffentlichen Grünanlage. Manche wollen sich finden, andere sich verlieren. Einige schützen gesellschaftliche Mindeststandards, andere den Juchtenkäfer. Joachim Gauck hat in seiner Antrittsrede als Bundespräsident verraten, was er schon immer am liebsten tun wollte: Bürger sein. Aus seinem Mund klingt das wie ein vormals als pervers verfemter Wunsch, den er nach langer Arbeit an sich selbst nun endlich öffentlich ausleben kann: Ich bin Bürger, und das ist auch gut so. Tatsächlich führt Gaucks Begriff des Bürgertums bei näherer Betrachtung in die Nähe der Folterkeller des Marquis de Sade, jenes Aristokraten, der als radikaler Aufklärer das seiner selbst innewerdende Bürgertum mit der Gewalt konfrontierte, welche die bürgerliche Subjektivität ermöglichte und von ihr verewigt wurde. Dass man sich selbst bezwingen muss, um aus der Bezwingung der Mitmenschen, zu der die Welt einen verdammt, wenn man überleben will, die Lust zu ziehen, die das Leben einem versagt, ist die erste Lehre im Rigorosum von Justine und Juliette. Keine Lust darf möglich sein, die an Freiheit erinnert, kein Glück, das nicht zugleich Verdienst wäre, keine Hingabe ohne Kalkül. Was das sich zum Repräsentanten der Menschheit verklärende Bürgertum an den Schriften de Sades als abartig und zersetzend verdammte, war sein eigenes Prinzip. De Sades Figuren erschienen ihm als Fratzen, weil es in ihnen die eigene Physiognomie erblickte, rational und unfrei, allmächtig und ohnmächtig, atheistisch und mystisch zugleich.

»Man befreie das Volk von der Furcht vor der zukünftigen Hölle, so wird es sogleich, nachdem sie zerstört ist, allem sich hingeben«, dekretiert de Sades Fürst von Francavilla und erweist sich damit als inwendiger Protestant und Vorgänger moderner evangelischer Pfaffen wie Käßmann oder Gauck. Dass das eine profane Leben das einzige ist, das wir haben, wird dem rigoristischen Bürgertum, dessen Spur sich vom Tugendterror Robespierres bis zu Gaucks deutscher Staatsbürgerkunde verfolgen lässt, vom Glücksversprechen zur Vernichtungsdrohung. Nachdem das Jenseits eingezogen und das Paradies entzaubert worden ist, bleibt das empirische Dasein als der karge Rest zurück, aus dem jeder das Beste machen muss.
Wer ein rigoroser Bürger ist, teilt sich seine Stunden ein wie seinen Kindern das Taschengeld und verzeichnet penibel Verluste und Begünstigungen, damit am Ende des Lebens, das ein einziges Sterben ist, wenigstens die Buchführung stimmt. Jeder Hinscheidende soll sein Leben zurücklassen wie einen aufgeräumten Schreibtisch, alle Rechnungen bezahlt und alle Gewinne versteuert, mit einem Startkapital für den Nachwuchs, der es besser machen soll als man selbst. Man krepiert in denselben geordneten Verhältnissen, in denen man vegetierte und die man den späteren Generationen reinen Gewissens hinterlässt. Das ist das Modell lustvoller Selbstbescheidung, welches das rigoristische Bürgertum dem liberalen mit seinem Primat von Profit und Eigennutz hämisch entgegenhält. Das ist auch Joachim Gaucks Vorstellung von Freiheit, einer Freiheit, welche die Bürger gewordenen Menschen zur schlechten Immanenz verdammt. Weil es keine andere Welt als die vorhandene gebe, müsse man sich mit Haut und Haaren in ihren Dienst stellen und seinen Lustgewinn daraus ziehen, ihre Unentrinnbarkeit auch für die Zukunft sicherzustellen. Gaucks biederer Vorgänger, dessen teurer Bungalow doch die vollendete Verkörperung solch klaustrophobischer Immanenz war, hat das mit der Buchführung nicht ganz kapiert und musste daher geopfert werden. Von seinem Nachfolger ist nicht zu erwarten, dass er so menschlich ist, auch nur ein einziges Mal allein an sich selbst zu denken. Er ist tatsächlich der vollendete Aktivbürger, der restlos Mensch gewordene rigoristische Staat.

Dass dieses Leben das einzige sei, das wir haben, war auch die erste Maxime des liberalen angloamerikanischen Bürgertums, das daraus freilich andere Konsequenzen zog. Aus dem profanen Dasein das Beste zu machen, verstand es als Aufforderung, sich selbst in möglichst kurzer Zeit ökonomisch zumindest so weit Unabhängigkeit zu verschaffen, dass dem Individuum eine private Existenz jenseits der wirtschaftlichen Zwänge und der Verpflichtungen des öffentlichen Lebens möglich wurde. Bürger zu sein, meinte hier nie die Notwendigkeit zum begeisterten Mitmachen und zur restlosen Identifikation mit dem Kollektiv der Staatsagenten, sondern »the right to be let alone«, das Recht, die Tür hinter sich zu schließen und sich von den Menschen zurückzuziehen, an deren geistigem Leben und an deren Freuden man umso glücklicher teilhaben kann, je weniger man sich von ihnen kommandieren lässt.
Der liberale Bürger ist der ökonomisch selbständige Privatier, der sich mit seiner Arbeit eine Freiheit erkauft, die zwar abhängig von Markt und Tausch bleibt und daher prinzipiell jederzeit kassiert werden kann, deren Wert sich jedoch nicht auf die Investition reduzieren lässt, die in ihr steckt. Die Freiheit des liberalen Bürgers ist buchstäblich der Zins auf seine ökonomische Existenz, der als Luxus, Zweckfreiheit oder auch nur Freizeit für ihn abfällt. Der rigoristische Aktivbürger dagegen betrachtet den Privatier ebenso als Schädling wie den Arbeitslosen, der ohne Gegenleistung am Tropf des Staates hängt. Dass man jemals überhaupt etwas nicht für die Gesellschaft, sondern für sich selber tut, ja dass man womöglich arbeitet, um von der Gesellschaft unabhängiger zu werden, vermag der Aktivbürger sich nicht einmal vorzustellen. Alle Arbeit, alles Tun denkt er nach Maßgabe des Ehrenamts. Deshalb wünscht er sich auch keinen »Parteisoldaten« als Bundespräsidenten, sondern einen »echten Menschen«, der sein Amt »lebt«, statt es bloß auszuüben. Kein vernünftiges Individuum also, das zwischen Selbst und sozialer Rolle bei sich und anderen zu unterscheiden vermag, sondern einen Besessenen, der sich und jeden als restlose Verkörperung dessen halluziniert, was er vorstellt.
Der Kollaps des liberalen Bürgertums lässt sich am besten als Psychothriller, die Verwirklichung des Aktivbürgertums, die mit seinem Kollaps zusammenfällt, am besten als Horrorfilm erzählen. Was geschieht, wenn dem liberalen Bürger die Sicherungen durchbrennen, weil seine ökonomische Existenz bedroht ist und seine private erodiert, führt mit bemerkenswerter Konsequenz Joel Schumachers 1993 entstandener Film »Falling Down« vor, in dem Michael Douglas so etwas wie die erste, einstweilen noch beherrschbare Erscheinungsform des Wutbürgers gibt. Einen recht sympathischen und manchmal sogar komischen Wutbürger freilich, dessen Handlungen selbst bei eskalierender Gewalttätigkeit von einer gewissen Rationalität bestimmt bleiben.
Douglas spielt den gerade entlassenen Mitarbeiter einer Rüstungsfirma, dessen Ehe gescheitert ist, der seine Tochter nicht sehen darf und nun nicht nur vor dem privaten, sondern auch dem ökonomischen Ruin steht. Mitten im Stau auf der Autobahn steigt er aus dem Wagen und beginnt den individualistischen Kreuzzug gegen eine Gesellschaft, die nur noch die Karikatur des amerikanischen Ideals darstellt, das er verinnerlicht hat. Im siegreichen Gelegenheitskampf mit einer jugendlichen Latino-Gang bewaffnet er sich und macht im Folgenden mit unhöflichen Fast-Food-Verkäufern ebenso kurzen Prozess wie mit rassistischen und homophoben Waffenhändlern. Er selbst ist kein Rassist oder Protofaschist, sondern ein an der Korruption der eigenen Existenz irre werdender Liberaler, der einen hoffnungslosen und daher terroristischen Kampf um die eigene, längst verlorene Identität führt. Wer ihn nicht wie den Bürger behandelt, der er nicht mehr ist, bekommt es mit ihm zu tun, und da fast keiner das tut, kann fast jeder ihm zum Opfer fallen. Als er das Zuhause aufsucht, das es nicht mehr gibt, um die Familie, die nicht mehr seine ist, von seiner fortdauernden Liebe zu überzeugen, wird er von einem Polizisten erschossen. Die Staatsmacht, die das bürgerliche Recht schützt, liquidiert in treuer Erfüllung ihres Auftrags auch den, der dieses Recht gewaltsam gegen eine Welt durchzusetzen versucht, die es niemandem mehr gewährt.

Das adäquate Genre für die Darstellung des zu sich selbst kommenden Aktivbürgertums, das bürgerliche Individuen nicht einmal mehr als Karikaturen kennt, wäre hingegen der Zombiefilm, für den Joachim Gauck sich gar nicht verkleiden müsste. Anders als die aristokratischen Vampire oder die plebejischen Werwölfe geben die Zombies keiner Klasse den Vorzug, sondern vollziehen die negative Aufhebung der sozialen und intergenerationellen Antagonismen im eigenen Gruppenverband. Wie bei den Protesten gegen »Stuttgart 21« verstehen sich Arbeiter und Kleinbürger, Unternehmer und Rentner, Oma und Enkel bestens, sobald es ans Eingemachte geht, und wenn es mal nichts zu beißen gibt, darf man sich ohne Widerspruch am Gedärm der solidarischen Mitstreiter gütlich tun. Wie die »Occupy«-Aktivisten kennen die Zombies keine vorlauten Anführer, sondern nur das gemeinsame Ziel, verzichten auf lästige sprachliche Artikulation und verständigen sich über Handzeichen und Geräusche, fühlen sich im Pulk am wohlsten und dulden jeden Freak unter sich, solange er nicht die Bewegung stört. Sie wären die idealen Protagonisten der aktivbürgerlichen Mitmachrevolution, auf deren Morgenröte die Aktivisten diverser »neuer sozialer Bewegungen« in Deutschland seit jeher hoffen und deren vollkommenste Apologeten nicht zufällig »junge Alte« wie Gauck und Geißler sind.
Nachdem sie das Phantom des liberalen Bürgertums, das hierzulande stets eher in gespensterhafter Gestalt existierte, in stolz als »antibürgerlich« oder »alternativ« deklarierten Kampagnen erfolgreich exorziert haben – kein Business Punk, der etwas auf sich hält, bezeichnet sich als bürgerlich –, küren sie ihre Wut, die zu keiner Kritik mehr sublimiert, sondern unmittelbar in Politik umgesetzt werden soll, zum bürgerlichen Affekt auf der Höhe der Zeit. Wohin ihr rigoristisches Engagement sie treibt, hat George A. Romero schon vor Jahrzehnten vor Augen geführt. Das Licht der Freiheit und Gleichheit, von dem ihre Bruderschaft sich leiten lässt, ist die Sonne der Apokalypse.