Die Popularität des Radsports

Vom Rad der Geschichte

Warum die Tour de France und andere Klassiker so populär sind – und bleiben –, beschreibt der niederländische Soziologe Benjo Maso.

Gerade in jenen Zeitungen, in denen es ihrem Selbstverständnis nach kritisch zugeht, ist in den vergangenen Jahren beinahe regelmäßig das Ende, ja gar der Tod des Radsports ausgerufen worden. Manchmal sind es dopende Profis, manchmal böse schreibende Journalisten und manchmal das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das eine Veranstaltung nicht überträgt, die wahlweise als Mörder oder als Totengräber dargestellt werden.
Doch das Peloton rollt weiter, der Profiradsport gehört immer noch zu den beliebtesten Sportarten, und nicht mal der Umstand, dass reihenweise Tour-de-France-Siege aberkannt wurden, mindert die Begeisterung. Kurz gesagt: Wenn die ARD nicht mehr will, dann gucken die Leute halt auf Eurosport, wie sich kräftige, junge Männer den Tourmalet hochquälen.
Der niederländische Soziologe Benjo Maso hat sich die naheliegende Frage gestellt, warum der Radsport eigentlich so beliebt ist und so beliebt bleibt. Sein Buch, das in den Niederlanden seit 2003 als Standardwerk gilt, liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor.
Maso erklärt darin, wie es, nachdem das Fahrrad als massenhaftes Fortbewegungsmittel populär geworden war, dazu kam, dass es zum Sportgerät wurde. Zunächst wurde der Radsport ausgetragen als eine moderne Variante des Pferderennens – wobei selbstverständlich gewettet wurde. Maso zeigt, dass die Fahrradindustrie – wegen der Bedeutung des Velos für die Mobilität, gerade unter den Bedingungen der Industrialisierung – enormes Interesse an der Popularisierung des Radsports hatte, wenngleich nicht am Sport selbst. »Wie wenig Wert die Hersteller dem sportlichen Aspekt des Radsports beimaßen, geht deutlich aus den Rennen hervor, die sie selbst organisierten«, schreibt Maso. »Dazu gehörte zum Beispiel die Course Michelin im Jahr 1892, ein Rennen über 400 Kilometer zwischen Paris und Clermont-Ferrand.« Mit ihr wollte die Firma Michelin einen neu entwickelten austauschbaren Schlauch auf dem Markt einführen. Doch weil das Rennen von einem Fahrer gewonnen wurde, der auf Dunlop-Reifen fuhr, musste sich Michelin etwas einfallen lassen: Der Dunlop-Fahrer wurde disqualifiziert, der Zweitplatzierte zum Sieger erklärt.
Maso beleuchtet auch die Rolle der Fahrer in diesen Machtkämpfen zwischen den Firmen. Von Beginn an waren sie Profis und mussten sich allzu oft gegen Schikanen des Reglements, der Veranstalter und der Firmen, die sie bezahlten, wehren. Daher gründeten sie Fahrergewerkschaften, die aber ob der Konkurrenz unter den Profis meist wenig Erfolg hatten. Doch bis heute greifen Berufsradfahrer häufiger als Profis anderer Sportarten zum proletarischen Mittel des Streiks, um ihre Rechte durchzusetzen oder sich zumindest gegen Zumutungen zu wehren.
Detailliert zeichnet Maso nach, wie große Sporttageszeitungen selbst Rennen organisierten, um mit den exklusiven Informationen, die sie anbieten konnten, Leser an ihr Blatt zu binden. Und schließlich zeigt er, wie sich genau aus dem medialen Zwang, das eigene Produkt ins Gespräch zu bringen, das ergab, was nicht erst seit heute als »Mythos Tour de France« bezeichnet wird. Und wie das Fernsehen dieses mehr als nur verstärkt hat.
Die Frankreich-Rundfahrt der Radprofis, seit 1903 ausgetragen, anfangs von der Zeitung L’Auto veranstaltet, steht im Mittelpunkt von Masos Buch. Dafür gibt es gute Gründe, aber manchmal wird bei ihm die Radsportgeschichte doch zu sehr auf die Tour verkürzt.
Wie L’Auto und sein legendärer Chefredakteuer Henri Desgrange am Mythos arbeiteten, veranschaulicht Maso etwa am Beispiel der Bergetappe. Bis heute hält sich die Legende, erst bei der Tour 1905 seien Bergetappen eingeführt worden. Desgrange selbst hatte im Vorfeld geschrieben: »Keiner von uns weiß, was der Ballon d’Alsace bringen wird.« Der 1 171 Meter hohe Vogesenberg war als Etappenziel in den Tour-Plan aufgenommen worden. »Diese Passage durch die Berge ist die größte Neuerung dieses Jahres. Unsere Angst ist genauso groß wie die der Rennfahrer.« Diese Rhetorik war bloßes Marketing, wie Maso nachweist. Schon bei der Tour 1903 und 1904 hatten die Fahrer Berge überqueren müssen, und schon 1894 hatte es ein Rennen über den Brenner gegeben.
Nicht nur hier wirkt Maso durch seine sehr genaue Arbeitsweise als großer Zertrümmerer von Radsport-, vor allem aber von Tour-Mythen. Etwa zeigt er, dass die berühmte Tour-Legende, wonach Eugène Christophe 1913 seinen Gabelbruch selbst in einer Dorfschmiede reparieren musste, damals von niemandem, schon gar nicht von Henri Desgrange, wahrgenommen wurde. Desgrange war ja selbst für das Reglement verantwortlich, das die Fahrer derart drangsalierte.

Benjo Maso: Der Schweiß der Götter. Covadonga-Verlag, Bielefeld 2011, 287 Seiten, 14,80 Euro