Das Verhältnis islamischer Parteien zur Shari

Kein Staat mit Allah

Die Mehrheit der islamischen Parteien betrachtet die Sharia als einzig gültige Rechtsquelle. So können sie sich nicht ernsthaft von den fundamentalistischen Kräften distanzieren.

Die Vereinigung muslimischer Juristen (AMJA) gilt in den USA als moderate islamische Organisation und gefragte Dialogpartnerin. Sie ist unter anderem für Training und Ausbildung von Imamen zuständig und erlässt auch Fatwas. In einem 2007 veröffentlichten Papier rät sie Muslimen davon ab, sich in der Verwaltung oder Exekutive von Ländern anstellen zu lassen, in denen nicht der Allmächtige, sondern die Menschen für die Gesetzgebung verantwortlich seien. Vor wenigen Wochen legte Vorstandsmitglied Hatem al-Haj allen Muslimas die Beschneidung ihrer Genitalien als »ehrenhaften Akt« wärmstens ans Herz. Das hätte irgendein radikaler Rechtsgelehrter aus Medina nicht deutlicher sagen können.
Da zeigt sich wieder einmal, wie brüchig das im Westen mühsam gepflegte Bild ist, moderate islamische Organisationen unterschieden sich grundlegend von radikalen Salafisten, die Allahs Wort nur missverstünden. Denn wenn islamische Parteien und Vereinigungen die Sharia als einzig gültige Rechtsquelle betrachten und an einer wörtlichen Auslegung der heiligen Texte festhalten, bleibt eine solche Trennung künstlich und bestenfalls Ausdruck politischen Wunschdenkens.

Sicher, viele Muslimbrüder tragen heute Anzüge und keine galabiya, reden über Demokratie und Pluralismus und wirken deshalb seriöser als etwa der ehemalige Junior-Boxer Pierre Vogel aus Mönchengladbach, der sich nun Abu Hamza nennen lässt und sein Haupthaar mit einem Strickmützchen bedeckt. Wenn es um grundlegende programmatische Fragen geht, wird aber aus den gleichen Quellen geschöpft, und für alle gilt: Der Islam ist die Lösung, die Sharia das einzig gültige Gesetz.
Das Programm des Islamismus, also des politischen Islam, ist nämlich so einfach wie rigide: Da der Islam als allumfassendes Herrschafts- und Ordnungssystem verstanden wird, in dem Gott als einziger Souverän ewig gültige Gesetze erlassen hat, müssen die Menschen diese wortgetreu befolgen und exekutieren. Dem Einzelnen ist qua göttlicher Offenbarung ein Mandat erteilt, für das »Gute«, also die Umsetzung dieser Gesetze, zu sorgen, während das »Böse«, also ihre Nichtbefolgung, notfalls auch mit Gewalt bekämpft werden soll. Wer dagegen an Volkssouveränität glaubt, die Autorität von Parlamenten oder die rechtliche Gleichheit von Mann und Frau, Muslim und Nichtmuslim propagiert, verstößt gegen die Offenbarung. Erst wenn die Sharia weltweit einzig gültiges Gesetz ist, wird es auch eine friedliche, gerechte Ordnung geben.
Mit diesem Programm lässt sich durchaus ein islamisch-sunnitischer Staat machen, dieser allerdings sieht aus wie das Emirat Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban. Wenn sich Muslimbrüder zu Parlamentarismus, Konstitutionalismus und Pluralismus bekennen, dann nicht, weil sie den Koran neu interpretiert hätten, sondern weil sie sich auf ihrem Marsch durch die Institutionen gezwungen sehen, meist taktische Zugeständnisse zu machen. Denn die Aussicht, bald in afghanischen Verhältnissen zu leben, fände wohl selbst unter konservativen ägyptischen Wählern kaum eine Mehrheit.

Intellektuelle Verrenkungen müssen keineswegs die Salafisten veranstalten, sondern die Anhänger des Reformislam, die seit Jahrzehnten mit zweifelhaftem Erfolg versuchen, Ideen von demokratischer Rechtsstaatlichkeit mit der islamischen Lehre in Einklang zu bringen. Denn ein Salafist, der rundheraus erklärt, der Islam sei mit Demokratie unvereinbar, hat es fraglos um einiges leichter, seine These mit entsprechenden Stellen aus Koran und den Hadithen zu belegen.
Der sunnitische politische Islamismus befindet sich in einem ausweglosen Dilemma: Da mit Allah und Sharia allein, ein auch nur einigermaßen funktionsfähiger Staat nicht zu haben ist, sehen sich islamische Parteien, die es an die Macht drängt, zu zahllosen Kompromissen gezwungen. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis sie deshalb von den Radikaleren als Abtrünnige und Verräter gebrandmarkt werden. Aus ihrer Binnenlogik haben diese fundamentalistischen Kritiker durchaus recht, schließlich berufen sie sich auf die Vordenker der Bewegung: Sayyid Qutb, Hassan al-Banna und Abul Ala Maududi. Diese erklärten unermüdlich, der Verfall der islamischen Welt sei darauf zurückzuführen, dass Muslime sich heute vom Lebensstil und von der Rechtgläubigkeit der Urgemeinde von Medina entfernt hätten.
Solange der Islam unwidersprochen als die Lösung und die Sharia als einziges Gesetz gelten, verkörpern seine radikalsten Verfechter deshalb auch die Wahrheit über den Islamismus. Es sei denn, man bezeichnet Organisationen wie AMJA ernsthaft als moderate Alternative.