Ein Jahr Protestbewegung in Spanien

Empören verboten

An diesem Wochenende vor einem Jahr entstand die spanische Protestbewegung »15M«. Die Krise in Spanien hat sich seither verschärft. Mit neuen Gesetzen will die Regierung den friedlichen Protest nun kriminalisieren.

»Es wird keine Zeltlager geben, weil das illegal ist.« Der spanische Innenminister Jorge Fernández Díaz ließ keinen Zweifel aufkommen, wie er zur geplanten Wiederbelebung des Aufstands der Indignados, der »Empörten«, in Madrid am kommenden Wochenende steht. Am Samstag will die spanische Protestbewegung »15M«, benannt nach ihrer Entstehung am 15. Mai vergangenen Jahres, mit Massendemonstrationen und Platzbesetzungen ihr einjähriges Jubiläum feiern.
Ohne zentrale Organisation und hauptsächlich über soziale Netzwerke im Internet hatten ab dem 15. Mai 2011 Zehntausende »Empörte« De­mons­trationen abgehalten, Plätze und Straßen besetzt, um »wahre« Demokratie zu fordern. »Democracia Real Ya« (DRY), »15M« und »#spanishrevolution« waren die selbstgewählten Bezeichnungen für die neue Bewegung, die abseits traditioneller Protestformen und in Abgrenzung zu linken Parteien und Gewerkschaften entstanden war. Wochenlang hielten die Protestierenden in vielen Städten zentrale Plätze besetzt, bauten dort Zeltstädte auf und erprobten Selbstorganisation und Basisdemokratie. Aus der Revolution ist bekanntlich nichts geworden, stattdessen gewann im November die rechtskonservative Volkspartei (PP) die vorgezogenen Wahlen. Erwartungsgemäß hat sie die von den spanischen Sozialdemokraten eingeleitete rigide Sparpolitik nochmals verschärft.

Im Haushalt für 2012 sollten bereits 27 Milliarden Euro an Staatsausgaben eingespart werden, zu Ostern verkündete Ministerpräsident Mariano Rajoy dann zusätzliche Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitsetat, die die Ausgaben um weitere zehn Milliarden Euro reduzieren sollen. Der spanischen Wirtschaft hat der rigorose Sparkurs bisher wenig gebracht: Im ersten Quartal des Jahres ist das Bruttoinlandsprodukt zum zweiten Mal in Folge geschrumpft, womit das Land nun auch offiziell in die Rezession gerutscht ist. Die Rating-Agentur Standard & Poor’s hat Spaniens Kreditwürdigkeit zuletzt Ende April um zwei weitere Stufen auf BBB+ gesenkt. Der Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman veranschaulichte kürzlich in der New York Times am Beispiel Spaniens, dass die europäische bzw. »deutsche Spardoktrin« die angeschlagenen Staaten in den »ökonomischen Selbstmord« treibe. Die Arbeitslosenrate in Spanien beträgt mittlerweile 24,4 Prozent, so viel wie in den USA in den dreißiger Jahren zur Zeit der Großen Depression. Die verarmende Bevölkerung verliert wegen der Sparmaßnahmen nun auch noch die verbliebenen sozialstaatlichen Absicherungen. Auf den strengen Sparkurs reagiert sie mit wachsendem Protest. Mittlerweile kommt es regelmäßig in spanischen Städten zu Demonstrationen mit Zehntausenden Teilnehmenden. Am 29. März fand ein erster Generalstreik statt, zugleich protestierten über 800 000 Menschen gegen die neue Arbeitsmarktreform. Auch am 1. Mai waren in über 60 Städten Hunderttausende auf die Straße gegangen. Das Jubiläum der »15M«-Bewegung wird höchstwahrscheinlich zu einem Massenprotest.

Die Bewegung hatte sich im vergangenen Jahr nach teilweise brutalen Räumungen der Protestcamps vorerst in die barrios (Stadtviertel) verlagert und dort auf lokaler Ebene weitergearbeitet. Zu einem der wichtigsten Themen der Stadtteilarbeit ist der Widerstand gegen Zwangsräumungen geworden. Hunderttausende Familien haben in den vergangenen Jahren ihre Wohnungen verloren, da sie die Hypothekenraten nicht mehr zahlen konnten, und blieben zugleich hochverschuldet. Dagegen wehren sich vielerorts in Verbindung mit der neuen Protestbewegung Gruppen von Anwohnern. Anstehende Räumungstermine werden auf Nachbarschaftsversammlungen bekanntgegeben und Notfallpläne zur Unterstützung der von Räumung Bedrohten entworfen. Jede Woche werden Zwangsräumungen so erfolgreich verhindert.
Nach dem strategischen Rückzug in die Stadtviertel soll diese Woche wieder die Straße besetzt werden: »Geh mit uns auf die Straße. Es ist dein Recht«, heißt es im zentralen Aufruf von DRY für den Aktionstag am 12. Mai, zu dem auch in vielen anderen Ländern aufgerufen wird. Inhaltlich hat sich bei den Indignados im vergangenen Jahr wenig verändert. Im Aufruf werden »Korruption« und »Gier nach Macht« als die Ursachen der Krise benannt, denen als Lösung die »ethische Revolution« entgegengesetzt wird. Die Forderungen von DRY nach »sozialer Gerechtigkeit«, »Gleichheit, Fortschritt, Solidarität« oder »Nachhaltigkeit und Entwicklung« bleiben schwammig, man will sich auch weiterhin nicht inhaltlich festlegen, sondern alle Empörten vereinen – seien sie »konservativ«, »fortschrittlich«, »gläubig« oder »unpolitisch«. Am 12. Mai soll diese Multitude weltweit die Straßen in den »größten Lautsprecher der Welt verwandeln«. »Unsere Repräsentanten haben die Pflicht, unsere Bedürfnisse umzusetzen, sie müssen auf uns hören«, heißt es im Aufruf. Diese Einschätzung, die zumindest eine halbe Million Facebook-User teilen, erscheint angesichts der sich zuspitzenden gesellschaftlichen Situation in Spanien etwas naiv. Sowohl die sozialdemokratische Partei PSOE als auch der nun regierende PP haben mit ihrer autoritären Krisenpolitik gezeigt, dass die Regierungen ihre Aufgabe darin sehen, »den Markt zu beruhigen« statt der Bevölkerung trotz Krise ein würdiges Leben zu ermöglichen.

Zudem machen Staat und Polizei in Spanien derzeit überaus deutlich, dass sie außerparlamentarischen Protest eben nicht als »Recht« der Bevölkerung ansehen. Die Polizei geht sogar gegen friedliche Versammlungen überaus brutal vor, nun soll sie dafür auch juristische Unterstützung bekommen. Durch eine Gesetzesreform, die von der Regierung derzeit debattiert wird, soll in Zukunft die »Störung der öffentlichen Ordnung« als »Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung« gewertet werden. Nach Auskunft des Innenministers Fernández Díaz soll dazu auch das »Eindringen in öffentliche Anlagen«, die Verhinderung des Zugangs zu solchen sowie die »Unterbrechung oder Störung jeglicher öffentlicher Dienste« gezählt werden. Damit erklärt die neue Gesetzesreform faktisch das gesamte Aktionskonzept der »15M«-Bewegung – rechtzeitig vor ihrem ersten Jubiläum – zur Straftat und friedliche Platzbesetzerinnen und -besetzer zu Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung.
Bereits der Aufruf zu derartigen Protestformen, die mit dem Gesetz als »gewalttätig« eingestuft werden, soll mit mindestens zwei Jahren Gefängnis geahndet werden, dabei wurde explizit auf die Verbreitung durch das Internet und die dortigen sozialen Netzwerke hingewiesen. Zudem sollen Personen, die Demonstrationen anmelden, für jegliche Ausschreitungen verantwortlich gemacht werden können. Politisch motivierter Vandalismus soll in Anlehnung an die baskischen Antiterrorgesetze als Terrorismus gewertet werden. Auch der Widerstandsparagraph wird erweitert, selbst »drohendes oder einschüchterndes Benehmen« sowie »passiver Widerstand« gegenüber der Polizei soll dem Innenministerium zufolge als Straftat gelten. Das Justizministerium bezweifelt jedoch, dass all diese Verschärfungen durchsetzbar sind. Anwältinnen, Anwälte und Intellektuelle kritisieren die Reform scharf und werfen der Regierung vor, eine Atmospäre der Angst zu schüren.
Der katalanische Innenminister Felip Puig machte keinen Hehl daraus, dass genau dies die Absicht ist. Ziel der Reform sei nicht, mehr Menschen ins Gefängnis zu bringen, sondern »mehr Angst vor dem System« zu erzeugen, erklärte er gegenüber dem Fernsehsender TV 3. Die Verschärfung der Gesetze wird mit dem jüngsten Generalstreik gerechtfertigt, bei dem es vor allem in Barcelona zu schweren Ausschreitungen gekommen war. In der katalanischen Hauptstadt hatte die Polizei dabei Tränengas eingesetzt. Zudem machte sie mit Gummigeschossen regelrecht Jagd auf Demonstrierende, mindestens zwei Personen verloren dabei ein Auge. Die Opfer staatlicher Gewalt (in Bilbao starb Ende März sogar ein baskischer Fußballfan durch Gummigeschosse der Polizei) sind aber kein Thema für das Innenministerium. Verantwortlich für die »Spirale der Gewalt« seien antisistemas, die sich der »Techniken der Stadtguerilla« bedienten, so Fernández Díaz. Die Gesetzesreform geht jedoch weit über die Bekämpfung militanter Protestformen hinaus, für die es in Spanien bereits ausreichend strafrechtliche Grundlagen gibt. Vielmehr scheint die konservative Regierung ein konfliktreiches Jahr zu erwarten und will dafür ausreichend vorbereitet sein, sowohl juristisch wie materiell. Bereits im Januar war öffentlich geworden, dass die Regierung Tränengas und Rauchgranaten im Wert von eineinhalb Millionen Euro für die spanische Aufstandsbekämpfungseinheit, gekauft hatte – bestellt hatte sie noch die Vorgängerregierung des PSOE.

Die harte Linie wurde vergangene Woche bekräftigt. Während des Treffens der Europäischen Zentralbank am vergangenen Wochenende wurde das Schengener Abkommen kurzzeitig außer Kraft gesetzt, die Grenzkontrollen wurden wieder aufgenommen. Vor Ort in Barcelona waren 8 000 Polizistinnen und Polizisten im Einsatz, um einen störungsfreien Ablauf zu gewährleisten. Die Protestbewegung, die explizit die Rettung der parlamentarischen Demokratie und nicht ihre Ab schaffung zum Ziel hat, könnte sich so wider Willen radikalisieren. Denn während sich ihre sozialdemokratischen Forderungen in dem Jahr seit ihrer Entstehung kaum verändert haben, haben die Folgen der ökonomischen Krise nach dem Sozialstaat nun auch den Rechtsstaat erreicht. Durch die Gesetzesreform wird der Protest, der nie gegen das System als solches gerichtet war, außerhalb des Systems gestellt. Ihm wird die demokratische Legitimität abgesprochen, die den Empörten doch so wichtig ist.