Samira Kinani im Gespräch über Zwangsehen in Marokko

»Opfer einer ganzen Gesellschaft«

Mitte März nahm sich die 16jährige Amina Filali in Marokko das Leben, nachdem sie mit ihrem Vergewaltiger zwangsverheiratet worden war. Dem marokkanischen Strafgesetzbuch zufolge kann ein Vergewaltiger straffrei davonkommen, wenn er sein minderjähriges Opfer im Einverständnis mit dessen Eltern heiratet. Der Selbstmord des Mädchens sorgte in der marokkanischen Gesellschaft für öffentliche Empörung und Proteste von Feministinnen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Samira Kinani ist stellvertretende Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation Association Marocaine des Droits Humains (AMDH). Die 52jährige Feministin wohnt in der Hauptstadt Rabat und ist Mitglied der Gewerkschaft Union Marocaine du Travail. Mit ihr sprach die Jungle World über den Fall Filali, die Befreiung der Frauen in Marokko und ihre Rolle in den landesweiten Aktionen der Protestbewegung »Mouvement du 20 Février«.

Die öffentliche Aufregung rund um den Fall Filali hat sich inzwischen gelegt. Was ist seither geschehen?
Es gab ein Kolloquium, bei dem die Familienministerin und Vertreter und Vertreterinnen verschiedener Organisationen, darunter die Präsidentin von AMDH, das Geschehene diskutierten. Die Vergewaltigung von Kindern und die Zwangsheirat sind in Marokko weit verbreitete gesellschaftliche Phänomene. Amina Filali hat Licht auf diese Problematik geworfen. Es handelt sich um Vorfälle, über die kaum gesprochen wird. Das Thema wird tabuisiert. Es musste erst ein junges Mädchen sterben, bis sich die Leute entschieden, auf die Straße zu gehen, um dies zu denunzieren. Eigentlich sollten Organisationen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzen, alles dafür tun, um diese Tabus zu brechen. Seit dem Fall Filali hat sich aber vor allem die Zivilgesellschaft eingeschaltet. So wurde beispielsweise intensiv auf Facebook darüber diskutiert. Allerdings wurde das Gesetz, das dem Vergewaltiger erlaubt, sein Opfer zu heiraten, bis zum heutigen Tag nicht geändert – und zwar unter dem Vorwand, es handele sich um »kulturelle Besonderheiten«.
Die marokkanische Ministerin für Solidarität, Frau, Familie und soziale Entwicklung, Bassima Hakkaoui, hatte nach dem Vorfall eine Debatte angekündigt, um das Gesetz zu reformieren. Streitpunkt ist vor allem Artikel 475 des Strafgesetzbuchs, der den Vergewaltiger von einer Strafe befreit, wenn er sein Opfer im Einverständnis mit dessen Eltern heiratet. Die Internetpetition »avaaz.org« verlangt die Aufhebung des Artikels. Zur Diskussion steht aber auch Artikel 20 des Familiengesetzes, der die Heirat Minderjähriger erlaubt. Zeichnet sich denn wirklich eine Reform oder die Aufhebung der besagten Artikel ab?
Wie ich vorher betont habe, hat sich bis zum jetzigen Zeitpunkt nichts Konkretes getan. Abgesehen von einigen Konferenzen über den Vorfall und die Vergewaltigung Minderjähriger, wird nicht mehr viel darüber gesprochen. Und ich habe auch das Gefühl, dass die Mobilisierung im Internet und das Interesse am Thema eher abgenommen haben.
Wie ist die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), die stärkste Kraft in der Regierung, mit der Affäre umgegangen?
Der PJD ist zwar die stärkste Kraft in der Regierung, doch in Marokko hat nicht die Regierung die Macht, sondern der makhzen, das sind die Seilschaften zwischen Königshaus, Wirtschaft und Staatsapparat. Es handelt sich um eine Fassadenregierung. Als Partei hat sich der PJD dahingehend geäußert, dass es sich beim Vorfall nicht um Vergewaltigung sondern vielmehr um eine Liebesbeziehung gehandelt habe.
Wessen Opfer ist Amina Filali letztendlich?
Sie ist das Opfer einer ganzen Gesellschaft und ihrer Ideologie, die die Frau als Objekt sieht. Einerseits ist das Mädchen also Opfer einer heuchlerischen, patriarchalen, masochistischen Gesellschaft, in der das Gesetz schwache Frauen nicht schützt, andererseits ist sie das Opfer ihres Umfelds, weil man sie verheiratete, um einen sogenannten Skandal zu verhindern. Denn eine entjungferte, nicht verheiratete Frau wird in Marokko geächtet, vor allem auf dem Land.
Welche Rolle spielen islamische Werte wie die »Erhaltung der Ehre«?
Das sind nicht Werte des Islam, sondern Werte einer machistischen Gesellschaft. Übrigens beruht das marrokanische Recht auf der französischen Rechtsordnung. Deshalb kann man hier nicht einfach vom Islam reden. In unseren Gesellschaften ist der Machismus ein Übel, das jegliche Hoffnung auf eine Gesellschaft, in der Frauen und Männer in Freiheit und Gleichheit leben können, verdirbt und erstickt. Es ist also nicht eine Frage der Religion – ob Islam, Christentum oder Judentum –, sondern eher des vorherrschenden Männlichkeitswahns. Denn in unseren Gesellschaften sind es noch immer die Männer, die die Gesetze machen und dadurch bevorzugt werden.
In der neuen Verfassung, die bald ein Jahr alt sein wird, steht, dass die Politik und der König die Diskriminierung von Frauen und Mädchen beenden wollen. Anscheinend besteht in Marokko eine große Diskrepanz zwischen dem, was in der Verfassung steht, und der Realität.
Der Rückschritt Marokkos beruht auf der Tatsache, dass jene, die die Macht haben, kein Interesse an Demokratie haben und damit vielen Marokkanerinnen und Marokkanern ihre Hoffnung auf ein würdiges Leben nehmen. Die Machthabenden haben es so eingerichtet, dass die Leute sich einzig auf die fortschrittsfeindliche Seite der islamischen Religion beziehen und dies an ihre Kinder weitergeben.
Für das, was derzeit der marokkanischen Bevölkerung widerfährt, ist meiner Meinung nach als erstes der Staat verantwortlich, und zwar durch sein politisches Programm, seine Politik in der Schule, in den Moscheen, im Fernsehen und so weiter. Der Staat hält alle Macht in seinen Händen. Wenn er wirklich den Willen hätte, die Dinge zu verändern, dann hätten wir es längst gesehen. Doch was man uns erzählt, sind einzig leere Worte.
Seit Jahren verlangen Nichtregierungsorganisationen eine »Feminisierung« der Justiz mittels einer gegenüber Frauen gerechteren Strafgesetzgebung und einer Säkularisierung des Familiengesetzes, das sich an den Menschenrechten orientieren soll. Ein Memorandum wurde erarbeitet und dem Justizministerium anlässlich des » Printemps de la Dignité » (»Frühling der Würde«) im Jahr 2010 übergeben. Das Thema kommt aber auch nach dem Fall Filali nicht auf die politische Tagesordnung. Warum?
Die Befreiung der marokkanischen Frauen bedeutet, eine ganze Gesellschaft zu befreien, und in Marokko hat man offenbar nicht wirklich Lust, dass sich die Gesellschaft befreit. Glauben Sie abgesehen davon, dass der Westen ernsthaft an einem freien Marokko interessiert ist?
Sie engagieren sich seit Jahren in sozialen Kämpfen, vor allem für die Rechte der Frauen. Was bedeutet die Befreiung der Frauen heute in Marokko genau?
Amina Filali war eine junge marginalisierte Frau in einem Marokko, wo es keine Arbeit gibt und wo die Leute nichts zu tun haben. Es kommen mehrere Faktoren zusammen: Man kann nicht von einer Befreiung der Frauen einzig durch die Gesetzgebung sprechen. Die Befreiung ist auch eine ökonomische und kulturelle. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Man könnte in das Gesetz schreiben, dass ein Mann nicht das Recht auf eine zweite Ehefrau hat, wenn seine bisherige Ehefrau nicht einverstanden ist. Doch wenn diese Frau ökonomisch von ihm abhängig ist, hat sie dann wirklich eine Wahl?
Für eine ökonomische Befreiung der Frauen muss die Bevölkerung zunächst selbst entscheiden können, was sie will. Und das ist gegenwärtig nicht der Fall in Marokko. Wenn wir also von der Befreiung der Frauen in einer verarmten, marginalisierten Gesellschaft sprechen, die nicht selbst über ihr Schicksal entscheiden kann und der vieles vorgeschrieben wird, dann ist das pure Scheinheiligkeit. Wenn wir für die Befreiung der Frauen kämpfen wollen, für ihre Würde, dann müssen wir gleichzeitig auch für die Selbstbestimmung der marokkanischen Bevölkerung kämpfen.
Die Protestbewegung »Mouvement du 20 Février« (M20F) fordert seit mehr als einem Jahr demokratische Reformen, also eine Modernisierung des Landes. Welche Rolle spielen Frauen in dieser Bewegung und was sind ihre Hauptforderungen?
Im M20F sind Frauen sehr präsent, vor allem junge Frauen und Mädchen, die aus ärmeren Arbeitervierteln kommen und am stärksten eine Veränderung anstreben. Sie fordern die Gleichstellung der Geschlechter und ein würdiges Leben. Dagegen ist die Bewegung der traditionellen Frauen, Vereinigungen, die stark mit aus dem Ausland beeinflussten Entwicklungsplänen arbeiten, nicht wirklich vertreten.