Ein Sammelband über Ultras

»Eine Saison Fußball – ein Tag Oktoberfest«

Ein neuer Sammelband könnte zur Versachlichung der Debatte über Gewalt und Pyrotechnik im Fußball beitragen.

Die Ultras seien die »Taliban der Fans«, behauptete Sandra Maischberger vergangene Woche in ihrem ARD-Talk »Menschen bei Maischberger«. Der in der Sendung gastierende Sportjournalist Werner Schneyder hatte offenbar vorher von Ultra-Choreos noch nie gehört, war sich aber sicher, dass man es dabei mit »faschistoiden Versammlungsritualen« zu tun habe, die man den Fans »abgewöhnen« müsse.
Kein Zweifel, das Programm war ein neuer Tiefpunkt der (pseudo-)journalistischen Auseinandersetzung mit angeblicher Fangewalt in deutschen Fußballstadien. Nach den Ereignissen beim Relegationsrückspiel um den letzten Bundesligaplatz (vgl. Jungle World 21/2012) überschlug sich die Aufregung in den Medien mit Sondersendungen und Talkshows geradezu. Insbesondere die gebührenfinanzierte ARD tat sich dabei unangenehm hervor. Einem »Brennpunkt« folgte Frank Plasbergs Sendung »Hart aber fair« unter dem Motto »Gewaltige Leidenschaft – wer schützt den Fußball vor seinen Fans?«, ehe bei Sandra Maischberger die saloppe Frage »Kicker, Kohle, Krawalle: Wer regiert König Fußball?« diskutiert wurde. Doch anstatt zur Aufklärung beizutragen, gerieten der ARD ihre Sendungen eher zu einer Demonstration offensiv-aggressiver Ignoranz ihres Gegenstandes.
Wie man es besser macht, zeigt das gerade im Werkstatt-Verlag erschienene Buch »Ultras im Abseits?«. Der von Martin Thein und Jannis Linkelmann herausgegebene Sammelband besticht bereits durch die große Auswahl von 25 Autoren und zwei Autorinnen, die sich in 22 Beiträgen an einem »Porträt einer verwegenen Fankultur« versuchen. »Betrachtet man die medialen Darstellungen oder fragt andere Stadionbesucher, so werden Ultras primär als Chaoten oder Gewalttäter klassifiziert. Vielen vorgenannten Beobachtern ist dabei jedoch oft gar nicht bewusst, dass es sich bei den Ultras um eine Form des Fanseins handelt, die mit keiner Fankultur der letzten Jahrzehnte zu vergleichen ist«, erklären die Herausgeber in ihrem Vorwort. Sie konstatieren: Kaum »jemand hat sich wirklich die Mühe gemacht, sich mit dieser Erscheinungsform ernsthaft und ausgewogen auseinanderzusetzen«.
Um das zu ändern, haben Thein und Linkelmann – beide am Kölner Institut für Fankultur tätig – Wissenschaftler, Journalisten, gegenwärtige und ehemalige Fußballfunktionäre, Vertreter verschiedener Fanprojekte, Politiker, Repräsentanten der Polizei und als Interviewpartner einige Ultras selbst in dem Buch zu Wort kommen lassen. Durch die unterschiedlichen Perspektiven ermöglicht »Ultras im Abseits?« allen Interessierten einen fundierten Einblick in das komplexe soziale Gebilde der Ultra-Bewegung. In zwei historischen Beiträgen zeichnen Elmar Vieregge und Marcus Sommerey zunächst die Entwicklung der deutschen Ultra-Bewegung im Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte des Fußballs und der Fußball-Fankultur nach. Im Anschluss beleuchtet Markus Verma empirisch anhand von Interviews mit Mitgliedern von zwei Münchner Ultra-Gruppen das Selbstverständnis dieser Bewegung.
Bei den diversen Beiträgen bleiben, für einen Sammelband nicht untypisch, Dopplungen nicht aus. Allerdings kann es zuweilen ermüden, wenn man beispielsweise zum gefühlt 20. Mal liest, dass die Ultra-Bewegung ursprünglich aus Italien kommt. Auch die Qualität der einzelnen Beiträge variiert. Einer der besten Texte stammt vom Sozialwissenschaftler Gerd Dembowski. Der frühere Sprecher des Bündnisses Aktiver Fußballfans macht in dem Beitrag »Eine notwendige Erfindung des Selbst« einige »Anmerkungen zur Identitätsbildung von Ultras als individualisierte Gemeinschaften«. In zuweilen etwas akademisierendem Duktus formuliert Dembowski auf der Basis soziologischer und psychologischer Theorien eine letztlich scharfe Kritik an bestimmten Aspekten der Ultrakultur. Zwar würden bei entsprechenden Gruppen »inhaltliche Entscheidungen vor allem basisdemokratisch« getroffen. Sie böten die »Chance, demokratisch partizipatorisches Verhalten einzuüben«, bei vielen gebe es zudem »einen antirassistischen Grundkonsens«. Doch in Wirklichkeit habe man es mit konservativen Werten zu tun: Man unterwerfe sich dem »System Fußball« unter »hegemonial männlichen Trends aus Versatzstücken wie Ehre, Treue, Heimat, Territorialität, Standfestigkeit, Leidensbereitschaft, Korpsgeist, Anführerprinzipien, der sozialen Leistungsmaschine Körper, Stärke- bzw. Härte­ideal, Direktheit, Ritterlichkeit, der Naturalisierung sogenannter männlicher Eigenschaften und der Höherwertigkeit männlicher Sexualität«. Dembowskis Text ist damit zugleich der einzige in dem Buch, der sich ansatzweise Gender-Aspekten und Themen wie Homophobie widmet; ein eigener Beitrag dazu fehlt leider.
Auch die Texte der Journalisten Mike Glindmeier und Christoph Ruf sparen kritikable Aspekte der Ultra-Bewegung nicht aus. So meint Ruf, die Ultra-Szene sei »bei aller Freiheits-Rhetorik reglementierter als jeder Kaninchenzüchterverein«. Vor allem aber sehen Ruf und Glindmeier Verbesserungspotenziale bei Polizei und Medien. So schreibt Glindmeier auf der Grundlage eigener Erfahrungen mit dem Besuch von Auswärtsspielen: »Man verlässt morgens friedlich das Haus, freut sich auf ein Fußballspiel. Fünf Stunden später steht man dehydriert vor einer Polizeikette und muss darum betteln, auf die Toilette gehen zu dürfen. Und das völlig ohne Grund.« Bei solchen Szenen könne er gut verstehen, »wie der friedliche A-Fan morgens in einen Zug steigt und am Stadion als C-Fan ankommt, um in der Behördensprache zu bleiben«.
Der argumentativ vielleicht schwächste Beitrag stammt aus der Feder eines Polizisten. Udo Tönjann ist als nordrhein-westfälischer Polizeibeamter mit der Geschäftsführung des »Nationalen Ausschusses Sport und Sicherheit« betraut und behauptet in seinem Text über »Ultras und Polizei«, die Polizei handele »transparent, verlässlich, kommunikativ, differenziert und konsequent. Fans erleben ein einheitliches und mit den Netzwerkpartnern eng abgestimmtes Handeln«. Um diese Darstellung als pure Poesie zu erkennen, braucht man kein Ultra zu sein. Es reicht, gelegentlich ein x-beliebiges Fußballspiel zu besuchen. Der Politologe Tilmann Feltes hat das zu Forschungszwecken bei 20 Partien getan und kommt bei seinen Beobachtungen folgerichtig zu völlig anderen Erkenntnissen als Tönjann.
Jan-Philipp Apmann und Gabriel Fehlandt zeichnen die gescheiterten Verhandlungen zwischen Ultra-Vertretern und Funktionären des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) um eine begrenzte Legalisierung von Pyrotechnik nach. Ihr Beitrag ist zwar informativ, aber letztlich bleibt unklar, warum die beiden Hamburger Sportjournalismusstudenten das zweifelhafte Agieren der DFB-Funktionäre nicht schärfer kritisieren. Das vielleicht größte Highlight des Buches hingegen ist das Interview, das die beiden Herausgeber zum gleichen Thema mit Helmut Spahn führten. Der war als Sicherheitsbeauftragter des DFB federführend an eben diesen Verhandlungen beteiligt – bis seine Bosse im vergangenen Herbst plötzlich beschlossen, die Gespräche einfach abzubrechen. »Ich denke, wir waren auf einem guten Weg«, sagt Spahn im Interview und gibt zu, über die Einstellung der Kommunikation mit den Ultra-Vertretern »sehr überrascht« gewesen zu sein. Damit sei »die Feindbilddiskussion wieder neu angefacht« worden, jetzt befinde man sich »in einem schwierigen Fahrwasser«. Eine »Geisterdiskussion«, wie von den Chefs von DFB und Deutscher Fußballliga später behauptet, seien die Gespräche jedenfalls »definitiv nicht« gewesen.
Spahn ordnet auch die im Zusammenhang mit den Ultras geführte Gewaltdebatte richtig ein. Wenn man im Zusammenhang mit den Fußballspielen einer Saison in Deutschland von aktuell etwa 800 Verletzten ausginge – bei weitem nicht alle davon gehen auf das Konto von Ultras oder anderer Fans –, dann habe man diese Zahl an Verletzten »ziemlich genau an einem Tag Oktoberfest in München«: »Eine Saison Fußball – ein Tag Oktoberfest.« Spahn resümiert, beim Oktoberfest sei das »dann Brauchtum, Historie, eine Tradition, und beim Fußball ist es Gewalt, Bürgerkrieg«.
Solche nüchternen Erkenntnisse wünschte man auch den Maischbergers und Plasbergs des deutschen Fernsehens und ihren Geistesverwandten im Printbereich. »Ultras im Abseits?« müsste für sie, trotz der wenigen Schwächen des Bandes, eigentlich Pflichtlektüre sein. Und für alle anderen, die an einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Thematik interessiert sind, natürlich auch.

Martin Thein und Jannis Linkelmann (Hrsg.): Ultras im Abseits? Porträt einer verwegenen Fankultur. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2012, 14,90 Euro