Migranten in Maghreb organisieren sich

Ausfliegen statt aussetzen

Das Grenzregime besteht fort. Doch die Migranten im Maghreb organisieren sich jetzt.

»Wir wollen wissen, was mit ihnen passiert ist«, rufen die verzweifelten Mütter. 600 bis 700 junge Tunesier sind bis heute verschwunden, nachdem sie in den Monaten nach der tunesischen Revolution im Januar 2011 – in deren Folge die polizeiliche Kontrolle der Grenzen vorübergehend gelockert war – die Überfahrt über das Mittelmeer versucht hatten. Viele von ihnen dürften bei der Reise umgekommen sein. Aber in manchen Fällen wollen Angehörige ihre Söhne, vereinzelt auch Ehemänner, auf Bildern und in Filmberichten von der Ankunft der Migranten in Italien erkannt haben.
Am Freitag voriger Woche hielten im Hörsaal der Hochschule für Biotechnologie von Monastir mehrere Mütter Bilder ihrer verschwundenen Angehörigen hoch, als dort mehrere Hundert Menschen über Migrationspolitik und die »Festung Europa« diskutierten. Die Versammlung war Teil des vom Afrikanischen Sozialforum veranstalteten Treffens, das der Vorbereitung des Weltsozialforums im Frühjahr 2013 in Tunesien dienen sollte. Dort wurde über verschiedene Themen diskutiert, von der Verschuldung der Staaten der »Dritten Welt« über Fragen des Welthandels bis zu Migration und dem Recht auf Bewegungsfreiheit. Rund 3 000 Menschen aus Ländern Afrikas und Europas waren dazu in die Stadt an der tunesischen Ostküste gekommen. Zwei Mütter ergriffen das Wort. Eine von ihnen wusste, dass ihr Sohn ums Leben gekommen ist. Die andere wollte den ihren auf Bildern aus Lampedusa erkannt haben. Sie und andere Eltern fordern nun vom tunesischen Staat »echte Ermittlungen«: »Wir wollen wissen, ob sie vielleicht in italienischen Gefängnissen sitzen oder sonst irgendwo sind, ohne ein Lebenszeichne von sich geben zu können.«

Immer wieder versuchen junge Tunesier, das Meer zu überqueren, wenngleich nun in geringerer Zahl als unmittelbar nach dem Umbruch 2011. Damals war die Polizei einige Wochen lang in die Defensive geraten. Doch das ist vorbei. Als Beitrag zur Reduzierung der hohen Jugendarbeitslosigkeit hat die derzeitige Regierung unter anderem sehr viele junge Polizisten neu eingestellt, wie man auch auf den Straßen von Tunis feststellen kann. Erst am Wochenende wurde ein Schiff mit 94 Menschen an Bord, unter ihnen 88 Tunesier, von der Küstenwache aufgebracht. Es war am Samstag von einem Strand in der Nähe von Sfax aus in Richtung Italien ausgelaufen. Offiziellen Angaben zufolge griff die Küstenwache ein, um die Migranten »aus Seenot zu retten und vor dem Ertrinken zu bewahren«. Bürgerrechtler bestreiten dies und behaupten, es habe sich lediglich darum gehandelt, einen Versuch illegaler Migration zu unterbinden.
Aufgrund eines Gesetzes, das im Jahr 2004 unter der Diktatur Ben Alis verabschiedet worden ist, wird »illegale Ausreise« nach wie vor als Straftat behandelt, und wer von einem Versuch Kenntnis erhält, ist verpflichtet, diesen anzuzeigen. Das alte Regime wurde von der Europäischen Union unter Druck gesetzt, die unerwünschte Migration unter Kontrolle zu halten. Daran hat sich nicht sehr viel geändert, nur spreche man nicht mehr von »Abkommen« zwischen der EU und dem tunesischen Staat, stellte Nicanor Haon von der Kampagne »Boats 4 People« auf dem Sozialforums­treffen in Monastir fest. Heute sei eher von »Gesprächsprotokollen« und »gemeinsamen Überlegungen« die Rede. Aber nach wie vor wird versucht, Migration nach den Vorgaben der EU einzudämmen und die »Republikflucht« – wie man es in der DDR genannt hätte – rechtlich verfolgt.
Änderungen bahnen sich unterdessen auf anderer Ebene an. Anfang voriger Woche kam die tunesische Regierung einer älteren Forderung von NGOs nach und richtete einen »Rat der Auslandstunesier« für in der Emigration lebende Bürger ein. Zugleich kündigte sie an, die Migrationsabkommen mit den Aufnahmeländern mittel- und längerfristig neu zu verhandeln. Dabei geht es jedoch ausschließlich um im Ausland lebende tunesische Staatsangehörige. Längst ist Tunesien jedoch nicht mehr nur ein Auswanderungs-, sondern auch ein Einwanderungs- oder jedenfalls ein Transitland geworden.
Im Umgang mit den betroffenen Menschen sei eine gewisse Besserung eingetreten, sagte der tunesische Menschenrechtsaktivist Mohammed bei der Diskussion in Monastir. »Früher wurden aufgegriffene Migranten in ›illegaler‹ Situation für maximal einen Monat eingesperrt, danach auf dem Landweg an die Grenze zwischen Tunesien und Libyen gekarrt und dort in der libyschen Wüste ausgesetzt. Solche Praktiken gibt es derzeit nicht mehr.« Anders in Algerien und Marokko, wo Deportationen von unerwünschten Migranten in die Wüstenregionen immer noch üblich sind – sogar ins Grenzgebiet zwischen Marokko und Mauretanien, das aufgrund des Konflikts mit der Frente Polisario um die Westsahara vermint ist. In der vergangenen Woche wurde die Praxis in Marokko erneut verschärft: In Reaktion auf Auseinandersetzungen am Grenzzaun um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, bei denen ein Polizist zu Tode kam und 30 Migranten verletzt wurden, verhafteten die Behörden in Nador 400 Migranten und setzten sie im Landesinneren aus. Unter ihnen waren 26 schwangere Frauen. Schon seit April dieses Jahres habe sich der polizeiliche Druck auf Migranten in Marokko verschärft, beklagt die »Antirassistische Gruppe für die Verteidigung und Begleitung von Migranten« (Gadem) mit Sitz in Rabat.
In Tunesien dagegen, berichtete Mohammed, »werden Abschiebungen im Augenblick nur noch auf dem Luftweg durchgeführt. Das ist immer noch kritikwürdig, aber die Menschen können nunmehr zumindest ihre persönliche Habe mitnehmen und riskieren nicht Leib und Leben.«

Überall in den Ländern Nordafrikas regt sich inzwischen aber auch zaghafter Widerstand gegen den Umgang mit Migranten. Ein in Belgien lebender Auslandstunesier zeigte sich in Monastir »entsetzt« darüber, zu erfahren, dass nicht nur in Europa Rassismus – der ihm dort als Einwanderer begegnet – und staatliche Repression gegen Migranten grassieren. Aus Algier war eine Organisation für Migrantenhilfe nach Monastir gekommen. Und Gewerkschafter der Organisation Démocratique du Travail (ODT) – eines von mehreren marokkanischen Gewerkschaftsdachverbänden – stellten die erste Gewerkschaft für Einwanderer im Maghreb vor. Das Collectif Syndical des Travailleurs Immigrés au Maroc (CSTIM), das von dem kongolesischen Staatsbürger Marcel Amiyeto geleitet wird, wurde am 1. Juli dieses Jahres gegründet. Wie Vorstandsmitglied Abdellah Allali der Jungle World berichtete, nahmen 200 nach Marokko eingewanderte Arbeiter unterschiedlicher Nationalitäten an der Gründungsveranstaltung in Rabat teil. Die ODT hat die Migrantenorganisation als Mitgliedsgewerkschaft aufgenommen. Zuvor hatten erstmals am 1. Mai marokkanische und migrantische Lohnabhängige gemeinsam demonstriert. Am 6. und 7. Oktober soll nun im marokkanischen Oujda ein »Sozialforum der Migranten« stattfinden.