Das deutsche Erbrecht und die Kluft zwischen Arm und Reich

Erben leicht gemacht

Das deutsche Erbrecht vertieft die Kluft zwischen Arm und Reich.

Im »Manifest der Kommunistischen Partei« skizzierten Karl Marx und Friedrich Engels angesichts der sehr eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten beim Übergang zu kommunistischen Verkehrsformen ein Szenario von Maßregeln, »die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich« seien. Schon am Anfang findet sich in diesem Übergangsprogramm die Forderung nach einer sofortigen »Abschaffung des Erbrechts«. Ganz so allein, wie es heute erscheinen könnte, standen die wenigen Kommunisten und ihr Bund mit dieser Forderung nicht. Neben Vertretern von früh­sozialistischen und anarchistischen Strömungen warnten selbst Liberale wie etwa John Stuart Mill – selbstverständlich mit gänzlich anderer Intention –, dass das Erben den Leistungswillen einer Gesellschaft hemme. Zugestehen wollte Mill lediglich eine Vermögensweitergabe, mit der sich Erbberechtigte über Wasser halten konnten.
Sehr moderat nimmt sich dagegen die kürzlich von der Vorsitzenden der Linkspartei, Katja Kipping, erhobene Forderung nach einer Erbschaftssteuer von 60 Prozent bei Vermögensanteilen von über drei Millionen Euro aus. Dabei wäre die Zeit eigentlich reif, die vererbten Privilegien der Bourgeoisie anzugehen, wie die bürgerlichen und sozialistischen Revolutionäre bereit waren, jene des Adels vor 150 Jahren in Frage zu stellen. Denn die Sozialstruktur der Bundesrepublik ähnelt wie die vieler anderer entwickelter kapitalistischer Staaten immer mehr einer Stände- denn einer Klassengesellschaft. Neben einem Bildungssystem, das als eines der undurchlässigsten aller OECD-Länder gilt, und einem Heiratsmarkt, auf dem vier Fünftel der Ehen innerhalb einer Schicht geschlossen werden, reproduziert vor allem die Vererbung von Vermögen eine Sozialstruktur, bei der die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird.
»Erbschaften von historischem Ausmaß« prognostizierte die Postbank in einer im Mai erschienen Studie. Nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Altersvorsorge werden in den kommenden Jahren jährlich Vermögenswerte in Höhe von 260 Milliarden Euro als Erbe oder Schenkung den Besitzer wechseln. Der wirtschaftsliberale Think Tank »Liberales Institut« spricht von insgesamt drei Billionen Euro bis 2020. Und natürlich profitieren nicht alle davon. Der Studie der Postbank zufolge werden die kleinen Erbschaften von Werten unter 25 000 Euro stark zurückgehen. Die Teilprivatisierung der Pflege, die vor allem am Lebensende das Ersparte aufzehrt, das Sinken der Reallöhne in den vergangenen Jahrzehnten und die fehlenden Möglichkeiten zum Vermögensaufbau in der ehemaligen DDR schließen die Hälfte der in Deutschland Lebenden vom Traum ererbten Reichtums gänzlich aus. Besser sieht es am anderen Ende der Skala aus: »Um gut 50 Prozent steigen die Erbschaften, die einen Wert von 100 000 Euro und mehr haben«, sagte Michael Meyer, Vertriebsvorstand der Postbank, bei der Präsentation der Studie. Immerhin gut 20 Prozent aller Hinterbliebenen könnten mit solchen Summen rechnen.
Es sind vor allem die ganz großen Erbschaften, die die Gesellschaft dauerhaft prägen. Jens Beckert, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung und Autor des Buches »Unverdientes Vermögen: Soziologie des Erbrechts«, geht davon aus, dass im Jahr 2010 bei 800 000 Sterbefällen 650 Erbschaften beziehungsweise Schenkungen etwa ein Drittel der Gesamtsumme auf sich vereinigten. Der Ursprung dieser gigantisch anmutenden Erbschaften wird anhand von Zahlen leicht verständlich. Untersuchungen des Berliner Forschungsinstituts Empirica zufolge haben die Deutschen derzeit Vermögenswerte von fast zehn Billionen Euro angesammelt, von denen etwa die Hälfte aus Grundstücken, Firmen und Häusern besteht. Den Rest hält man in Reserve. Über 60 Prozent dieser Vermögenswerte entfallen auf lediglich zehn Prozent der Bevölkerung. Hier werden immer größere Erbschaften von Generation zu Generation weitergereicht. Da zudem die Lohnquote im Verhältnis zu den Einkünften aus Gewinnen immer weiter sinkt, allein im vergangenen Jahrzehnt um fast acht Prozent, wird sich diese Tendenz weiter verstärken.

Hilfreich beim Vermögensaufbau ist das Erbschafts- und Schenkungsrecht. Hohe Freibeträge für Vermögen, Hausrat und Immobilien, die sich im Einzelfall auf mehrere Millionen Euro summieren können, und eine Deckelung des Steuersatzes bei 25 Prozent, analog zu den Steuern auf Kapitaleinkünfte, sind dabei nur ein Teil der Regelungen, die es ermöglichen, Vermögen nahezu vollständig zu vererben. Wichtiger noch sind die in der Erbschaftssteuerreform von 2009 fixierten Sonderregeln für unternehmerisches Vermögen, die eine gänzlich steuerfreie Weitergabe des Vermögens ermöglichen, wenn der Betrieb mindestens sieben Jahre nach Vererbung oder Schenkung noch existiert. Die Gründung von Scheinunternehmen, sogenannten Cash-GmbHs, zu diesem Zweck findet sich mittlerweile im Angebot jeder besseren Anwaltskanzlei oder Unternehmensberatung. So überrascht es kaum, dass im vorigen Jahr nur 4,2 Milliarden Euro an Erbschafts- bzw. Schenkungssteuer abgeführt werden mussten, was einer Quote von lediglich 1,6 Prozent entspricht.
Selbst der Bundesfinanzhof bezweifelte angesichts solcher Zahlen zuletzt, dass eine solche »Dummensteuer« noch verfassungsgemäß sei, und auch der wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums empfiehlt derzeit, die Ausnahmeregelungen wieder abzuschaffen. Dergleichen ist allerdings nicht zu erwarten. Anlässlich der Eröffnung der Hannover-Messe hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) noch im Mai eine Erhöhung der Erbschaftssteuer kategorisch ausgeschlossen und damit auf die Klage des Präsidenten des Maschinenbauverbands VDMA, Thomas Lindner, reagiert, der »eine offensichtlich parteiübergreifende Allianz zur Erhöhung von Erbschaftssteuern und Vermögenssteuern für Unternehmen« herbeihalluziniert hatte. Immerhin befindet sich die Bundesrepublik mit dieser Steuerpolitik international in guter Gesellschaft, was zu erwähnen die Kanzlerin nicht müde wird. In 40 Staaten wurde die Erbschaftssteuer bereits ganz abgeschafft und in den meisten anderen ebenso ausgehöhlt wie hierzulande. In den USA etwa, die zu Zeiten des »New Deal« noch eine Besteuerung von 77 Prozent aufwiesen, besteht diese durch Freibeträge in Höhe von 3,5 Millionen US-Dollar, die Schonung von Betriebsvermögen und zahlreiche Ausnahmeregelungen vor allem für Familienangehörige lediglich auf dem Papier – ähnlich wie in Deutschland.

So bleibt auch die Finanzierung des Staates Aufgabe der Lohnabhängigen. Mit 64 Prozent stammen fast zwei Drittel aller öffentlichen Einnahmen aus den Einkommenssteuern, die auf Löhne und Gehälter erhoben werden, Vermögende steuern lediglich zwei Prozent bei. Im internationalen Vergleich mit den OECD-Ländern, in denen die Lohnabhängigen lediglich durchschnittlich 52 Prozent des Staatshaushalts finanzieren müssen, liegt Deutschland damit an der Spitze. Angesichts solcher Zahlen blamieren sich aber auch die Vertreter des Liberalismus und der Sozialdemokratie. »Die neue deutsche Erbschaftswelle bedeutet, dass ein wachsender Teil des Wohlstandes nach einem Prinzip umverteilt wird, das weder den Leistungsidealen der Marktwirtschaft entspricht noch den Gerechtigkeitspostulaten des Sozialstaats – es ist das Prinzip der Abstammung«, stellte Kolja Rudzio, der eher nicht für seinen revolutionären Elan bekannt ist, resigniert in der Zeit fest. So könnte sich die Erbschaft immerhin als Akt praktischer Ideologiekritik an den der kapitalistischen Akkumulation ganz und gar fremden Prinzipien von Leistung und Gerechtigkeit erweisen und deutlich machen, dass »die Erbschaftsgesetze nicht die Ursache, sondern die Wirkung, die juristische Folge der bestehenden ökonomischen Organisation der Gesellschaft« darstellen, wie es bei Marx heißt.
Besonders prägnant hat dies Rainer Hank vom Liberalen Institut formuliert, der für die »Rechtfertigung von Eigentum und Erbe« die endgültige Trennung von Mill fordert: »Liberale sollten sich von der Idee der Chancengleichheit nicht allzu sehr verführen lassen.« Als wäre ein solcher Appell nötig.