Die Anschläge im Sinai und der Machtkampf in Ägypten

Ab in die Wüste

Die Sinai-Krise schien die größte Bewährungsprobe des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi zu werden, doch dann entmachtete er überraschend das Militär. Allerdings sind die Probleme auf dem ­Sinai keineswegs gelöst.

Der Überraschungscoup am Sonntag war perfekt. Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi schickte den verhassten Oberbefehlshaber der Armee, Hussein Tantawi, ehrenhaft in Pension und erklärte die Passagen der Übergangsverfassung für ungültig, in denen sich der Militärrat weitreichende Rechte gesichert hatte. Lapidar erklärte Mursis Sprecher: »Der Präsident hat entschieden, dass die Verfassungserklärung vom 17. Juni für nichtig erklärt wird.« In der Erklärung hatte sich der Militärrat unter anderem das Recht auf Gesetzgebung vorbehalten. Haushaltsentscheidungen konnte er damit im Prinzip blockieren. Zudem sicherte er sich Einfluss auf die Erarbeitung der künftigen Verfassung.
Fast umgehend versammelten sich Massen auf dem Tahrir-Platz in Kairo und jubelten, die Diktatur des Militärs sei abgeschafft. Doch es gab auch Kritik. »Mursi nimmt sich die gesamte Macht«, schrieb die eher linksliberale Zeitung al-Masry al-Youm. Die säkulare Linke fürchtet, dass aus einer Diktatur des Militärrats nun eine Diktatur der Muslimbrüder wird. Tatsächlich hat sich Mursi quasi diktatorische Vollmachten zugesprochen. Statt des Militärrats hat nun der Präsident das Recht, Gesetze zu erlassen und die verfassunggebende Versammlung zu besetzen.

Ob er damit durchkommt, ist noch nicht klar. Der Oberste Gerichtshof könnte die Entscheidung kassieren. Allerdings scheint der vermeintliche Coup auf eine Absprache zwischen Muslimbrüdern und Militär zurückzugehen. Mursi hat zwar den unbeliebten Tantawi entmachtet, aber keineswegs mit der demokratiefeindlichen Garde des Militärs aufgeräumt. Als Nachfolger Tantawis bestimmte er den bisherigen Leiter des Militärgeheimdienstes, Abdel-Fatah al-Sisi. Al-Sisi soll den Muslimbrüdern nahestehen. Er hatte im vergangenen Jahr die sogenannten Jungfräulichkeitstests an Demonstrantinnen verteidigt.
»Was jetzt passiert, wurde geplant, seit dem SCAF (Militärrat) klar war, dass er nicht umhin kommt, mit den Muslimbrüdern einen Deal zu machen«, sagte Sherif Azer von der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte dem britischen Guardian. »Ich glaube, dass sie wussten, dass dies die beste Option für einen sicheren Rückzug sein würde.« Die Veränderung im Machtgefüge Ägyptens kommt zu einem Zeitpunkt, an dem sowohl das Militär als auch der Präsident in Bedrängnis sind. Die Krise im Sinai ist noch lange nicht ausgestanden. Derzeit durchkämmen Soldaten die Ortschaften der Halbinsel zwischen dem ägyptischen Kernland und Israel auf der Suche nach Terroristen und Waffen. Kampfhubschrauber kreisen über den Städten. Jihadisten leisten Widerstand, sie griffen mehrere Checkpoints der Armee an und beschossen Soldaten. Dutzende mutmaßliche Terroristen wurden erschossen, Hunderte inhaftiert. Im Sinai herrscht ein Krieg niedriger Intensität.
Zu Beginn der Sinai-Krise hatte Mursi noch eine schlechte Figur gemacht und nicht nur in Ägypten Zweifel daran aufkommen lassen, ob er für sein Amt geeignet sei. Nachdem in der Nacht zum Montag vorvergangener Woche 16 ägyptische Grenzsoldaten ermordet worden waren, gab die Muslimbruderschaft, aus der Mursi stammt, erst einmal dem israelischen Geheimdienst Mossad die Schuld. Diese These war selbst für die Muslimbrüder kühn – das Ziel des Anschlags war Israel gewesen. Bewaffnete Männer hatten den Checkpoint 16 nahe dem Kibbuz Kerem Shalom gestürmt, einen Panzer und einen Armeelastwagen erbeutet, den Lastwagen neben einem Wachturm in die Luft gesprengt und mit dem Panzer den Grenzzaun angesteuert. Israel hatte den Angriff erwartet. Innerhalb von 15 Minuten war der Panzer zerstört, sechs der Angreifer wurden getötet.
Den meisten Ägyptern erschien die These, Israel habe versucht, von Ägypten aus sich selbst anzugreifen, zu abstrus. Augenzeugen zufolge sprachen die Angreifer Arabisch mit palästinensischem Akzent und Deckungsfeuer aus Gaza begleitete den Angriff. In Kairo gingen die Menschen auf die Straße und kritisierten Mursis Palästina-Politik. »Dass wir mit den Palästinensern im Gaza-Streifen sympathisieren, heißt nicht, dass wir Extremisten die Tür öffnen müssen«, sagte Abdallah Gohama, das Oberhaupt des einflussreichen Tarabin-Clans im Sinai. Mursi hatte nur wenige Tage zuvor den Grenzübergang zum Gaza-Streifen in Rafah geöffnet. Noch am selben Tag vollzog der Präsident eine Kehrtwende, schwor Rache an den Jihadisten und verständigte sich mit Israel. Zwei Tage darauf wurde die größte Militäroperation im Sinai seit 1973 begonnen.

Dabei hat der Muslimbruder viel zu verlieren. Im Sinai hat seine Partei ihre besten Wahlergebnisse erzielt, auch die Salafisten erhielten mehr Stimmen als anderswo in Ägypten. Entgegen den Erwartungen in Ägypten gingen die beduinischen Stammesführer bei den Wahlen fast leer aus. 70 Prozent der Bevölkerung des Sinai sind Beduinen. Noch in den achtziger Jahren, als der Islamismus in der gesamten arabischen Welt zur Massenbewegung wurde, galten sie als wenig religiös und kaum anfällig für den politischen Islam.
Den Boden für eine breite islamistische Opposition und Radikalisierung schuf die Regierung Hosni Mubaraks. Seitdem Ägypten das Gebiet zwischen 1973 und 1982 stückweise von Israel zurückerlangt hatte, wurde die beduinische Bevölkerung konsequent diskriminiert. Die meisten Ägypter aus dem Kernland misstrauten ihnen, da sie sich gut mit der israelischen Besatzung arrangiert hatten, und nannten sie »Sinai-Juden«.
Die lukrativen Jobs in den Touristengebieten im Südsinai erhielten fast ausschließlich Ägypter des Kernlandes. Zahlreiche Regelungen sorgten dafür, dass bei den Beduinen von dem Tourismusboom kaum etwas hängen blieb. So bekamen etwa beduinische Taxifahrer keine Genehmigung, zum Flughafen Sharm al-Sheikh vorzufahren. In der Verwaltung und im Ölpipeline-Geschäft wurden sie selten eingestellt. Noch immer haben mehr als 100 000 Beduinen in dem Gebiet nicht die ägyptische Staatsangehörigkeit.
Ab Ende der achtziger Jahre begannen junge Männer, die vom Studium im ägyptischen Delta zurückkehrten, die Bevölkerung zum Salafismus zu bekehren. Zunächst mit mäßigem Erfolg. Der Anschlag im Jahr 2004 auf ein Hotel in Taba, bei dem 34 Menschen starben, war die erste militante Aktion, die Beduinen zugeordnet werden konnte. Dieser wie auch die folgenden Anschläge und Entführungen bis heute wurden meist in Zusammenarbeit mit palästinensischen Jihadisten verübt. Die beduinisch-palästinensische Kooperation hat dabei auch wirtschaftliche Wurzeln. Mangels regulärer Jobs leben die Beduinen neben der traditionellen Viehzucht vom Schmuggel über die Grenze in den Gaza-Streifen.
Die Regierung Mubarak reagierte stets mit äußerster Härte auf die Terrorakte. Nach den Anschlägen von Taba 2004 wurden 3 000 Männer inhaftiert, in einigen Fällen die gesamte männliche Dorfbevölkerung. Viele von ihnen blieben jahrelang ohne Gerichtsverfahren in Haft. 2008 lieferte sich die Armee tagelange Gefechte mit Jihadisten am Berg Jabal al-Halal im zentralen Sinai und einem Rückzugsort für militante Islamisten. Die Demonstrationen der beduinischen Bevölkerung für mehr Rechte wurden ignoriert.

Mohammed Mursi versprach nunmehr eine neue Politik für die Region. Das dürfte schwierig werden. Denn selbst wenn die Diskriminierung der beduinischen Bevölkerung beendet wird, wird eine wirtschaftliche Verbesserung auf sich warten lassen – gerade wegen der Vielzahl militanter Islamisten, die sich in der Region tummeln. Während des Aufstands Anfang 2011 befreiten sich die inhaftierten Islamisten. Die Polizei hat das Gebiet nicht unter Kontrolle. Inzwischen werden dort regelmäßig Touristen entführt, im Februar waren es drei Südkoreaner, im Mai zwei US-Amerikaner. Der Tourismus wird aber die Haupteinnahmequelle der Region bleiben.
Doch nicht nur die Regierungen sind verantwortlich, auch das Militär trägt eine Mitschuld an der Eskalation der Gewalt – das meinen zumindest israelische Berater. Zwar ist der Sinai seit Abschluss des Friedensvertrags zwischen Israel und Ägypten eine entmilitarisierte Zone, doch erlaubt der Vertrag die Stationierung von 22 000 Soldaten in der westlichen Zone A. Die ägyptische Armee habe aber nur 70 bis 80 Prozent der genehmigten Anzahl permanent dort stationiert, schreibt Ehud Yaari für das Washington Institute for Near East Poliy. Als Israel wegen der Terrorangriffe die Entsendung weiterer Soldaten in die Zonen B und C erlaubte, verlegte die Armee nur die vorhandenen Truppen. Auch die von Israel genehmigten Panzer wurden nie geschickt. Weiter kritisiert Yaari, dass die Sinai-Truppen keinem eigenen Kommando unterstünden, sondern vom Kernland aus befehligt würden.
Dass bei den Truppen im Sinai einiges schiefläuft, wird nun auch in der ägyptischen Öffentlichkeit diskutiert. Die erschossenen Grenzsoldaten hatten nicht nur keinerlei Warnung vor dem Angriff erhalten – sie saßen beim Abendessen –, ihnen kam auch keine Verstärkung zu Hilfe. Die Dorfbevölkerung brachte die Verwundeten ins nächste Krankenhaus. Die Gelegenheit war für den Präsidenten also perfekt, das Militär aus der Politik zu drängen und ihm die Wahrnehmung seiner Kernaufgabe nahezulegen.