Berichtet über das Sommerfest der Anarchisten in der Schweiz

Anarchie ist wie Bubble Tea

Thomas Ewald war im schweizerischen Saint-Imier auf dem Sommerfest der Anarchisten und hat sich über die vielfältigen Strömungen der Bewegung informiert.

Es riecht wie unter der Achselhöhle eines Lastwagenfahrers, dessen Zeitkarte schon lange abgelaufen ist. Das säuerlich-dumpfe Aroma schlägt einem im Kinosaal des Espace de Noir mit voller Wucht entgegen. Es ist stickig und heiß. Knapp 60 Menschen haben sich in dem 40 Quadratmeter großen, schwarz getünchten Kellerloch versammelt, um einen Vortrag über das Verhältnis von Anarchie und Tierschutz zu hören. Die Menge der Zuhörer besteht aus ergrauten Vollbartträgern, kahlrasierten Oi-Skins, Hippies mit Dreadlocks, Reformhauskunden und schlaksigen Nerds mit Mittelscheitel. Willkommen in Saint-Imier. Hallo Anarchismus.
»Wir feiern den 140. Jahrestag des ersten Kongresses von Saint-Imier«, hatten die Veranstalter des Internationalen Anarchistischen Treffens angekündigt. Mehr als 3 000 Anhänger dieser Utopie haben die Einladung angenommen. Michail Bakunin ist für sie ein Säulenheiliger. Nachdem er die Internationale von Marx und Engels verlassen hatte, gründete er 1872 hier in den Bergen des Schweizer Jura die Antiautoritäre Internationale. Bakunin hasste Marx für seinen totalitären Anspruch, da »es eine ebenso absurde wie reaktionäre Anmaßung ist, dem Proletariat bestimmte Prinzipien oder ein einheitliches politisches Programm als einzigen Weg zu seiner sozialen Befreiung aufzwingen zu wollen«. Das sagte der Libertäre während des Kongresses. Der Weg des Kommunismus führe demnach zum »empörendsten Dogmatismus«. Die Formel von Bakunin und seinen Mitstreitern: Kein Staat, kein Chef, keine Hierarchien.
»Ich habe einen totalen Widerwillen gegen das Prinzip, dass eine Person der Anführer ist«, sagt Peter*. Der Berliner will wie so viele andere hier seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Anarchie ohne ein konspiratives Element gibt es anscheinend nicht. Peter vertritt das Forum deutschsprachiger Anarchisten und kümmert sich neben der Pressearbeit um die Utopisten aus Deutschland. Seine Erscheinung erinnert an den Typus des Liegeradfahrers: Er trägt Wandersandalen, ein orangenes T-Shirt und eine kurze Cargo-Hose, das Gesicht ist sonnenverbrannt. »Können wir uns setzen? Ich bin verdammt müde«, sagt er und führt mich in den Salle de Spectacles, einen von insgesamt sechs Orten, an denen diskutiert und vorgetragen wird. Es sei anstrengend gewesen, auch weil es so viele Presseanfragen gegeben habe, sagt er.
Die Wirtschaftskrise und die als Reaktion darauf entstandene »Occupy«-Bewegung, zu deren Vordenkern David Graeber gehört, haben das Interesse der Medien an linken Bewegungen geweckt. Doch die meisten Journalisten reisten enttäuscht ab. »Occupy hat einen anarchistischen Impetus. Aber identifizieren können wir uns damit nicht wirklich«, sagt Peter. Auch auf den »Salonanarchisten« Graeber ist man hier nicht gut zu sprechen. Sie sehen ihn als Autor, der für eine Mittelschicht schreibt, die eigentlich keinen Systemwechsel will, sondern nur Angst hat, ihre privilegierte Stellung innerhalb des Kapitalismus zu verlieren. Aber man könnte doch versuchen, die Wutbürger von den eigenen Ideen zu überzeugen? »Natürlich haben wir großes Interesse daran, aus dem Szeneghetto auszubrechen«, sagt Peter. Aber missioniert wird nicht: »Es gibt da keine anarchistische Initiative.« Und außerdem gebe es nur eine Krise: den Kapitalismus an sich. Der Anarchismus dagegen hat mehr Strömungen als der Bubble Tea Geschmacksrichtungen, für jeden ist etwas dabei. Es gibt sogar »den« Anarchismus, ohne Adjek­tive, eine unbestimmte Richtung, die sich in keine Schublade stecken lassen will.
Immer wieder hört man hier das Wort »Basisprozess«. Flache Hierarchien seien wichtig. Das erinnert stark an die Piratenpartei und ihre Liquid Democracy. »Die sind mir zu parlamentsorientiert«, sagt Jan. Er geht nicht wählen und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Für ihn ist Anarchie die einzige Möglichkeit, die Welt besser zu machen. Die Kappe auf seinem Kopf hat Risse, genau wie seine Hose. »Kein Mensch braucht einen Chef«, sagt er mit gleichgültiger Mine und blickt auf die Punks, die vor ihm die Stahlkappen ihrer Springerstiefel an einer Bank testen. »Wenn ich mit einem Vorarbeiter auf der Baustelle zu tun habe, dann herrscht mehr Chaos als in basisorganisierten Projekten.« Aber was passiert, wenn schnell eine Entscheidung her muss und die Zeit für eine Grundsatzdiskussion fehlt? »Da weiß jeder ziemlich schnell, was er zu tun hat«, sagt er selbstsicher. Es könne zwar mal chaotischer zugehen, gesteht er, aber ein Vorarbeiter wisse auch nie alles, was auf dem Bau passiert: »Chaos gibt es überall.«
Toni, Anarchist aus Slowenien, sieht das weniger gelassen. Er hat seinen freiwilligen Dienst auf dem Treffen schon nach einem Tag quittiert. »Das war mir zu chaotisch. Ich wusste nicht, wann und wo ich meinen Dienst antreten sollte. Dann habe ich es hingeschmissen«, sagt er in gebrochenem Englisch. Hunderte Freiwillige sorgen mit eiserner Disziplin dafür, dass sich die Gäste des Kongresses wohlfühlen. Um 2 Uhr 30 beginnen die Helfer damit, die Tagungsorte und Konzertsäle sauber zu machen. Man will schließlich zeigen, dass das System funktioniert. Der Infostand »Safer Space« ist so etwas wie ein Polizeirevier, wo man sich beschweren und beispielsweise eine sexuelle Belästigung melden kann. Ein Team aus 50 Köchen kümmert sich um das kostenlose Essensangebot. Im Studio des Radio Anarchie des Espace de Noir sitzen sich zwei graumelierte Bärtige gegenüber, um die ersten Diskussionsergebnisse des Tages in den Äther zu senden. Die beiden könnten wahlweise auch als Weihnachtsmänner arbeiten oder in Trier als Marx-Doubles Städteführungen machen.
Es gibt einen Spielplatz für Kinder. Schwarze Bretter dienen als Werbefläche für Kleinanzeigen und als Kummerkasten. Täglich werden die Zettel an den Wänden zahlreicher. Eine kleiner Zettel mit einer Beschwerde über das Tragen von Pali-Tüchern auf dem Kongress entfacht schnell eine große Diskussion. Andere kritisieren den mangelnden Willen der Kongressteilnehmer, ernsthaft zu diskutieren: »Mir gefällt nicht, dass es hier eher um Konsum und Spaß geht, als um die wirklich wichtigen Sachen.«
Im Hinterhof des anarchistischen Zentrums versammelt sich eine Menge, die es ernster meint: Sie wollen einen Vortrag über Faschismus verfolgen. Eigentlich sollten die englischen, kroatischen und französischen Experten ihre Vorträge in dem stickigen Kellerloch halten. Doch nach vierstündiger Diskussionen am laufenden Band hält es dort keiner mehr aus. Eigentlich ist das aber auch nicht weiter schlimm: Die Worte der Redner gehen ohnehin im baby­lonischen Stimmenwirrwarr unter, mehr als 20 Anarchos übersetzen gleichzeitig für ihre Genossen.
Zeit, um sich in Saint-Imier umzuschauen. Es fällt auf, dass es keine sichtbare Polizeipräsenz gibt. Wenn sich mehr als 3 000 Anarchisten in Hamburg träfen, würden Einsatzkräfte aus Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen geordert werden, um die Polizisten der Hansestadt beim Schutz des Bürgertums zu unterstützen. In den Köpfen der Ordnungshüter ist Anarchsimus zu eng mit den »Chaostagen«, mit Gewalt, Exzess und Krawallen verbunden. Aber die Anwohner des 5 000-Seelen-Städtchens wirken unerwartet gelassen angesichts der Punks, die saufend durch die Straßen ziehen. Genauso hätten die Schweizer vermutlich reagiert, wenn hier das internationale Pfadfindertreffen stattfinden würde. Sie sitzen in kleinen Bars, trinken Kaffee und schauen auf das Treiben in ihren Straßen. Die Häuser, die während der Jahrhundertwende entstanden sind, als die Uhrmanufakturen boomten, haben Patina angesetzt. Nach der Quartz-Revolution hat die Stadt keine wirtschaftlichen Perspektiven entwickelt. »Naja, begeistert sind die wenigsten Saint-Imierer«, sagt ein älterer Mann, der mit seinem Hund durch das beschauliche Zentrum Gassi geht. »Es stört sie, dass viele hier schwarz gekleidet sind und diese seltsamen Zeichen zur Schau stellen.« Seltsame Zeichen sind das von einem O eingerahmte A, die schwarze Katze, das verdächtig nach dem Opelblitz aussehende N in einem Kreis. Letzteres ist das Symbol der Hausbesetzerszene. Er selbst geht schon seit 15 Jahren täglich in das Espace de Noir. »Um ein Bier nach dem Spazierengehen zu trinken«, sagt er und ist sichtlich stolz, dass er sich noch ein paar Deutschkenntnisse aus der Schulzeit bewahrt hat. Statt Anarchistenschwarz trägt er die Rentneruniform aus beiger Mehrtaschenweste und kurzärmligem Karohemd.
Der Hundehalter ist nicht der einzige ältere Saint-Imierer, der das Espace de Noir zum Entspannen oder Feiern nutzt. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit singen Familien, Punks und Senioren begleitet von einem Akkordeonspieler alte französische Lieder des Widerstands. Man teilt sich das Baguette, Merguez werden gereicht, und der Alkohol fließt. »Wir sind hier akzeptiert«, sagt Lucas. Er und seine Mutter gehören zum Kollektiv des Espace de Noir. Über dem Kollektiv steht die Kooperative, die das Haus, das einer Bank gehört, gemietet hat. Sie vermieten die Zimmer an Künstler und Aktivisten. »Nein, es ist nicht besetzt, das wäre auch viel zu riskant, wegen der unvorhersehbaren Kosten an Versicherung und anfallenden Reparaturen«, sagt Lucas. Das Geldinstitut ist immerhin die Alternativ Bank Schweiz. Lucas ist in Saint-Imier geboren. Da es in der Stadt weder für ihn noch für seine Altersgenossen berufliche Perspektiven gibt, wohnt er derzeit in Bern. Der 33jährige besucht am Wochenende seine Mutter und übernimmt Thekenschichten im Lokal.
Heute ist er hier der Hausfotograf. Im Unterschied zu mir posieren die Gäste bereitwillig vor seiner Kamera. Der Anstecker mit der Aufschrift »Presse« macht mich zum Außenseiter. Nur wenige wollen sich mit Pressevertretern unterhalten. »Ich sehe das komplett anders. Ich finde es wichtig, dass über uns berichtet wird«, sagt Lucas und beantwortet geduldig alle Fragen. »Ja klar, irgendwann muss man flexibler in seiner Haltung werden. Man muss einen Zwischenweg finden«, sagt er. Lucas arbeitet für den Schweizer Gewerkschaftsbund Unai. Das sei anarchistisch gesehen zwar keine Heldentat, aber auch kein Verbrechen. Er lebe die Utopie mehr für sich und diskutiere mit Menschen, die seine Meinung teilen, erklärt er seinen Lebensstil. Das erinnert doch ein wenig an moderne Religiosität, dieser Glaube an eine bessere Welt? »Quatsch, ich glaube an nichts, und auch nicht an Anarchie.« Das klingt harmlos, als ginge es nur darum, die Rolle der Revoluzzers zu spielen. Und der Mainstream fällt darauf herein: Deswegen kann ein Deodorant wohl auch »Anarchy« heißen, aber eben nicht »Communism«. Obwohl ein 72-Stunden-Deo nun mal überhaupt nichts mit Anarchisten zu tun hat.