Neue Erkenntnisse in den Ermittlungen zum NSU

Heimatschutz dank Verfassungsschutz

Die neuesten Erkenntnisse über die Zahl der V-Leute in der Thüringer Naziszene offenbaren ein noch größeres Ausmaß der Verstrickung der Geheimdienste in den NSU-Skandal als bisher gedacht. Und auch Thüringer Polizeibeamte pflegten offenbar einen zweifelhaften Umgang mit Rechtsextremen.

Aus zwei mach 40: Noch im März hatte die thüringische Landesregierung auf eine kleine Anfrage der Linkspartei geantwortet, dass von 1994 bis einschließlich Januar 2001 zwei V-Männer in der rechtsextremen Organisation »Thüringer Heimatschutz« (THS) tätig gewesen seien. Nun hat eine Berechnung der Untersuchungsausschüsse mehrerer Parlamente offenbart, dass sich im THS nicht bloß zwei V-Männer, sondern über 40 Spitzel oder Informanten betätigt haben, im Auftrag des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), des Thüringer Verfassungsschutzes (TVS) und des Militärischen Abschirmdienstes (MAD).

Zum THS gehörte auch die Kameradschaft Jena, in der sich die NSU-Terroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe betätigten. Etliche Unterstützer des NSU kamen aus der Szene um den THS. »Die Organisation war von Spitzeln durchsetzt«, sagt Martina Renner, stellvertretende Vorsitzende des Thüringer Untersuchungsausschusses und Innenpolitikerin der Linksfraktion. Das wirft viele Fragen zur Informationsbeschaffung und -verhinderung sowie zu den Kosten und Abrechungen für den Spitzeleinsatz auf. Musste doch der ehemalige Präsident des TVS, Helmut Roewer, bereits einräumen, von 1994 bis 2000 etwa 1,5 Millionen Euro in bar für »nachrichtendienstliche Zwecke« an die V-Leute ausgezahlt zu haben.
»Wir sind inzwischen einer Art Aktentsunami ausgesetzt«, sagte Dorothea Marx, die Vorsitzende des Untersuchungsausschusses und SPD-Landtagsabgeordnete, angesichts der neuen Erkenntnisse der Thüringer Allgemeinen. Zudem könne niemand ausschließen, »dass wir dort noch mehr Spitzel finden«. Insgesamt liegen den Untersuchungsausschüssen im Bundestag und im Thüringer Landtag 2 000 Akten vor, darunter 795 Akten des Verfassungsschutzes und 685 der Polizei. Was in den Akten stand, die beim Bundesamt für Verfassungsschutz geschreddert wurden, wäre sicher auch interessant gewesen.
Der THS, eine Organisation um Tino Brandt, Neonazi und V-Mann, war von 1994 bis 2001 in Thüringen der militanteste und mitgliederstärkste rechtsextreme Zusammenschluss. Ihm gehörten bis zu 160 Mitglieder an. Doch wie viele waren nun wirklich Spitzel? Vor dem Untersuchungsausschuss hatte Peter Nocken, der langjährige Stellvertreter von Roe­wer, gar ausgesagt, dass allein Brandt ein V-Mann gewesen sei. Und er bedauerte: »Hätten wir einen zweiten Mann gehabt, der ebenso dicht dran war, hätten wir vielleicht den Aufenthaltsort des Trios ausmachen können.«
Nach den neuen Berechnungen war aber zeitweilig jedes vierte THS-Mitglied ein Informant für das BfV, den TVS oder den MAD. Doch offenbar will kein Amt, kein Dienst etwas gewusst haben. »Sehr unwahrscheinlich«, sagte Renner der Presse. Der THS sei so sehr durchsetzt gewesen, dass man kaum mehr nur »von nachrichtendienstlicher Beobachtung« sprechen könne. Und den Akten zufolge zahlten die Dienste ihren im Sold stehenden Informanten Computer, Autos und Werkstattrechnungen. Auch Anwälte wurden finanziert, ebenso Flugblätter.

Thomas Dienel, einst Neonazi und V-Mann, behauptet, dass der TVS 1997 auch ein Flugblatt mitfinanziert habe, das sich gegen den Landesvorsitzenden der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), Angelo Lucifero, richtete. Der linke antifaschistische Gewerkschafter wurde mit einer Kampagne terrorisiert. Auf einem vermeintlich aus der Antifaszene stammenden Flugblatt wurde er der Zusammenarbeit mit Neonazis bezichtigt, auf einem anderen beschwerten sich angebliche HBV-Mitglieder über den Missbrauch ihre Beiträge. Nach der Enttarnung Dienels im Jahr 2000 lief die Kampagne weiter – mit Folgen. 2007 sah sich Lucifero auf einer Erwerbslosendemonstration genötigt, sich gegen angreifende Neonazis mit einer Handwaffe zu verteidigen. Sein Amt musste er daraufhin abgeben.
An die zehn Todesopfer des NSU-Terrors wird seit der zentralen Gedenkveranstaltung in Berlin kaum noch erinnert. Über die noch lebenden Opfer des NSU und auch des THS wird ebenfalls selten gesprochen. Wie erleben die Angehörigen der Toten all diese Entdeckungen und Vertuschungen? »Aus Selbstschutz versucht Aysen Tasköprü diese Vorfälle und Pannen nicht so sehr an sich herankommen zu lassen, wenn ich das für sie so sagen darf«, sagte die Anwältin Angela Wierig der Taz. Im Verfahren gegen Zschäpe hat sie die Nebenklage für die Schwester des vom NSU ermordeten Süleyman Tasköprü übernommen. »Sie könnte es leichter ertragen, wenn die Tat alleine von kriminellen und verblendeten Menschen zu verantworten wäre; dass diese Taten aber mit freundlicher Unterstützung staatlichen Versagens geschehen konnten, entsetzt«, sagt die Anwältin. »Der Verdacht, dass dieses staatliche Versagen mit staatlicher Vertuschung gedeckelt werden sollte, ist erschütternd.«
Schon vor dem zufälligen Auffliegen des NSU hatte Brandt betont, dass er die staatlichen Gelder für den Aufbau der Szene verwendet habe. Im Thüringer Landtag will Katharina König, Abgeordnete der Linkspartei, wissen, wie die Abrechungen liefen. Das Mitglied des Untersuchungsausschuss vermutet Steuerhinterziehung und Sozialleistungsbetrug. »Nicht nur die direkte Finanzierung von Neonazis ist skandalös«, schrieb König Anfang der Woche in einer Pressemitteilung. »Es stellt sich auch die Frage, ob spitzelnde Sozialleistungsbezieher, wie Empfänger von Arbeitslosengeld, ihrer Mitwirkungspflicht nachkamen und die Zusatzverdienste ordnungsgemäß dem Arbeitsamt mitteilten.« Fraglich sei außerdem, »ob das Landesamt die Honorare oder seine V-Leute selbst ihre Nebeneinkommen beim Finanzamt versteuert« hätten. König urteilt schon jetzt: »Kontrolliert wurde nichts.«
Auch bei der Thüringer Polizei scheint im Umgang mit Nazis etwas außer Kontrolle geraten zu sein. Wie aus einem Bericht des Tagesspiegel vom Wochenende hervorgeht, hatte das Bundeskriminalamt Anfang des Jahres eine Polizistin aus Thüringen vorgeladen, die Michèle Kiesewetter kannte. Die Beamtin war am 25. April 2007 in Heilbronn vom NSU hinterrücks mit gezielten Kopfschüssen getötet worden, ihr Kollege überlebte schwer verletzt. Die Befragung sei auch erfolgt, weil die Polizistin mit dem Patenonkel Kiesewetters befreundet sein soll.
Zu weiterem hält sich das BKA bedeckt. In der Vernehmung räumte die Beamtin jedoch offenbar ein, Rechtsextremisten »privat und dienstlich« zu kennen. Diese Kontakte lösten schon 2009 Ermittlungen des Landeskriminalamts Thüringen aus. Im Dienst soll die Polizistin nämlich polizeiliche Daten abgefragt und an Dritte weitergeleitet haben – an Rechtsextreme, spekuliert der MDR. Dem BKA, berichtete der Tagespiegel, soll die Beamtin zudem gesagt haben, dass bei der Sicherheitsfirma ihres Mannes Nazis beschäftigt gewesen seien. Im Juni 2008 hätten ihr zwei Angestellte berichtet, dass sie im bayerischen Neustadt an der Donau »Türkenklatschen« gewesen seien. Dienstlich unternahm sie nichts. 2009 wurde sie suspendiert und nach der Zahlung einer Geldstrafe 2011 wieder eingestellt.

Im Zuge der NSU-Ermittlungen waren zudem bereits im August Vorwürfe gegen einen Thüringer Polizeibeamten erhoben worden, mit dem THS sympathisiert und Geheimnisverrat begangen zu haben. In einem Schreiben an den Untersuchungsausschuss des Landtages stritt er Ende August jedoch alle Vorwürfe ab. »Ich verwehre mich erneut gegen die Anschuldigungen des ›Geheimnisverrates‹ sowie einer rechten Gesinnung meiner Person«, schrieb der Beamte am 26. August. Er nehme an, ein Mitglied des THS habe ihn mit Falschaussagen denunziert, da er gegen den Mann polizeilich vorgegangen war. Auch hier dürfte die Aufklärung äußerst schwierig werden. Der Beamte wurde, obwohl das BfV auf seine Verbindungen zu Thüringer Nazis aufmerksam geworden war, selbst zum Verfassungsschutz versetzt. Dort war er von September 2010 bis Ende 2011 auf einem besonderen Posten: Er war »V-Mann-Führer« in der Naziszene.