Ungarn braucht Kredite

Verhandeln mit den Verschwörern

Die ökonomischen Vorgaben der EU und des IWF widersprechen den Zielen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Kredite benötigt er trotzdem.

Nationalfeiertage in Ungarn versprechen große Szenen. So auch der Jahrestag des Ungarischen Aufstands von 1956, der am 23. Oktober begangen wurde. Diente er in früheren Jahren vornehmlich den ungarischen Rechten als Anlass, ihre völkische Gesinnung auf die Straßen zu tragen, stand er in diesem Jahr ganz im Zeichen der politischen Polarisierung im Land. Bereits am 15. März, der in Gedenken an die Märzrevolution von 1848 begangen wird, kam es zu ähnlichen Szenen. Wie damals riefen sowohl Anhänger als auch Gegner der Regierung zu Demonstrationen auf. Und wieder einmal waren die Freunde von Ministerpräsident Viktor Orbán in der Überzahl. Mindestens 150 000 – der Regierung zufolge 400 000 – Menschen brachten sie auf die Straße. Die Opposition zählte 80 000 bis 100 000 Demonstranten, mehr als nur ein Achtungserfolg.
Die Demonstration für die Regierung knüpfte an die »Friedensmärsche« vom Januar und März an. Erneut wandte man sich gegen »die fremden Mächte«, die Ungarn nur Böses wollten, allen voran die EU-Institutionen in Brüssel (das »neue Moskau«) und den Internationalen Währungsfonds (IWF). War die Manifestation im Januar von den Streitigkeiten zwischen Ungarn und der EU befeuert worden, hatte der neuerliche Auflauf die gegenwärtigen Verhandlungen mit dem IWF zum Hintergrund.
Seit Juli verhandelt die Regierung nämlich erneut mit der Finanzinstitution über Hilfskredite. Damit setzt sich eine schon lange andauernde Posse fort. Hatte die Regierungspartei Fidesz noch 2010 den IWF regelrecht aus dem Land gejagt, kam es Ende 2011 infolge von Kurseinbrüchen des Forints und steigender Zinsen für Staatsanleihen zu Gesprächen, die jedoch abrupt endeten. Denn die Regierung zeigte keinerlei Konzessionsbereitschaft und sprach stattdessen von einer »internationalen Verschwörung« gegen Ungarn. Es dauerte Monate, bis wieder die Bedingungen für Verhandlungen hergestellt waren. Dabei verlangte der IWF – in Verbund mit EU und Europäischer Zentralbank – die Rücknahme des umstrittenen Gesetzes über die ungarische Notenbank MNB. Diese erfolgte schließlich teilweise. Die Regierung musste auf die Entmachtung des MNB-Präsidenten András Simor und den Zugriff auf die Devisenreserven verzichten. Dennoch ist der staatliche Einfluss auf die Politik der Notenbank, vor allem auf den Leitzins, gewachsen.
Die Korrekturen genügten der EU-Kommission jedoch, um dem IWF grünes Licht für Verhandlungen zu geben. Zugleich setzte sie das verschärfte Defizitverfahren aus, das zu einer Sperrung von Kohäsionsgeldern (Zahlungen, die das regionale Ungleichgewicht mindern sollen) hätte führen können. Mit einem neuen Spar- und Steuerprogramm konnte sie überzeugt werden, dass die Maastricht-Kriterien eingehalten würden. Dabei dürfte auch der Einfluss der deutschen Unionsparteien eine Rolle gespielt haben. Diese hatten im Laufe des Jahres ihrer Schwesterpartei Fidesz immer stärker unterstützt. So wurde eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Union und Fidesz gebildet. In einer anschließenden Erklärung rief die Unionsfraktion alle Finanzminister der EU dazu auf, sich bei der Kommission für eine Freigabe der Kohäsionsgelder einzusetzen.

Das Verhalten der Regierung Orbán gegenüber dem IWF wirkt widersprüchlich. Grundsätzlich verbietet sich für Orbán ein Abkommen mit dem Währungsfonds schon aus ideologischen Gründen. Denn für die völkische Klientel Orbáns stellt der IWF, der nicht selten mit der »jüdischen Weltverschwörung« identifiziert wird, die Speerspitze der »Kolonialisierung« Ungarns durch das »internationale Finanzkapital« dar. Entsprechend macht sie den IWF, der mit der sozialdemokratischen Vorgängerregierung 2008 einen Hilfskredit von 20 Milliarden Euro vereinbart hatte, maßgeblich für die Probleme des Landes verantwortlich. Das Abkommen samt seiner Schuldenlast habe das Land in eine tiefe Abhängigkeit getrieben, die es zu beenden gelte. »Wenn der IWF zurückkommt, werde ich gehen«, hatte Orbán im Sommer 2010 großspurig versprochen.
Das war offenbar etwas übereilt, die Regierung macht nun Zugeständnisse, unter anderem nahm »Volkswirtschaftsminister« György Matolcsy im Oktober erhebliche Budgetkorrekturen vor, einschließlich Einsparungen im Sozialbereich, die die Regierung vermeiden wollte. Doch handelt es sich dabei um Taktik und nicht um einen Kurswechsel. Ein Abkommen mit dem IWF wäre wegen der strengen Kreditbedingungen gleichbedeutend mit der Aufgabe der »nationalen Wirtschaftsrevolution«. Das legt selbst Orbán nahe, wenn er klarstellt, dass er nur ein »gutes Abkommen« akzeptieren werde, das ihm wirtschaftspo­litisch weiter freie Hand lässt, wohl wissend, dass so etwas mit dem IWF nicht zu machen ist. Zugleich betont er immer wieder, dass man die Kredite nur benötige, »um unsere Position zu verbessern – und nicht zum Überleben«. Es gehe allein um ein Signal an die Finanzmärkte.
Deutlicher wird Orbán, wenn er zu »seinem Volk« spricht, wie am jüngsten Nationalfeiertag. »Wir sind keine Schuldsklaven«, lautete das Motto der Demonstration. Es gelte weiterhin, sich nicht »vom Ausland hineinreden« zu lassen. Noch entlarvender ist ein Geheimpapier aus dem Volkswirtschaftsministerium, das der Zeitung Pester Lloyd vorliegt. Die Studie beschäftige sich mit einem möglichen »erneuten Rausschmiss des IWF«: »Man würde diesen so darstellen, dass sich Ungarn dem Westen und der Schuldenlogik nicht gebeugt hat und seine Probleme selbst lösen kann. Der IWF verlange ein Ausbluten des ungarischen Volkes, Orbán hat es – wieder einmal – davor gerettet. (…) Um diesen Effekt auf die Wahlen wirken zu lassen, hat Ungarn Interesse an einer zeitlichen Ausdehnung der Verhandlungen, so das als geheim eingestufte Papier.«
Offenbar bemüht sich der Fidesz bereits, eine Stimmung zu erzeugen, in der diese Propaganda fruchten könnte. Nachdem die rechtskonservative Magyar Nemzet im September eine Liste angeblicher Forderung des IWF veröffentlicht hatte, ließ die Regierung im Oktober unter anderem im Boulevardblatt Blikk Anzeigen schalten, die verkündeten: »Wir werden dem IWF nicht nachgeben.« Auch bei den neuerlichen Spar- und Steuermaßnahmen im Zuge der Budgetveränderungen wird man nicht müde zu betonen, dass diese dem Druck von IWF und EU geschuldet seien.

Bisher scheint die Taktik Orbáns aufzugehen. Zeit hat er sich allemal erkauft. Die Märkte zumindest haben sich beruhigt, so dass der Forint deutlich an Wert zulegte und die Zinsen für zehnjährige Staatseinleihen auf 6,9 Prozent – den besten Wert seit zwei Jahren – sanken. Mit einem Scheitern der IWF-Verhandlungen dürfte sich das schnell wieder ändern. In diesem Fall wäre interessant, was Orbán als »zweite oder dritte Verteidigungslinie« zu bieten hat, die man seines Erachtens bei »riskanten politischen Entscheidungen« benötigt. Der Soziologieprofessor Iván Szelényi von der amerikanischen Yale-Universität spekulierte bereits Anfang des Jahres im Wochenmagazin Heti Világgazdaság, Orbán könnte einen Staatsbankrott provozieren, um mit einem Schuldenschnitt die Krise zu bewältigen. Vor allem scheint er sich Zeit verschaffen zu wollen, um sich neue Geldgeber im Osten, allen voran China, zu erschließen.
Unterdessen arbeitet die Regierung weiter an ihrem »neuen ökonomischen System« und hält an ihren »unorthodoxen Maßnahmen« fest. Der Absicht Matolcsys, die »nationalen Monopole in ausländischen Händen« angehen zu wollen, folgten bereits die Pläne, eine nationale Telefongesellschaft aufzubauen und die Energieversorgung vollständig in ein »Non-Profit-Geschäft« umzuwandeln. Orbán rechnet hierbei mit »erheblichem Gegenwind«. Überdies wurde die Bankensondersteuer, die 2012 zu halbieren und 2013 abzuschaffen die Regierung zugesagt hatte, bisher auf demselben Niveau beibehalten.

All das sorgt für Verstimmungen beim IWF und der EU, denen es nicht einfach um die Haushaltsstabilität geht. Generell ist die EU-Kommission nicht mit der ungarischen Wirtschaftspolitk einverstanden. Sie kritisiert die »ad-hoc-Maßnahmen«, mit denen sich der Staat Geld verschaffe, und fordert »nachhaltige« und »strukturelle« Reformen. Damit verbunden ist auch eine Kontroverse um die Wirkung der ungarischen Wirtschaftspolitik. Dass das Land in diesem Jahr nun doch in die Rezession gerutscht ist, spricht noch nicht für die Position des IWF. Denn dessen Maßnahmen haben sich bisher als desaströs erwiesen. Darauf verweist auch Orbán, der betont, dass die Budgetziele mehr oder minder eingehalten und das Staatsdefizit abgebaut wurde: »Mittlerweile ist Griechenland zusammengebrochen, Ungarn steht noch immer.«
Auch der Vorwurf mangelnder Strukturreformen erweist sich als nebulös. Denn die ungarische Regierung hat drastische Reformen durchgeführt, etwa mit der Umstrukturierung des Staatsapparates, der Behörden, der öffentlichen Einrichtungen und der Arbeitsmärkte. Der Unterschied zur Austeritätspolitik nach EU-Vorgaben ist jedoch, dass die Einsparungen von staatlichen Investitionen und kostspieligen Eingriffen in die Wirtschaft begleitet werden. So zahlt die Regierung Finanzhilfen an von der Pleite bedrohte ungarische Betriebe, die als strategisch bedeutend gelten. Der Stein des Anstoßes scheinen solche Verstöße gegen die Dogmen des Freihandels und des globalen Wettbewerbs zu sein, zumal sie mit der Bekundung einhergehen, zukünftig noch stärker in das Geschäftsleben eingreifen zu wollen.
Orbán geht es um einen Paradigmenwechsel in der Krisenpolitik, den er als »ungarischen Weg« bezeichnet. Die Lasten dürften nicht einseitig verteilt werden. Darin jedoch ein Programm der sozialen Gerechtigkeit zu sehen, wäre falsch, denn diese Politik hilft nicht den Krisenopfern. Un­garische Unternehmer werden begünstigt, die Reallöhne sinken. Nach Ansicht der Regierung soll die Arbeit die »Volksgemeinschaft« voranbringen. Zu diesem Zweck hat die lohnabhängige Bevölkerung auf einen Großteil ihrer Rechte zu verzichten, zu den ersten Amtshandlungen der Regierung gehörte die Einschränkung des Streikrechts im öffentlichen Dienst. Im Gegenzug gibt die Regierung vor, ihre Bürger vor ausländischen Akteuren zu schützen. Es handelt sich also keineswegs um einen sozialstaatlichen »New Deal«, sondern um einen nationalistischen. Für diese völkische Formierung, die durchaus als »nachhaltig« bezeichnet werden kann, sind die Kritiker Orbáns zumeist blind.