HIV- und Hepatitis-Zwangstests

Das Retro-Virus

Viel Lärm um fast nichts oder ein Rückfall in die achtziger Jahre? In Sachsen-Anhalt sollen HIV- und Hepatitis-Zwangstests möglich werden.

Am 29. November berichtet die Mitteldeutsche Zeitung, dass in Sachsen-Anhalt »künftig Zwangstests auf Hepatitis- und HIV-Infektionen bei sogenannten Risikogruppen möglich sein (sollen). Dazu werden gemeinhin Homosexuelle, Drogenabhängige, Obdachlose und Ausländer gezählt.« Andere Medien greifen das Thema auf – so kurz vor dem Welt-Aids-Tag am 1. Dezember lässt man sich diese Geschichte nicht entgehen. Prompt werden Erinnerungen an Peter Gauweilers (CSU) Pläne zu Zwangstestung und Internierung von HIV-Positiven wach. Die von der großen Koalition in Sachsen-Anhalt geplante Novellierung des Gesetzes über die Sicherheit und Ordnung (SOG), wurde aber schon am 13. Juli dieses Jahres in erster Lesung im Landtag behandelt, begleitet von kritischen Stellungnahmen seitens der Deutschen Aids-Hilfe und des Robert-Koch-Instituts in Berlin, das für Epidemien und deren Eindämmung zuständig ist. Über Monate zieht sich diese Auseinandersetzung also schon hin. Im Oktober beantwortete die Bundesregierung eine kleine Anfrage der Linksparteiabgeordneten Barbara Höll mit den Worten: »Eine zwangsweise durchgeführte Testung auf HIV und Hepatitis stellt einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit und gegebenenfalls auch in die körperliche Unversehrtheit nach Artikel 1, Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes dar.«

Zwangstests werden möglich, so die Begründung des Gesetzes, »wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass von der zu untersuchenden Person eine Gefahr für Leib oder Leben eines Dritten ausgegangen ist«: Erforderlich sei »einerseits eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass die zu untersuchende Person mit HIV, Hepatitis B oder Hepatitis C infiziert ist; davon kann ausgegangen werden, wenn bestimmte Umstände eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit begründen. Andererseits muss der Betroffene mit der zu untersuchenden Person so in Kontakt gekommen sein, dass eine Ansteckung möglich ist.« Das ist sehr allgemein – im Gesetzentwurf ist von »Risikogruppen« gar nicht die Rede, worauf die Aids-Hilfe in einer aktuellen Presseerklärung hinweist. Sie lehnt den Passus im Gesetz ab, weil er zu einer Diskriminierung führen könnte, vor allem aber, weil es nutzlos ist: »Hier sollen aufgrund irrationaler Einschätzungen Grundrechte außer Kraft gesetzt werden.« Die Mitteldeutsche Zeitung hat aber wohl nicht ganz Unrecht, wenn sie sich vorstellen kann, welche Minderheiten es treffen könnte. Zumal das Gesetz vorsieht, dass die Polizei, wenn kein Richter erreichbar ist, mit einer Eilanordnung den Test durchführen können soll.
Wenn die Aids-Hilfe in sehr gesetzten Worten das Gesetzesvorhaben kritisiert, ist das weniger dem Umstand geschuldet, dass der Vorgang nicht skandalös wäre, sondern der Tatsache, dass sich viele Schwule an die traumatischen achtziger Jahre erinnert fühlen. So heißt es in der Presseerklärung: »Ganze Menschengruppen wie schwule Männer, Drogenkonsumenten pauschal als ›Risikogruppen‹ zu brandmarken erinnert an die Hardliner-Rhetorik der achtziger Jahre, die wir in Deutschland eigentlich zum Glück weit hinter uns gelassen haben. (...) Diskriminierung tötet, unter anderem weil sie vom HIV-Test und einer Therapie abhalten kann. Es ist besonders bedauerlich, dass solche Berichte ausgerechnet am Vortag des Welt-Aids-Tages erscheinen, dem Tag der Solidarität!« Als wolle man eine Retraumatisierung verhindern, indem man argumentiert, dies habe nichts mit der realen Bedrohung von damals zu tun, tut man so, als sei die öffent­liche Thematisierung des Vorgangs das Problem; dabei war die Intention der Artikel durchweg solidarisch, eben weil das Entsetzen geteilt wird.

Es scheint, als hätten die Medien mehr von der Sache begriffen als das Internetportal queer.de, das von »aufgeschreckten Schwulen«, die sich in sozialen Netzwerken aufregen, und »hysterischen« Szenemedien schreibt: Die mögliche Retraumatisierung wird als tuntenhafte Unmännlichkeit denunziert. Queer.de befindet, dass es sich nicht um den »Kommandoüberfall auf Randgruppen« handle, den die Welt offenbar herbeischreiben wolle – auf Welt Online wurde zunächst sehr verkürzt berichtet, einen Tag später aber in einem ausführlicheren Artikel Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) mit den Worten zitiert, es lasse sich kaum aufzählen, wie viele Grundrechte durch HIV- und Hepatitis-Zwangstests verletzt würden. Auch die Politik scheint demnach den Vorgang anders zu beurteilen, und das, obwohl es in anderen Bundesländern seit Jahren schon ähnliche Regelungen gibt, etwa in Hessen und Niedersachsen.
Warum wird in Sachsen-Anhalt zum Problem, was in einigen westlichen Bundesländern schon längst Wirklichkeit ist? Insgeheim wird offenbar befürchtet, dass in diesem Teil der Ostzone, abgeschottet hinter einer unsichtbaren Mauer aus Ressentiment, die gesetzliche Möglichkeit zur Zwangstestung tatsächlich jenseits aller Rechtsstaatlichkeit angewandt werden könnte. Dafür spricht nicht allein der Gesetzentwurf, sondern vor allem die hinlänglich bekannte Situation von Minderheiten in Sachsen-Anhalt und deren Isolation.

Entsprechend wenige Angehörige sogenannter Risikogruppen leben auch dort – hauptsächlich jene, die nicht wegkönnen: Flüchtlinge mit Residenzpflicht und Leute, die zu wenig Geld haben oder woanders keine Arbeit finden. Sie haben von ihren Nachbarn mindestens ebenso viel zu fürchten wie von der Polizei, die sie nicht schützt, weil sie genauso tickt wie der Rest. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts leben 620 HIV-positive oder an Aids erkrankte Personen zwischen Salzwedel und Naumburg. In diesem Jahr ist die Zahl der Neuinfektionen mit HIV von 40 im vergangenen Jahr auf 70 gestiegen, die meisten von ihnen sind junge Männer, die Sex mit Männern haben. Diese Zahlen scheinen nicht außergewöhnlich zu sein, bezogen auf Sachsen-Anhalt bedeuten sie aber eine überproportionale Steigerung, deren Ursachen wiederum auf die Situation der »Risikogruppen« hindeuten. Vergleichbare Zahlen gibt es, wenig überraschend, für die anderen vier ostdeutschen Bundesländer.

Die sachsen-anhaltinische Aids-Hilfe wies anlässlich des Welt-Aids-Tages auf die Zunahme von Infektionen in Ostdeutschland hin, aber auch auf die mangelnde Förderung durch das Land. Mit 190 000 Euro jährlich würden gerade einmal 40 Prozent der laufenden Kosten für die drei Beratungsstellen in Magdeburg, Halle und Halberstadt gedeckt, ganz zu schweigen von den Sparmaßnahmen, die die Weiterführung von Präventionsprogrammen verhindert hätten. Da ist es geradezu konsequent, wenn staatlicherseits anstatt mit Prävention mit Repression geantwortet wird.
So weit liegen die achtziger Jahre dann doch nicht zurück, zumal es damals gerade die DDR war, die mit Gauweilers bayerischer Aids-Kommission zusammengearbeitet und mit dem Land Bayern noch Ende 1988 ein Abkommen über die Bekämpfung von Aids abgeschlossen hatte. Noch kurz vor dem Ende begann in der DDR eine Panikkampagne, die sich nicht zuletzt gegen die Schwulen richtete. Der Mauerfall verhinderte, dass Gauweilers Träume im Arbeiter- und Bauernstaat Wirklichkeit wurden. Die Diskriminierung aber tötet heute immer noch, auch ohne vordergründige Rhetorik. Schweigen ist ebenso wirkungsvoll.