Der Hungerstreik als politischer Protest

Der Körper als Waffe

Beim Thema Hungerstreik denkt man in Deutschland vor allem an die RAF-Gefangenen. Politische Hungerstreiks von Flüchtlingen und Sicherungsverwahrten erhalten hierzulande hingegen wenig Aufmerksamkeit.

»Ich habe gefastet, um die zu verändern, die mich lieben. Man kann nicht gegen einen Tyrannen fasten.« Mahatma Gandhi, der diese Erkenntnis seinem Freund und Biographen Louis Fisher anvertraute, war eben auch als Hungerkünstler nicht in erster Linie ein antiimperialistischer Befreiungskämpfer. Er wollte, indem er sich demonstrativ und tatsächlich kasteite, vor allem Menschen verändern, nicht ein politisches System. Wenn sein extremer Körpereinsatz ihn auch bisweilen in Lebensgefahr brachte, war er doch stets maßvoll geplant. Keiner der 17 öffentlichen Hungerstreiks des Helden des kalorienarmen Widerstands dauerte länger als 21 Tage. Und auch als er aus privatem Anlass gegen eine verheiratete Inderin fastete, die seinen damals 21jährigen Sohn verführt hatte, erreichte Gandhi sein Ziel. Die Frau musste ihr Haar abschneiden, sein Sohn durfte 15 Jahre lang keine Ehe schließen.

Deutschland, wo zwar nicht die Stopfleber erfunden wurde, aber doch der große Sonntagsbraten als Ausdruck (staats-)bürgerlicher Gediegenheit gilt und man die Kuh keineswegs als heiliges Vieh in Ehren hält, sondern als pflichtbewusstes Batterietier im Dienst der Nahrungserzeugung im Stall, hat keinen Gandhi. In Deutschland dient das Hungern historisch gesehen weniger der selbstbewussten Befreiung von Unterdrückung als der Vernichtung von »lebensunwertem Leben«: Heinz Faulstich hat in seiner eindrucksvollen Studie über das Hungersterben in der deutschen Psychiatrie von 1914 bis 1949 gezeigt, wie Psychiatriepatienten durch die Regime hindurch den außerordentlich hohen Preis gezielter Mangel- und Unternährung zahlen und sterben mussten; den »Minderwertigen« wurden die Rationen gekürzt, damit die »Erbgesunden« etwas weniger darben mussten. Das System wurde im Zweiten Weltkrieg beispielsweise im besetzten Polen für den Einsatz außerhalb psychiatrischer Kliniken optimiert, wo 1941 Deutsche Anspruch auf 2 613 Kalorien am Tag hatten, Polen auf 699 Kalorien und Juden auf 184 Kalorien. »Hunger war der wichtigste Faktor im täglichen Leben im Ghetto«, schreibt Israel Milejkowski, der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Judenrats im Warschauer Ghetto, in seinen Erinnerungen.
An der Schnittstelle von Gandhi und Deutschland, von Vernichtung durch Hunger und Selbst­kas­teiung durch den Hungerstreik stößt man in Deutschland auf die Gefangenen aus der RAF, deren zehn große Hungerstreiks zwischen 1973 und 1989 wohl von mehr Aufmerksamkeit, Unterstützung und Repression begleitet waren als jeder Hungerstreik von Sicherungsverwahrten, Flüchtlingen und Milchbäuerinnen davor und danach. In der ersten ausführlichen Hungerstreikerklärung, zum zweiten, am 8. Mai 1973 begonnenen Hungerstreik, findet sich die Feststellung: »Unsere Isolation jetzt und das Konzentrationslager demnächst kommt raus auf: Vernichtungslager – Reformtreblinka – Reformbuchenwald – die ›Endlösung‹.« Der Knast ist eben, anders als der damalige Chef des Sozialistischen Patientenkollektivs, Wolfgang Huber, meinte, keine Volks­uni; er ist überhaupt kein Ort, der reflektierte Analysen erleichtert.
Auf die kurzschlüssige Analogie zur Judenvernichtung folgt der moralische Appell an jene, die die RAF vielleicht nicht gerade liebten, die mit ihren Gefangenen aber mehr und anderes verbanden als der Staat: »Ohne die Macht, die Gewalt der Straße, ohne die Mobilisierung der antifaschistischen Bürger, die für Menschenrechte und gegen Folter eintreten, auf deren Loyalität die Schweine noch angewiesen sind – hebt unser Hungerstreik unsere Ohnmacht nicht auf. Wir wenden uns also mit unseren Forderungen an euch, Genossen!« Dieser Appell findet sich in der Hungerstreikerklärung von 1973. Dass die Forderungen allein nicht mehr reichen würden, die Unterstützung der »Genossen« zu erhalten, war den Gefangenen aus der RAF damals allerdings schon klar – der Riss zwischen der RAF, die auf eine Politik der Attentate setzte, und der Linken, die in der Legalität verblieben, ohne sich dabei unbedingt an die Gesetze zu halten, war tief. So tief, dass die Gefangenen aus der RAF es für sicherer hielten, ihren Körper einzusetzen, statt sich auf ihre Schriften und Erklärungen zu verlassen.
»Orientiert haben wir uns an den Erfahrungen der IRA mit Hungerstreiks, die im Sommer 1974 durchsetzen wollten, von England in Knäste nach Irland verlegt zu werden«, erläuterte Irmgard Möller später die Strategie. Die IRA-Gefangenen konnten allerdings auf eine andere kulturelle und rechtliche Tradition zurückgreifen. Fasten, auch sich zu Tode zu fasten, war in Irland seit dem Mittelalter ein als Troscad anerkanntes Ritual: Wer in eigener Sache einen sozial höher gestellten Menschen anklagen wollte, weil er ein Unrecht verübt hatte, konnte diesem seine Sicht der Dinge verkünden und sich dann auf dessen Türschwelle niederlassen und hungern. Wasser und natürliche Säfte durfte er trinken. Nur der Angeklagte konnte dieses demonstrative Fasten beenden, indem er sich entschuldigte oder einen Vermittler benannte, den auch der Hungerstreikende akzeptieren konnte. Starb der Hungerstreikende, ohne dass der Konflikt gelöst werden konnte, ging der Tod zu Lasten des Bestreikten, der die Hinterbliebenen des Verstorbenen versorgen musste.

Charakteristisch an diesem Ritual, dem Ähnlichkeiten mit traditionellen hinduistischen Fastenpraktiken nachgesagt werden und das bis in die Neuzeit ausgeübt wurde, ist die Geste des vorwerfenden Duldens. Um im Mittelalter zu bleiben: Ein Ritter wirft dem satisfaktionsfähigen Edelmann den Fehdehandschuh hin und tritt dann gegen ihn an, zumeist im Zweikampf  – der Bauer kann sich gegen seinen Grundherren bestenfalls dadurch wehren, dass er seinen eigenen Körper auf dessen Türschwelle durch das Unterlassen des lebenserhaltenden Essens vernichtet.
Die Selbstzerstörung ist in anderer Hinsicht auch aktives Handeln: Der Hungerstreik, das Todesfasten stellt sich als Akt öffentlicher Kommunikation dar, wenngleich von der Struktur her nicht dialogisch, sonden ein Solilog, weil der Hunger als existentielles Leid keine Verhandlung zulässt, sondern entweder dazu führt, dass er gestillt wird, oder dass der Körper verfällt. Der Ankläger begibt sich nicht in die Küche dessen, dem er ungerechtes Handeln vorwirft, um ihm dort den Appetit zu verderben; stattdessen lässt er sich auf der Schwelle nieder, um den Vorbeieilenden zu signalisieren: »Hier sitze ich und kann nun nicht mehr anders.« Der Hungerstreikende sitzt seine Erklärung ab – und die Kommuniqués über sein körperliches Befinden, die Anschauung des zusehends ausgemergelten und damit die Botschaft nachdrücklicher vertretenden Körpers sollen die Angesprochenen zum Handeln drängen.

In Deutschland regelte entscheidende Jahre die Dienst- und Vollzugsordnung, was zu tun war, wenn einer nicht mehr essen wollte: »Ein Gefangener, der die Aufnahme der Nahrung beharrlich verweigert, wird ärztlich beobachtet. Sobald erforderlich, wird er nach Anordnung und unter Aufsicht des Arztes zwangsweise ernährt.« Das Exempel wurde 1974 an Holger Meins exekutiert, dem – wie damals selbst die Zeit berichtete – zwar gegen seinen Willen und mit Gewalt der Schlauch in den Magen eingeführt wurde, der aber täglich nur 400 Kalorien erhielt. »Es hat also, entgegen den Behauptungen der Justiz, keine Ernährung stattgefunden. Vielmehr ist die zwangsweise durchgeführte, qualvolle Zufuhr von Sondennahrung mittels eines dicken Magenschlauches nichts weiter als eine zusätzliche Tortur.« Das schrieben Ärzte zur Zwangsernährung an Holger Meins in einer Erklärung am 10. November 1974. Meins war einen Tag zuvor in der JVA Wittlich in Rheinland-Pfalz gestorben. Dass zwei Tage später weniger Martinsgänse als sonst verkauft worden wären, ist nicht überliefert. In der Folge wurde der Paragraph 101 ins Strafvollzugsgesetz geschrieben, der bis heute in Kraft ist und die Zwangsernährung legalisiert.
Über Ernährung wurde vor Gericht aber zuletzt in ganz anderen Zusammenhängen gestritten. Der Blick richtet sich nicht mehr auf die Knäste, sondern auf die Pflegeheime. Verhandelt wird dort auch nicht über kommunikative Protestakte, sondern allenfalls über den mutmaßlichen Willen – und dass es um die Ernährung geht, ein Grundbedürfnis des Menschen, wird dadurch verdeckt, dass die Magensonden für die künstliche Ernährung von Menschen im Wachkoma, mit schweren Hirnschädigungen oder Demenzen operativ implantiert werden. Die Ernährung durch das Abhängen der Sondennahrung beenden zu dürfen, um so den Sterbeprozess beschleunigt einzuleiten, gilt mittlerweile als bemerkenswerte Errungenschaft des Kampfes um Selbstbestimmung. Wer fragt da noch, wann sich zuletzt jemand die Mühe gemacht hat, zu versuchen, den schwerkranken und pflegebedürftigen Menschen aufwendig mit der Hand, dem Löffel und echtem Essen zu ernähren.