Aufstand in Pakistan

Die Revolution kann warten

Für vier Tage herrschte Ausnahmezustand in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad. Zehntausende Menschen waren dem Aufruf des muslimischen Gelehrten Mohammad Tahir ul-Qadri gefolgt und belagerten das Parlamentsgebäude. Hat die Revolution Pakistan erreicht?

Der 61jährige Islamgelehrte Mohammad Tahir ul-Qadri spricht aus, was viele Pakistanis denken: »Das ist kein Parlament, das ist eine Gruppe von Plünderern, Dieben und Banditen. Unsere Gesetzgeber sind Gesetzesbrecher!« Wie plötzliche Qadri Bedeutung erlangt hat, wirft Fragen auf, denn es ist unklar, wer ihn unterstützt. Ziel des weitgehend friedlichen Protestes waren eine Reform des Wahlsystems, der Ausschluss krimineller Politiker, vorgezogene Wahlen und die Bildung einer Übergangsregierung unter Einbindung der Judikative und des Militärs.

Bislang war Qadri vorrangig als Gründer der muslimischen Sufi-Organisation Minhaj-ul-Quran und deren politischer Partei, der 1989 gegründeten Pakistan Awami Tehrik (Pakistanische Volksbewegung, PAT), in Erscheinung getreten. 2004 hatte er sein Parlamentsmandat aus Protest gegen die Politik des damaligen Militärherrschers und Präsidenten Pervez Musharraf niedergelegt. In den vergangenen Jahren lebte er im kanadischen Exil und betrieb den internationalen Aufbau seiner Minhaj-Wohltätigkeitsstiftung. Seit Jahren widmet er sich den Themen interreligiöser Dialog, Menschenrechte und religiöse Gewalt. Insbesondere sein im März 2010 publikumswirksam veröffentlichtes religiöses Rechtsgutachten (Fatwa) gegen den Terrorismus, mit 600 Seiten das bislang umfassendste Werk zu dieser Thematik, und der von ihm vertretene »intellektuelle ­Jihad gegen die Brutalität« bescherten ihm Auftritte in den globalen Nachrichtensendern und auf Konferenzen. Im vergangenen Jahr bereiste er vier Wochen lang den Nachbarstaat Indien, wo nahezu ebenso viele Muslime wie in Pakistan leben und zahlreiche Sufi-Bewegungen existieren.

Als er im Dezember vorigen Jahres nach Pakistan zurückkehrte, begann die PAT eine große Medienkampagne für ihren »Langen Marsch«. Woher das Geld für die kostspielige Werbung, den Transport und die Verpflegung der Demonstranten stammt, ist unklar. Es ist zu vermuten, dass Qadri Unterstützer in der Armee und den Sicherheitsdiensten hat. Seine Forderung nach einer Beteiligung des Militärs an einer neuen Regierung und die Duldung der viertägigen Belagerung des Parlaments legen das nahe. Obgleich sich die Generäle seit dem Rücktritt Musharrafs aus dem politischen Tagesgeschäft offiziell heraushalten, achten sie genau auf die Wahrung ihrer Interessen, insbesondere den Schutz der sogenannten Militärökonomie, die viele wichtige Firmen und große Teile des Landbesitzes umfasst.

Einen Tag nach dem Beginn der Proteste vor dem Parlament erließ der Oberste Gerichtshof am Dienstag vergangener Woche einen Haftbefehl gegen Premierminister Raja Pervez Ashraf und 15 weitere Verdächtige. Ashraf soll zwischen 2008 und 2011 in seinem vorherigen Amt als Wasser- und Energieminister mehrere Millionen US-Dollar an Schmiergeldern im Zusammenhang mit Kraftwerkprojekten kassiert haben. Allerdings verweigert die Anti-Korruptions-Behörde die Verhaftung Ashrafs, da deren Leiter Fasih Bokhari die Beweise für nicht stichhaltig hält. Bokhari, ein ehemaliger Marineadmiral, gilt als Gefolgsmann des Präsidenten Ali Asif Zardari. Somit kündigt sich eine neue Runde im Machtkampf zwischen Regierung und Justiz an.

Misstrauisch verfolgt die Militärführung unter Oberbefehlshaber General Ashfaq Kayani die Politik Zardaris und seines Premierministers Ashraf. Auch wenn das Ansehen der regierenden Pakistanischen Volkspartei (PPP) in den vergangenen viereinhalb Jahren aufgrund der schlechten Regierungsführung leidet und die Lage in Pakistan von Korruption, Versorgungsproblemen und den zahlreichen Gewaltkonflikten geprägt ist, erscheint eine Abwahl der PPP nicht sicher, da das Parteiensystem nahezu feudale Strukturen hat. Ein Wahlsieg der zweiten großen politischen Kraft des Landes, der Pakistanischen Muslimliga (PML-N) des 1999 vom Militär gestürzten Premierministers Nawaz Sharif, wäre eventuell sogar noch bedrohlicher für die Pfründe des Militärs. Eine Zeitlang schien die Armeeführung auf den ehema­ligen Cricket-Star Imran Khan zu setzen, der sich allerdings mit seiner Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI) nur schwer gegen die traditionellen großen Parteien PPP und PML-N behaupten kann. Durch populistische Alleingänge wie den von der Armee gestoppten PTI-Konvoi in die kriegsgeschüttelten Stammesgebiete Süd-Waziristans dürfte den Generälen spätestens im Oktober 2012 klargeworden sein, dass Khan ein unsicherer und schwer beeinflussbarer Verbündeter ist. Somit kann vermutet werden, dass der plötzliche Erfolg Qadris dem Wohlwollen der Generäle geschuldet ist. Seine moderat-muslimische Prägung könnte bei vielen Wählern gut ankommen. Dass er kaum als Vertreter des korrupten Establishments oder als Marionette der unpopulären USA gelten kann, deren Drohnenkrieg auf pakistanischem Gebiet er deutlich kritisiert, käme ihm gleichfalls zugute. Soll mit ihm vielleicht eine neue politische Kraft ins Spiel gebracht werden, sozusagen per Revolution von oben? Diese Befürchtung scheinen die großen Parteien des Landes zu hegen. Sie beeilen sich, das Vorgehen Qadris als undemokratischen Erpressungsversuch zu brandmarken. Kleinere Parteien wie die regional in Karachi verankerte MQM zogen ihre anfängliche Unterstützung wegen »Sicherheitsbedenken« zurück.

Auf vehemente Ablehnung stößt Qadri bei den radikalen Islamisten, denen der mystische Sufismus als Unglaube gilt. Seine Fatwas gegen Taliban und al-Qaida machen ihn zu einem hochrangigen Ziel für Attentäter, weshalb die kanadischen Behörden seinem Asylgesuch stattgaben und er die Rückkehr plant.

Die Haltung der pakistanischen Richter und Anwälte ihm gegenüber ist ambivalent. Einerseits scheinen die vom Obersten Richter, Iftikhar Muhammad Chaudhry, während der Proteste unterzeichneten Haftbefehle gegen hochrangige Politiker den Forderungen der Demonstranten zu entsprechen. Anderseits können sie auch als Fingerzeig gewertet werden, dass sich die Judikative nicht die Führung im Kampf gegen die Korruption aus der Hand lassen nehmen will. Es gab keine Aufrufe aus den Reihen der Anwaltsbewegung, die ihre Basis eher in der urbanen Mittelschicht hat, sich dem Protestzug anzuschließen. Außerdem stehen viele Juristen dem politisch geförderten Einfluss islamischer Rechtsprechung, beispielsweise durch den Sharia-Gerichtshof, ablehnend gegenüber. Obwohl Qadri Einfluss auf die nationale Politik nehmen will, setzt sich seine Anhängerschaft vor allem aus Menschen aus seiner Herkunftsprovinz Punjab zusammen, wo die Minhaj-ul-Quran insbesondere in der Großstadt Lahore aktiv ist und unter anderem eine Universität betreibt. Hierin spiegelt sich ein Grundproblem der ethnisch und religiös zutiefst gespaltenen pakistanischen Gesellschaft wider, die Zersplitterung des Parteiensystems und kommunalistische Gewalt.

Neben den Konflikten in der Hafenstadt Karachi eskaliert in den vergangenen Monaten die Gewalt gegen Angehörige der schiitischen Minderheit. Am 10. Januar starben 130 Menschen bei Anschlägen auf Hazara in Quetta, der Hauptstadt Belutschistans unweit der Grenze zu Afghanistan, und im nördlichen Swat-Tal. Die Verantwortung für die Bombenattentate übernahm die sunnitisch-islamistische Lashkar-e-Jhangvi, die mit anderen Jihadisten wie den pakistanischen und afghanischen Taliban sowie der Islamischen Bewegung Usbekistan (IMU) kooperiert.

Um ihrem Protest Nachdruck zu verleihen, ergreifen die Hazara, die in Quetta eine große Gemeinde aus vorrangig afghanischen Flüchtlingen bilden und seit Jahrzehnten in der Stadt leben, ungewöhnliche Maßnahmen – sie bildeten zusammen mit den Leichen Sitzblockaden. Erst als die Zentralregierung den Ministerpräsidenten Belutschistans am Montag voriger Woche absetzte, die Armee die Befehlsgewalt über die Stadt erhielt und Sicherheitsgarantien gab, wurden die bis dahin mit Eisbeuteln gekühlten Opfer beigesetzt. Zu ähnlichen Protesten kam es Donnerstag vergangener Woche in Peshawar, der Hauptstadt der nordwestlichen Provinz Khyber-Pakhtunkhwa. Als rund 3 000 Stammesangehörige mit 15 Leichen, die bei einer Aktion des Militärs gegen vermeintliche Extremisten getötet worden waren, vor den Sitz der Provinzregierung zogen, löste die Polizei die Demonstration mit Gewalt auf.

Weniger dramatisch endete dagegen die Blockade durch Qadris Anhänger in Islamabad am Donnerstag voriger Woche. Nach Verhandlungen mit der Regierung wurde ein Kompromiss erreicht, der den Beteiligten half, das Gesicht zu wahren. Die Nationalversammlung, das pakistanische Unterhaus, soll spätestens am 18. März aufgelöst und eine Übergangsregierung eingesetzt werden, innerhalb von 60 Tagen müssen dann Wahlen stattfinden. Zudem wurde die Einsetzung eines Komitees zur Überarbeitung des Wahlrechts versprochen, um Politikern, denen Korruption und Steuerhinterziehung nachgewiesen wurde, eine erneute Kandidatur zu verweigern. Da jedoch nur eine Minderheit der Abgeordneten und Politiker rechtskräftig vorbestraft ist und zudem viele seit einer 2007 dekretierten Amnestie wieder als unbescholten gelten, ist fraglich, wie viele Kandidaten bei den anstehenden Wahlen überhaupt betroffen sein werden.

Nach der Vereinbarung, die Proteste zu beenden, zeigten sich Regierungsvertreter Hand in Hand mit Qadri, der sie noch Tage zuvor per »Revolution« absetzen wollte. Sie lobten den fried­lichen Protest der Demonstranten, die ihren »Sieg« feierten. Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier wieder einmal ein politisches Puppentheater aufgeführt wurde – ob das Militär, die PPP oder gar beide Kräfte dabei im Hintergrund die Fäden zogen, bleibt im Verborgenen.