Yacine Zaid im Gespräch über Erwerbslosenproteste in Algerien

»Ein Hungerlohn«

Vergangene Woche demonstrierten in Ouargla, Laghouat und anderen Städten im Süden Algeriens Tausende Menschen gegen die Beschäftigungspolitik der Regierung. Aufgerufen hatte die Erwerbslosen­organisation CNDDC (Nationales Komitee für die Verteidigung der Rechte der Arbeitslosen). Die Jungle World sprach mit Yacine Zaid über die Gründe für den Protest und das repressive Vorgehen der Regierung in Algerien. Der 42jährige lebt in Laghouat. Er ist Blogger und Mitglied der unabhängigen Gewerkschaft SNAPAP, die bislang nur im öffentlichen Dienst existiert, sich aber auch um unabhängige Gewerkschaften im Privatsektor sowie die Organisation von Arbeitslosen bemüht. Zaid beteiligt sich auch an den deren Protesten.

Warum genau wird protestiert?

Die Protestierenden sind junge, zum Teil hochqualifizierte Leute, etwa Lehrer oder Ingenieure, die keinen Job haben. Das algerische Regime steckt sie in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die als pré-emploi (»Vorbeschäftigungsverhältnis«) bezeichnet werden. Theoretisch sollen diese prekären Beschäftigungsverhältnisse nicht länger als sechs Monate, höchstens ein Jahr, dauern, bis die Betroffenen einen richtigen Arbeitsplatz haben. In Wirklichkeit gibt es viele Menschen, die teilweise seit acht Jahren in solchen Verträgen arbeiten, für einen Hungerlohn von 6 000 Dinar (ca. 60 Euro) im Monat.

Wie viel bräuchte man, um in Algerien halbwegs über die Runden zu kommen?

Falls man eine Wohnung mieten muss, braucht man rund 40000 Dinar (ca. 390 Euro) im Monat, um in Würde zu leben. Die Regierung spricht dagegen von ihren tollen Erfolgen bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und verweist darauf, dass sie 500 000, eine Million und mehr solcher Verträge vermittelt habe. Seit einiger Zeit nehmen die Proteste der Betroffenen zu, aber auch die polizeilichen Schikanen.
Aufgrund des hohen Ölpreises und durch die Bildung von Rücklagen hat die Regierung heute sehr viel Geld. Sie versuchte eine Zeit lang, den sozialen Frieden zu erkaufen, also die Leute ruhigzustellen. Das funktionierte aber nicht. Gleichzeitig versucht sie, Unterstützung für ihre Politik im Westen zu kaufen: US-Amerikaner, Briten und andere bekommen hier recht einfach Aufträge. Damit glaubt die Regierung, den Rücken frei zu haben, um zu Hause repressiv vorzugehen.

Die Proteste algerischer Arbeitsloser scheinen in den vergangenen Wochen insbesondere im Süden des Landes stark zu sein.

Das große Problem für die Regierung ist der CNDDC. Seine Wortführer sind Beispiele an Mut, Zivilcourage und Kampfgeist für uns. Seine Mitglieder sind vor allem im Süden stark verankert. Seit einiger Zeit finden regelmäßig Protestversammlungen vor Ministerien in Algier statt. Aber in den vergangenen Wochen kam es zu massiven Protesten im Süden. In Laghouat begann es mit einer Versammlung am 20. Februar vor der Arbeitsagentur. Etwa 50 Teilnehmer wurden festgenommen, gegen 23 wurden Verfahren eingeleitet. Darum gab es drei Tage später wieder heftige Proteste gegen die Strafverfolgung und die Festnahmen. Vergangene Woche dann kam es zu der großen Demons­tration von über 10 000 Arbeitslosen in Ouargla.
Die Regierung hat versucht, die Protestbewegung zu spalten, um sie zu schwächen. Von allen Arbeitslosenkollektiven schuf sie »Klone« unter gleich klingenden Namen, die sie dann zu »Dialogpartnern« erhob. Die sollten dann erklären, die Proteste seien abgeblasen. Aber die Regierung konnte die fast landesweite Mobilisierung nicht verhindern.
Sie hat Angst, dass die Bewegung sich stärker organisiert hinter konkreten Forderungen, wie die nach Aufhebung der Prekarität oder nach transparenten Einstellungspraktiken im Erdölsektor. Die Arbeitslosen kommen auch zu Versammlungen anderer Gruppen, wenn etwa die Beschäftigten im Gesundheitswesen für ihre Interessen protestieren, und unterstützen diese. Es bildet sich ein immer größeres Bewusstsein für Bürgerrechte und Solidarität. So etwas beunruhigt die Regierung sehr.

Einige Sprecher von Regierungsparteien, aber auch Oppositionspolitiker behaupten, die Proteste seien vom Ausland gesteuert.

Da wurden schon viele verdächtigt: Mal soll es die CIA gewesen sein, mal Bernard-Henri Lévy, der eine Destabilisierung Algeriens beabsichtige, um ein Szenario ähnlich wie in Libyen 2011 einzuleiten, mal Katar … Es gab eine regelrechte Verleumdungskampagne der Regierung gegen Tahar Belabès, einen der wichtigsten Wortführer der Arbeitslosenbewegung. Ihm wurde etwa vorgeworfen, zwei Wochen vor den Protesten eine Demonstration gegen die algerischen Behörden in Genf organisiert zu haben. Aber das wäre unmöglich: Er hat gar keinen Pass und kann deswegen nicht reisen. Sogar zur Beerdigung seines Vaters, der in Ägypten starb, konnte er nicht gehen. Er veröffentlichte dann eine Kopie des Urteils, mit dem ein Gericht ihm die Ausstellung eines Passes verweigerte, weil Verfahren gegen ihn liefen.

Angeblich gibt es Geld aus dem Ausland zur Unterstützung der Proteste durch wohltätige Projekte.

Ein Journalist der algerischen Tageszeitung ­al-Watan war vor Ort und konnte mit eigenen Augen sehen, wie die Leute ihr weniges Geld ­zusammenlegen und Kleingeld sammeln, um Sandwichs als Verpflegung für die Protestierenden und Transparente zu kaufen. Meines Erachtens ist es eher die algerische Regierung, die für ausländische Interessen arbeitet, als diese jungen Leute.

Was werden die nächsten Schritte der Arbeitslosenbewegung sein?

Ich möchte mich hier nicht zu ihrem Sprecher aufschwingen. Im Augenblick wird sie sich sicherlich gegen die Repression richten müssen, es sitzen noch einige Vertreter in Haft. Hier in Laghouat wurden sieben der sogenannten Rädelsführer der Arbeitslosenproteste ins Gefängnis geworfen. Ihnen wurden Landfriedensbruch, Störung der öffentlichen Ordnung und Sachbeschädigung vorgeworfen. Der Staatsanwalt forderte fünf Jahre Haft! Letztlich wurden sie in einem Eilverfahren zu einem Monat Haft ohne Bewährung verurteilt. Ein härteres Urteil konnte sich die Justiz dann doch nicht erlauben. Es gab ein erhebliches Aufsehen in den Medien und Anwälte aus ganz Algerien eilten herbei. Das »Netzwerk der Anwälte für die Verteidigung der Menschenrechte« (RADDH) mobilisierte dazu. In einigen Tagen werden die Leute freikommen. Aber gegen einen von ihnen, Mohammed Rag, wurden bereits weitere Prozesse eingeleitet, etwa wegen »Aufforderung zu Straftaten«. Angeblich soll er nun auch noch drei Monate zuvor einen Polizisten mit einer Stichwaffe tätlich angegriffen haben. Das ist alles sehr merkwürdig: Er soll einen mit einer Kalaschnikow bewaffneten Polizisten mit einem Messer attackiert haben. Und seltsamerweise brachte der Polizist den Vorfall erst jetzt, drei Monate später, zur Anzeige.

Am 20. Februar, gleichzeitig mit dem Beginn der Proteste, wurde auch ein Kongress von Arbeitslosenvertretern aus Tunesien, Algerien, Marokko und Mauretanien, die sich zur Vorbereitung des Weltsozialforums Ende März in Tunis trafen, von der Polizei aufgelöst.

Ja, im Gewerkschaftshaus in Algier! Dort hatte die unabhängige Gewerkschaft SNAPAP die Delegierten aufgenommen. Es handelte sich um diplômés chômeurs, Arbeitslose mit Hochschulabschluss, aus den verschiedenen Ländern des Maghreb. Die Teilnehmer wurden festgenommen, jene aus den Nachbarländern abgeschoben. Das Regime glaubt, freie Hand für repressives Durchgreifen zu haben. Aber es geht dadurch politische Risiken ein.