Der zweite Teil der »Paradies«-Trilogie von Ulrich Seidl

Wo der Mensch ein Sünder ist

Zwischen Entfesselung und Ordnung, Betulichkeit und Missionseifer: Ulrich Seidl  folgt im zweiten Teil der »Paradies«-Trilogie einem perfekten ästhetischen Konzept.

Ausgerechnet ein unwohnliches, schlecht beleuchtetes Büro- und Arbeitszimmer ist in »Paradies: Glaube« der Schauplatz glühender religiöser Hingabe. Ulrich Seidl setzt diesen Raum, der von der spirituellen Atmosphäre asketischer Andachtsräume denkbar weit entfernt ist, gleich in der ersten Szene präzise komponiert ins Bild – symmetrisch, zentralperspektivisch und zunächst unbewegt: in der Mitte ein Fenster, mit Vorhängen und Jalousien verhängt, an der rechten Wand ein großes Kruzifix, an der linken ein Jesusbild, darunter ein Schreibtisch mit Laptop und Drucker. Alles hat seinen zugeteilten Platz. Auch der Schlüssel zur Schublade, in dem die Selbstgeißelungswerkzeuge aufbewahrt liegen, die Anna Maria (Maria Hofstätter) wenig später in Gebrauch nimmt, findet sich immer wieder unter der Schreibtischmatte verstaut. Und wenn die gläubige Katholikin mit einem Bußgürtel auf Knien durch die ganze Wohnung robbt und dabei das Ave Maria rauf- und runterbetet, stellt sie sich dafür den Wecker – religiöse Emphase trifft auf Planungs- und Ordnungswillen.
Es herrscht in »Paradies: Glaube«, dem zweiten Teil von Seidls »Paradies«-Trilogie, eine permanente Spannung zwischen Kontrolle und Kontrollverlust, Entfesselung und Ordnung, zwischen christlicher Betulichkeit und übergriffigem Missionseifer, libidinösem Begehren und religiösem Fieber. Auch bildästhetisch setzt sich diese Bewegung fort: So trifft Seidls visueller Konzeptualismus mit symmetrisch gebauten, kontemplativen Einstellungen, die die rituellen Abläufe in Anna Marias Wohnung festhalten – Gebete, religiöse Gesänge an der Heimorgel, Treffen mit der »Sturmtruppe der Kirche« Legio Herz Jesu –, immer wieder auf die Unordnung der Verhältnisse, die dann eben auch unsaubere und bewegte Bilder hervorbringt. Wenn Anna Maria bei ihren Wandermissionen an fremden Türen klingelt und sich mit unerschütterlicher Penetranz Zutritt in (oftmals migrantische) Alltagswelten verschafft, die sie unter ihre Kontrolle zu zwingen versucht, übernehmen Handkamera und Improvisation das Regime und bringen das Unkontrollierbare, Ungebändigte und Affekthafte zum Sprechen. In einer herrlich schrulligen Szene kontrastiert Seidl die aseptische Atmosphäre von Anna Marias in Beige gehaltener Wohnung mit der des kauzigen, nur mit einer Unterhose bekleideten Messies Herrn Rupnik, gespielt von Seidls langjährigem Mitstreiter Rene Rupnik. In seiner bis unter die Decke mit Krempel zugestellten Wohnung lässt sich nur schwer ein Platz für die über einen halben Meter große Wandermuttergottesstatue finden, die Anna Maria bei ihren Hausbesuchen (»die Mutter Gottes kommt zu Ihnen zu Besuch«) den Bewohnern überlässt. Nachdem sie endlich einen Ort auf einem mit Kleidern zugehäuften Bett gefunden haben, wird zum gemeinsamen Gebet aufgefordert. Eingeklemmt zwischen tausend Sachen, fällt das Beten, zumal auf Knien, jedoch nicht leicht, vor allem Rupniks Kniebeschwerden und seine abschweifenden Bemerkungen über weibliche Fettpolster stören immer wieder Anna Marias Versuche, eine andächtige Stimmung herzustellen. Diese, zum dokumentarischen Genre tendierenden Szenen sind wichtig, da sie den Film zum Gesellschaftlichen hin öffnen. Bei einem anderen Hausbesuch, der allerdings weniger komisch als beklemmend ist, versucht Anna Maria hartnäckig eine junge, aus Russland emi­grierte Alkoholikerin zu bekehren – nicht zuletzt wirft Seidl hier auch einen Blick auf die Einsamkeitserfahrung von Migranten und lässt darin die Abgründe österreichischer Einwanderungspolitik momenthaft aufscheinen.
Die Katholikin Anna Maria ist die Schwester der sexuell frustrierten Theresa, die sich in »Paradies: Liebe« während eines Kenia-Urlaubs in der postkolonialen Liebesökonomie verheddert – und deren pummelig-apathische Teenager-Tochter Melanie sich in »Paradies: Hoffnung«, dem dritten und letzten Teil der Trilogie, in einem Diätcamp unglücklich verliebt. Eine gemeinsame Familiengeschichte der beiden Schwestern ist schwer vorstellbar, zu widersprüchlich scheinen die Extreme von Sextourismus und religiöser Verausgabung. In der Liebesbedürftigkeit und Einsamkeit von Theresa, Anna Maria und Melanie finden die drei Filme jedoch ihre Gemeinsamkeit – eine Bedürftigkeit, die auch in »Paradies: Glaube« körperlich beantwortet wird. Wenn sich Anna Maria vor dem Kreuz ihrer Kleider entledigt, um sich mit der neunschwänzigen Katze für ihre eigenen Sünden, aber mehr noch für die »Sexbesessenheit« der Gesellschaft zu strafen, mischen sich libidinöse Energien in ihre religiöse Hingabe. Wie irdisch ihre Jesusliebe ist, zeigt sich auch dann, wenn sie ein großes Kruzifix mit ins Bett nimmt und es als einen »Körper« behandelt – mit all seinen (masturbatorischen) Konsequenzen.
So zeigt sich erst im zweiten Teil, welcher ästhetische Entwurf hinter der »Paradies«-Trilogie tatsächlich steckt. Seidl wirft seine einsamen und sehnsüchtigen Frauenfiguren mitten ins Getriebe der Macht- und Herrschaftsapparate (postkoloniale Ökonomien, Religion, Körperdisziplinierung), auf dass sie sich darin ordentlich abstrampeln. Vor allem als Anna Marias Ehemann Nabil (Nabil Saleh), ein ägyptischer Muslim, nach langer Abwesenheit plötzlich wieder auftaucht, wandelt sich »Paradies: Glaube« endgültig zu einer Versuchsanordnung. Nabil ist von der Hüfte abwärts gelähmt, was es seiner Frau unmöglich macht, ihn abzuweisen. Das Gebot christlicher Nächstenliebe verlangt, dass sie ihn badet, ihm das Bett richtet und für ihn kocht. Anna Maria sieht Nabils Rückkehr als eine schwere Prüfung Gottes – und scheitert. Denn ihre Ignoranz und Überheblichkeit beladen sie nicht nur mit Schuldgefühlen, sondern entfachen schließlich auch in ihrem Mann die brutalsten Instinkte. Dass Nabil, der doch alle Gründe hat, sich gegen seine Frau aufzulehnen, dann ausgerechnet das Stereotyp eines muslimischen Patriarchen herauskehrt – er beschimpft seine Frau als Hure und fällt plump über sie her –, zählt dabei zu den Schwachstellen des Films. Zumindest sind in diesem Religions- und Ehekrieg die Ambivalenzen weitgehend neutralisiert, die in »Paradies: Liebe« zwar höchst ungemütlich, aber doch herausfordernd sind. Die filmische Konstruktion ist in »Paradies: Glaube« ohnehin besonders offensichtlich – und wird nicht zuletzt erkennbar in Seidls ästhetischem Konzept, das nie zuvor so perfekt durchgestaltet war. Aber während Theresas und Melanies Sehnsüchte nachvollziehbar aus den gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgehen und man ohne weiteres an ihrer Erfahrungswelt teilnehmen kann, scheinen Anna Marias Nöte vor allem einer filmischen Setzung zu folgen. Doch letzten Endes macht es auch wieder keinen Unterschied, auf welches Objekt sich das Liebesbegehren richtet: mit Zweifeln, Enttäuschungen und Verwerfungen ist in jedem Fall zu rechnen.

»Paradies: Glaube« (Österreich/Deutschland/Frankreich 2012). Regie: Ulrich Seidl, Darsteller: Maria Hofstätter, Nabil Saleh, Natalya Baranova. Filmstart: 21. März