Die Finanzpolitik der ägyptischen Regierung

Islamisch verarmen

In Ägypten wachsen die Schulden, die Armut und die soziale Ungleichheit. Die islamistische Regierung wird trotz ihrer als Ausdruck sozialer Gerechtigkeit inszenierten islamischen Sozial- und Finanzpolitik wenig daran ändern.

Noch Ende 2005 bewertete die Goldman Sachs Investment-Gruppe neben Südkorea und der Türkei auch Ägypten als eines der »Next Eleven«-Länder. Diese Zeiten, in denen Ägypten ein wirtschaftlicher Aufstieg zugetraut wurde wie Indien und China, scheinen in weite Ferne gerückt. Kaum im Amt, haben Präsident Mohammed Mursi und Finanzminister al-Morsi al-Sayed Hegazy von der »Partei für Frieden und Gerechtigkeit« (FJP), dem parlamentarischen Ableger der Muslimbruderschaft, alle Hände voll zu tun. Beharrlich werben sie bei den USA, Deutschland, China, Saudi-Arabien und Katar um Investitionen und Kredite. Aus Deutschland und den USA gab es Absagen, Ägypten habe zunächst strukturpolitische Probleme zu lösen. Neben der Forderung nach Demokratisierung ist das Erfüllen der Kreditkriterien des Internationalen Währungsfonds (IWF) Voraussetzung für die Anerkennung als Investitionsland. Sollte der Kredit von 4,8 Milliarden US-Dollar, über den die ägyptische Regierung derzeit mit dem IWF verhandelt, ausgezahlt werden, werden die USA und Deutschland noch Hunderte Millionen US-Dollar zusätzlich schenken.

Dies ist eine unabdingbare finanzielle Hilfe, denn schon im Februar wurde bilanziert, dass die Devisenreserven für dringend nötige Grundnahrungsmittel in drei Monaten erschöpft sein werden. Jedoch verlangt der IWF drastische Maßnahmen wie das Streichen von Öl- und Nahrungsmittelsubventionen, weitere Privatisierungen und die Einführung der Mehrwertsteuer. Auch wenn der IWF im Gegenzug ein besseres soziales Sicherungssystem verlangt, zeigt die Erfahrung mit ähnlichen IWF-Krediten in Asien, dass der Kampf gegen die Staatsverschuldung und um bessere Investitionsbedingungen auf dem Rücken der Armen ausgetragen wird. Daher wird dies von linken Parteien wie der Strömungspartei und der Sozialistischen Allianz abgelehnt, aber auch von unabhängigen Gewerkschaften und der nach einem 2011 ermordeten Aktivisten benannten außerparlamentarischen Mina-Daniel-Bewegung. Erste Subventionskürzungen führten bereits zu Teuerungen und Versorgungsengpässen sowie zu Protesten vor Bäckereien und zu Straßenblockaden. Im Jahr 1977 hatten Preiserhöhungen einen »Brotaufstand« ausgelöst, seitdem kürzten die Machthaber Subventionen allenfalls behutsam.
Der FJP, und mehr noch der salafistischen Partei al-Nour, bereitet hingegen ein anderer Aspekt der IwF-Kredite Sorgen: der Zins. Zinsen gelten als riba, also nicht mit der Sharia vereinbare Geldeinnahmen. Bisher ist die Politik der FJP eher pragmatisch als fundamentalistisch. Erst als im September vorigen Jahres Vertreter von al-Nour den so interpretierten Verstoß gegen die Sharia ansprachen und damit eine öffentliche Diskussion auslösten, kam die FJP in Argumentationsnot. Tarek Shaalan, Vorsitzender des Wirtschaftsreferats der FJP, versuchte zu schlichten und sagte angesichts des IwF-Zinssatzes von 1,1 Prozent: »Solange wir zu so einem geringen Zinssatz Kredit bekommen, werden wir die Schuldenlast nach und nach so weit reduzieren, bis wir zu Sharia-gerechten Konditionen Liquidität herstellen können.« Diesem Geist verpflichtet rief Mursi wenige Tage danach auf einer Veranstaltung Zehntausenden Anhängern zu: »Eher würden wir sterben, als riba zu essen«, und beeilte sich zu beteuern, dass die IWF-Kredite, entgegen der üblichen Argumentation, keinen riba darstellten.
Seither ist in dieser Diskussion Ruhe eingekehrt und man konzentriert sich auf die Vorbereitung der Gesetze zu islamischen Wertanlagen, den sogenannten sukuk. Vor zwei Wochen wurde ein Gesetzentwurf dazu verabschiedet. Nach der noch ausstehenden Ratifizierung wäre die Auflage von staatlichen und privaten islamischen Bonds im großen Stil möglich, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien bekunden bereits Interesse. Interessant am Ratifizierungsprozess ist, das ein Gelehrtenrat der islamisch-konservativen Universität al-Azhar überprüfen soll, ob das Gesetz mit der Sharia vereinbar ist.
In keiner Rede und Veröffentlichung der FJP darf zurzeit der Verweis auf ihr Eintreten für soziale Gerechtigkeit fehlen, das ist unabdingbar für eine Partei, die sich auf die Revolution beruft. Die vor 40 Jahren eingeleitete Politik der wirtschaftlichen »Öffnung« (infitah) hat große soziale Ungleichheit hervorgebracht und regimenahe Oligarchen begünstigt, seit 2011 schreckten die Unruhe Touristen und die chaotische Regierungsführung Investoren ab.
Die FJP tut nichts dagegen und hat keine kohärente Wirtschaftspolitik. Zum einen ist wahrscheinlich, dass sie sich die tourismusfeindliche Politik von al-Nour zu eigen macht, zum anderen bekämpft sie die nach dem Sturz Mubaraks entstandene unabhängige Gewerkschaftsbewegung. Wo es geht, wird diese durch die Neubesetzung von Gremien politisch isoliert. Zudem toleriert die Regierung Entlassungen von Gewerkschaftern und Streikenden sowie deren juristische Verfolgung. Erst Ende 2012 wurden Streikende zu drei Jahren Haft verurteilt. Das, was bisher vom geheimen Gesetzentwurf der FJP zu Streiks und Demonstrationen durchgesickert ist, unterstreicht ihre arbeiterfeindliche Einstellung.

Dennoch versteht sich die FJP, weil sie sich auf eine »islamische Ökonomie« beruft, als sozial gerecht. Verdeutlichen lässt sich dies an der 2011 erschienenen Aufsatzsammlung »The Fiscal System in Islam« des derzeitigen Finanzministers Hegazy. Darin wird beschrieben, wie islamische Finanzpolitik »soziale Sicherheit, ökonomisches Wachstum und die Maximierung sozialer Wohlfahrt« erreiche. Als Lösung für Verteilungsprobleme soll die islamische Sozialabgabe zakat dienen. Nicht zu verwechseln sei sie mit dem ungerechten herkömmlichen Steuersystem, denn dieses erhebe Pro-Kopf-Steuern und Pauschalabgaben, während zakat eine Abgabe auf wirtschaftliche Transaktionen sei. Durch zakat ließen sich Subventionen und soziale Sicherung finanzieren, so Hegazy, außerdem solle es Mindestlöhne geben – eine Maßnahme, die sich weder von konventioneller Finanz- und Sozialpolitik unterscheidet noch die derzeitige Politik der FJP darstellt. Hegazy betont weiter, Arbeiterinnen und Arbeiter seien »wie Brüder zu behandeln«. Diese paternalistisch-patriarchale Rhetorik ist der Verankerung der FJP in der gutsituierten bürgerlichen Mittelschicht geschuldet. Die Aufgabe von Gewerkschaften beschränkt Hegazy auf rechtsanwaltliche Unterstützung bei Prozessen. Über die eigentlichen »Klassenkampfthemen« soll gemäß seinen korporatistischen Vorstellung eine der Regierung angegliederte »Expertengruppe« beraten und entscheiden.
Der in den USA lehrende Professor Timur Kuran hat Mitte der nuller Jahre wiederholt die Behauptung kritisiert, das »Islamic Banking« schaffe soziale Gerechtigkeit. Nicht nur habe beispielsweise zakat keinen theoretischen Vorteil gegenüber konventionellen Steuersystemen. Am Beispiel der Praxis in Pakistan und Malaysia zeigt er, dass die Abgabe unsozial erhoben werde und nach Abzug von Verwaltung sowie Förderung von Islamschulen und Pilgerreisen nur zehn bis 15 Prozent davon für die Armen übrig blieben.
Ein finanzpolitisch islamisch umgestaltetes Ägypten dürfte sich hiervon wenig unterscheiden. Der im »Islamic Banking« proklamierte »dritte Weg« zwischen Sozialismus und Kapitalismus und die angestrebte Mittelstellung zwischen Demokratie und Diktatur wird nicht »das Beste aus jedem System« bereithalten, wie behauptet – zumindest nicht für die Mehrheit der Bevölkerung. Es ist zu hoffen, dass sich solche Phrasen erledigen, wenn islamistische Gruppen ihre Konzepte in die Praxis umsetzen und damit den Widerstand der Bevölkerung hervorrufen.