Das Buch »Landschaften der Metropole des Todes« von Otto Dov Kulka

Wie ein Nachtfalter

Rückkehr nach Auschwitz: Der israelische Historiker Otto Dov Kulka schildert in »Landschaften der Metropole des Todes« den Ort, an dem er seine Kindheit verbrachte und seine Familie verlor.

Auschwitz war immer da!« – so fasst Otto Dov Kulka heute seine Lebensgeschichte zusammen. Jahrezehntelang aber wussten nur die Wenigsten, dass der inzwischen emeritierte Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität in Jerusalem in Auschwitz interniert war.
Im September 1943 wird er im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert. Dort beginnen auch seine im Buch veröffentlichten Erinnerungen. Die Kulkas werden in das Familienlager eingewiesen, einen surrealen Ort inmitten der Todesfabrik. Kulka wird die Geschichte des Ortes später genau erforschen. Das Familienlager in Auschwitz wirkt wie aus der Realität gefallen. Die Häftlinge erleiden nicht den sofortigen Tod, sondern dürfen leben und als Familien zusammenbleiben, Karten an Freunde und Angehörige schreiben. Sie werden nicht selektiert, doch die Sicherheit ist trügerisch.
Die Nationalsozialisten sehen sich zu dieser Zeit mit kritischen Nachfragen des Internationalen Roten Kreuzes konfrontiert. Das Rote Kreuz wird schließlich in das Ghettolager Theresienstadt eingeladen, um zu demonstrieren, dass man die Juden gut behandele. Außerdem errichtet die SS das Familienlager für den Fall weiterer Nachfragen. Nachdem das Rote Kreuz mit dem Besuch in Theresienstadt zufriedengestellt ist, braucht man das Familienlager nicht mehr. Nach sechs Monaten, im März 1944, werden die 5 000 Häftlinge selektiert und ermordet. Darunter sind auch viele Familienangehörige von Kulka. Wenig mehr als 30 Menschen überleben die Morde, unter ihnen Dov Kulka und seine Mutter. Beide sind zu diesem Zeitpunkt als Patienten im Krankenbau untergebracht, sie werden am Leben gelassen, um die anderen Häftlinge in Sicherheit zu wiegen. Nach der Entlassung aus dem Krankenbau ist allen überlebenden Häftlingen klar, dass die 5 000 im Mai 1944 aus Theresienstadt eintreffenden Juden ebenfalls nur sechs Monate zu leben haben. »Wie der Sand einer Sanduhr unerbittlich rieselt« – so beschreibt Kulka die Gewissheit, dass die Häftlinge im Krematorium enden werden. Doch er überlebt auch die nächste Reihe von Morden wie durch ein Wunder: Nach den Selektionen sind einige Dutzende Jugendliche ausgewählt worden, die die Karren mit den toten Häftlingen ziehen sollen, denn »schließlich sind menschliche Arbeitskräfte billiger als Pferde«, schreibt Kulka. Er entkommt so erneut dem Tod und wird schließlich, im Jahr 1945, auf die Todesmärsche geschickt. Nur sein Vater und er überleben die Shoa.
Otto Dov Kulka geht nach Israel und versucht zunächst acht Jahre lang zusammen mit anderen Jugendlichen im Kibbuz seine Vorstellungen von einer gerechten Welt zu verwirklichen. Über die Erinnerungen an Auschwitz schweigt er. »Wir kamen alle aus Europa und hatten alle eine Geschichte im Holocaust hinter uns. Da haben wir nicht drüber gesprochen. Wir wollten eine neue Gesellschaft aufbauen«, erzählt Kulka im Gespräch über sein Buch. Er studiert, promoviert und wird Historiker mit dem Schwerpunkt der Erforschung der Shoa. Und dabei bleibt er die nächsten Jahrzehnte. Ihn fragt niemand nach seiner Vergangenheit – auch seine Studenten nicht.
Kulka, der gute Deutschkenntnisse hat, ist einer der ersten israelischen Historiker, der von seinem Doktorvater nach Deutschland geschickt wird, um über die Shoa zu forschen. Hier begegnet er Historikern, die aus der Flakhelfergeneration der Hitlerjugend kommen. Und auch jetzt spricht er nicht über seine Vergangenheit.
1978 nimmt er an einem Kongress in Polen teil und entschließt sich, in seiner freien Zeit nicht irgendwelche schönen Städte wie Krakau zu besuchen, sondern Auschwitz. Im Buch schildert er ausführlich die Fahrt dorthin; allein unterwegs, in einem klapperigen Taxi zum Ort seiner Kindheit, den er im Buch »die Metropole des Todes« nennt. Er läuft durch die Trümmer der Krematorien und nimmt Erinnerungsstücke mit. Immer wieder holt ihn die Vergangenheit ein. Er selbst hatte die Krematorien nie betreten und dennoch in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihnen gelebt. »Ich habe sie umkreist wie ein Nachtfalter die Flamme«, schreibt Kulka. Er ist ein ewiger Gefangener dieses Ortes geblieben, ein »lebenslänglich Gefangener, in Ketten geschlagen, die sich nicht lösen lassen«.
Das Familienlager befand sich in direkter Nachbarschaft zu den Krematorien. Kulka beschreibt die ständige Anwesenheit des Todes. Tag und Nacht lodern die Flammen der Krematorien, ständig sieht das Kind die Kolonnen der Todgeweihten vorbeiziehen. Kulka prägt in seinem Buch die Metaphern »Großer Tod« und »unausweichliches Gesetz des Todes«, um die Realität des Ortes Auschwitz zu beschreiben. Er spricht von den »Grenzen der Vorstellungskraft«. Sein fragmentarischer Erzählstil lässt das Unfassbare erahnen. Kulka weiht seine Leser auch in seine Träume ein, die ihn nie verlassen haben. In einem wiederkehrenden Traum ist der SS-Arzt Josef Mengele ein Fremdenführer, der heute Touristen durch Auschwitz führt. Kulka fragt ihn im Traum immer wieder, wo er die ganze Zeit gewesen sei. Im Traum antwortet Mengele, dass er Auschwitz nie verlassen habe. Er war immer an diesem Ort. Kulka hat diesen Traum in leicht abgewandelter Form unzählige Male geträumt. Auschwitz hat sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingegraben. Er beschreibt Alltagsszenen, in denen immer wieder die Erinnerung an Auschwitz aufblitzte. Im Lager war er beeindruckt von den meterlangen Wasserleitungen, die durch die Baracken führten. Diesem »ausgezeichneten deutschen Patent« begegnete er nach dem Krieg in den Toiletten des Berliner Bahnhofs Friedrichstraße wieder, der Anblick brachte ihn »binnen Sekunden« nach Auschwitz zurück.
Otto Dov Kulka hat diesen Teil seines Lebens jahrzehntelang für sich behalten. Erst nach seiner Emeritierung näherte er sich dem Buchprojekt. Seine Tonbandaufnahmen, die zum Teil Eingang in das Buch gefunden haben, datieren bis zu 20 Jahre zurück. In den Neunzigern hat er begonnen, einzelne Szenen, Träume und Erinnerungen auf Tonband aufzunehmen. Eigentlich dachte er dabei an seinen Nachlass. Doch in den vergangenen Jahren begannen auch seine Enkel immer mal wieder nach seiner Vergangenheit zu fragen, und in Kulka reifte der Gedanke, seine Erinnerungen doch noch zu Lebzeiten zu veröffentlichen. Er selbst sagt von sich, dass erst jetzt der richtige Zeitpunkt für die Veröffentlichung gekommen sei. Die Deutsche Verlags-Anstalt zeigte sich sofort interessiert und ermöglichte eine Übersetzung aus dem Hebräischen, die vom Autor begeistert aufgenommen wurde. Der Erfolg seiner Lesereise im März durch Deutschland zeigt, wie wichtig diese Veröffentlichung ist. Seine Geschichte zeigt eindringlich den totalitären Charakter der Vernichtungsmaschine der Nationalsozialisten und ihrer Metropole des Todes.
Kulka beschreibt Auschwitz als die Negation des zionistischen Traums, dass alle Juden der Diaspora sich in Israel treffen. Auschwitz war dieser Treffpunkt der europäischen Diaspora – mit dem Ziel ihrer Vernichtung. Inmitten dieser totalen Vernichtung singt das Kind Otto Kulka zusammen mit anderen Kindern des Kinder­chores Schillers »Ode an die Freude«. Bis heute fragt er sich, warum der junge Chorleiter gerade dieses Stück ausgesucht hat, um es in den Waschräumen, wo die Akustik besonders gut war, mit den Kindern einzuüben. Er kommt zu dem Schluss, dass es sehr wahrscheinlich Sarkasmus war, auch wenn man hofft, es sei ein Akt des Protests gewesen.
Für Kulka ist die Beschäftigung mit Auschwitz eine nie endende. »Ich glaube«, sagt er, »dass dieses historische Ereignis mehr und mehr eine offene Frage der menschlichen Zivilisation ist.«

Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, 192 Seiten, 19,99 Euro