Deutsche Hegemonie in Europa

An die Wand gedeutscht

Auf dem Höhepunkt seines Einflusses in Europa droht Deutschland das Objekt ­seiner Macht abhanden zu kommen. Deutschtum als Wirtschaftskonzept und Ideologie.

Deutschland ist ins Fadenkreuz der Kritik geraten. Vorbei sind die Zeiten, in denen Deutschland sich im Schatten der USA bereichern und die Schuld an der Privatisierung der Lebensrisiken dem angloamerikanischen Kommerzgedanken zuschieben konnte. Heute glauben nur noch ganz Verbiesterte an die Magie amerikanischer Rating-Agenturen. Ansonsten werden von Griechenland bis Portugal Plakate getragen, die Hakenkreuze und Angela Merkel mit Hitlerbärtchen zeigen. Das Antideutsche verbindet Demonstranten gegen soziale Demontagen mit Silvio Berlusconi, Beppe Grillo und dem Großspekulanten George Soros, dem britischen Guardian, der fragt, ob Deutschland nicht zu stark für Europa sei, und der französische Libération, die über einen lateinischen Block gegen die deutsche Übermacht debattiert – »unter französischer Führung und im Einvernehmen mit der katholischen Kirche«. Einen Block gegen den protestantischen Norden hatte 1945 der französische Philosoph Alexandre Kojève vorgeschlagen. Auf ihn beruft sich heute der italienische Philosoph Giorgio Agamben mit seiner Vision vom Mittelmeerblock. Philosophen verändern nicht die Welt, sind aber ganz brauchbare Seismographen.
In der Front gegen Deutschland tummeln sich also auch unseriöse Geister – Populisten, die Politiker und die Demokratie als Grundübel betrachten, andererseits Politiker, die den äußeren Feind benutzen, um wie Berlusconi von eigenen Machenschaften abzulenken. Auch Repliken, die die deutsche Hegemonie und ruppige Geldeintreibung allein Angela Merkel zuschreiben, weil sie »die Gunst der Stunde« erkannt habe (Ulrich Beck), stehen der Aufklärung eher im Weg. Festzuhalten ist, dass insolvente Schuldner nie was zu Lachen hatten. Im Mittelalter kamen sie in den Schuldturm, im Wilden Westen wurden sie geteert und gefedert, auch seriöse Geschäftsleute schicken ihnen die Russenmafia ins Haus und das bürgerliche Gesetz lässt Gerichtsvollzieher mit Polizei und Möbelwagen auf sie los. Trotzdem: Deutschlands Aufstieg und seine Krisenpolitik sind voller deutscher Eigenheiten.

Die deutsche Hegemonie … 
Die deutsche Hegemonie ist vor allem das Resultat des über 60jährigen europäischen Einigungsprozesses. Was mit dem Wunsch begann, Deutschland einzubinden, führte durch die Beseitigung von Handelshemmnissen und den Euro zur ungehemmten Konkurrenz der Produktivitäten und damit zum unvermeidlichen Sieg Deutschlands. Wettbewerbsnachteile lassen sich nur durch protektionistische Maßnahmen und Währungsabwertungen ausgleichen. Den Euro-Staaten fehlen diese Instrumente, so dass Deutschland als produktivster Standort permanent Kapital, Mehrwert und Beschäftigung aus anderen Ländern abzieht. Die Peripherie wird entleert und ist auf deutsche Waren und Kredite angewiesen – bis zum Kollaps. Deutschlands Exportüberschuss, der die Übernahme fremder Produktion anzeigt, betrug von 2009 bis 2011 gegenüber der Eurozone 255 Milliarden Euro. Nach McKinsey macht Deutschland nur durch den Euro jedes Jahr einen Gewinn von 165 Milliarden.
Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass Deutschland auf dem Höhepunkt seiner Macht das Objekt dieser Macht abhanden kommen könnte. Ohne einen von Deutschland mitgetragenen Finanzausgleich droht Europa, dem die nationale Bindungskraft fehlt, zu zerfallen. Davor warnt der Bund Deutscher Industrie (BDI): »Berlin muss sich daran gewöhnen, dass eine Nation, die mit einem Hundertstel der Weltbevölkerung ein Zwanzigstel der globalen Wirtschaftsleistung erbringt, internationale Verantwortung und deren Kosten übernehmen muss (…). Wer wie Deutschland von der Kaufbereitschaft der Welt lebt, der muss für diese Welt auch manche Bürde tragen.« Deutschlands Hegemonie ist fragil, weil sie von Exporten und dem Rückfluss des Geldes aus illiquiden Ländern abhängt. Deshalb ist Deutschland in die Rolle des Internationalen Währungsfonds (IWF) geschlüpft. So wie der IWF einst die Länder Südamerikas und Afrikas drangsalierte, gewährt Deutschland europäischen Staaten nur dann neue Kredite, wenn sie die Tilgung aus ihrer Bevölkerung herauspressen: Kürzung der Renten und der Krankenversorgung, Anhebung der Mehrwertsteuern – bis zum Hunger.
Wolfgang Schäuble will nun den IWF aus der »Troika« entfernen und durch einen Europäischen Währungsfonds (EWF) ersetzen, »weil wir strengere Regeln brauchen«. Zum Beispiel die, dass »ein Land, das seine Finanzen partout nicht in Ordnung bringt, aus dem Euro-Verbund ausscheidet«. Deutschland favorisiert die Anwendung des Zypern-Modells auf alle Wackelkandidaten. Deutschland hatte Zypern die Streichung der Nothilfe angedroht, falls es sich nicht mit knapp 40 Prozent seines Bruttoinlandprodukts an der Sanierung beteiligt. Das entspräche in Deutschland einer kurzfristig herbeizuführenden Einsparung von 990 Milliarden Euro. Bereits am Tag einer solchen Bekanntgabe würde das Gleichnis von den »Versailler Schandverträgen« aus der Gruft hervorgeholt werden.
Während die Propaganda die Mär über russische Oligarchen verbreitete, wurde die zweitgrößte zyprische Bank abgewickelt, und zwar so, dass hohe Einlagen einschließlich der Rentenfonds als Verluste auf eine Bad Bank übertragen wurden. Die Renten sind weg und der Abgeordnete Marios Mavridis verfiel in schwarzen Humor: »Es gehen ja nicht alle Zyprer auf einmal in Rente. Und in vier oder fünf Jahren bekommen wir hoffentlich mehr Geld als Folge der Gasfunde vor Zyperns Küste.« Das Zypern-Modell soll ab 2015 zur Regelabwicklung werden, um den Rettungsfonds ESM, an dem Deutschland mit 27 Prozent beteiligt ist, zu verschonen.

… und die deutsche Ideologie
Der Wertraub kann sich umso besser entfalten, wenn keine Handels- und Währungshemmnisse im Weg sind, seine Basis aber ist und bleibt die Produktivität, die wiederum das Resultat traditioneller deutscher Attribute ist. Fleiß, Verzicht, Disziplin, Genügsamkeit, unbezahlte Mehrarbeit, Feigheit vor dem Herrn haben das deutsche Proletariat befähigt, den Rest Europas an die Wand zu arbeiten und Deutschland auf den Weg zu einem Billiglohnland zu bringen. Martin Luther, der Begründer der ursprünglichen Mehrwerttheorie, hätte seine helle Freude: »Dass der Herr im Haus mehr Güter hat denn sein Knecht, und doch der Knecht mehr arbeiten muss denn der Herr, (…) das will Gott also haben.« Knechte und Mägde sollten für »seuberliche Arbeit noch lohn zugeben und fro werden«, dass sie einen Herrn hätten. Die deutsche Arbeitskraft ist natürlich beides zugleich: Opfer des Kapitalismus und unterwürfiger Geselle.
Die deutsche Ideologie enthält aber mehr. Sie verknüpft in der Euro-Krise die Arbeitsethik mit der Produktivität als Synonym für wertes Leben, dem Mythos von der überlegenen nordischen »Rasse« und der an die Propaganda von den »Versailler Schandverträgen« erinnernden Lüge, dass der Deutsche »der Zahlmeister Europas« sei. Alles zusammen erzeugt einen Seelenballast, der nach Sanktionen ruft. »Ich habe gearbeitet und gespart und nun will der Südeuropäer mein Geld!« Hilfe! Am Wochenende gründete sich die dazu passende Kleinbürgerpartei »Alternative für Deutschland«, die alle Ressentiments aufsammelt und die nordische »Rasse« mit einem Nord-Euro beglücken will.
Chefideologen der neuen Partei könnten die Sozialdemokraten Thilo Sarrazin, der »alle Probleme, die sie von den Nordstaaten unterscheiden, (…) eigenem Unvermögen« der Südeuropäer zuschreibt, und Klaus von Dohnanyi werden. Von Dohnanyi behauptete bei Anne Will, wir Deutsche müssten den Menschen und Regierungen »in Italien, Frankreich, Griechenland, Portugal klarmachen, dass sie sich in einer wettbewerbsorientierten Welt bewegen, und wenn die Deutschen ihnen einen Rat geben, bestimmte Dinge, die wir mit Erfolg gemacht haben, auch zu machen, ist das kein Druck, sondern Notwendigkeit. Man kann eben, ohne wettbewerbsfähig zu sein, nicht in der Eurozone mitleben.« Wer das nicht akzeptiere, könne in ihr »auf Dauer nicht existieren«. Sein Beitrag wurde immer wieder von starkem Beifall unterbrochen. Man beklatschte die Philosophie vom werten und unwerten Leben. Das Unproduktive könne nicht »existieren«, könne nicht »mitleben«. Hier treffen sich die Marktphilosophie, die die darwinistische Auslese in der Natur auf die menschliche Gesellschaft überträgt, und der Faschismus als die ihr angemessene gesellschaftspolitische Gestalt.
Dohnanyis Lüge besteht darin, dass nach seinen eigenen völkerkundlichen Begriffen die untauglichsten Europäer in Ostdeutschland wohnen. Ostdeutsche liegen im Selbstversorgungsgrad (unverschuldet) unter Griechenland und dem italienischen Mezzogiorno. Sarrazin und Dohnanyi müssten nach ökonomischen Kriterien also zuerst Ostdeutschland aus der Euro-Zone werfen. Dieser immanent logische Gedanke wird wegen völkischer Verwirrung aber verworfen. Außerdem steht vielen Ostdeutschen nicht die Lust am Leben ins Gesicht geschrieben. Das kommt ihnen zugute, weil die deutsche Mittelschicht weder fröhliche Arbeitslose noch fröhliche Schuldner erträgt. Wer alimentiert wird, soll darben. Die Welt hatte während der Olympischen Spiele griechische Funktionäre gesichtet, die Sirtaki tanzten und »ihre mediterrane Lebensfreude in die Sommernacht« rauchten. Kein Wunder, dass diese Menschenart »nur zwei Bronzemedaillen feiern« konnte. Markus Söder (CSU) will Griechenland aus der Eurozone werfen. Seine Begründung: »Spanien und Italien sollen sehen, was passiert, wenn man seine Schulden nicht bezahlt!« Der Schuldner soll nichts zu Lachen haben, er darf den Schuldturm nur verlassen, um seine Schulden abzuarbeiten, danach ist der Freigang beendet – pünktlich.
Die Rede von den Südeuropäern, denen »wir Deutsche« erst einmal erklären müssten, in welcher Welt sie zu leben hätten, zielt auf die Beseitigung von »Kulturen«, die sich trauen, dem Kapitalismus Leben abzutrotzen. Die Propaganda erfand dafür den Begriff »griechische Krankheit«. Die Angst davor soll Deutschen das Leben austreiben, um sie für die Aufnahme der Krisenverluste zu präparieren. Die Buchgeldmenge, der keine realen Werte mehr gegenüberstehen, muss irgendwann zu Lasten von irgendwem abgeschrieben werden. Die Bundesregierung wird sich, solange es geht, am Ausland schadlos halten, aber wenn die Südeuropäer und Iren abzusaufen drohen, wird sie über deutsche Sparbücher und Renten herfallen – vielleicht schon nach der Bundestagswahl.