Drei Bücher zum Thema Stadtkritik

Stadt aus Geld

Die Stadt, deren Entwurf auch mit sozialen Utopien verbunden war, ist zur unternehmerischen Stadt geworden. Das Zusammenleben wird vom Profitgedanken bestimmt. Drei Bücher beleuchten die Extreme dieser Entwicklung.

Seit vielen Jahrtausenden leben die Menschen in Städten, die seit den ersten befestigten Siedlungen immer wieder – buchstäblich – fundamental ihre Gestalt ändern, die abgerissen, vernichtet, neu und umgebaut werden. Die Stadt ist von Anfang an ein soziales Verhältnis, ist Ausdruck der Gesellschaft und ihrer Herrschaftsstruktur. Nach und nach formiert sich die Gesellschaft als städtische: In der Antike ist es die Polis als Stadtstaat, im europäischen Mittelalter ist es neben der Residenz- und Amtsstadt und der Kloster- und Bischofsstadt die Burgstadt als »Stadt im Rechtssinne« (mit dem berühmten Leitspruch »Stadtluft macht frei«); im Spätmittelalter und in der Renaissance entstehen die Handelsstädte.
Zentralperspektivische Fluchten und Veränderungen in der Statik lassen die architektonische und die gesellschaftliche Ordnung konvergieren: Mit Beginn der Neuzeit wird, nach einer plausiblen These des Kunsthistorikers Paul Hofer, das Modell der »dialogischen Stadt« durch das der »cartesianisch-rationalen Stadt« abgelöst. Gleichwohl kontaminiert die Entwicklung der Industrie die Planstadt. Die kapitalistischen Fabriken, stinkende und stickige Riesenmaschinen, verwandeln die Stadt in einen unwirtlichen, elenden Moloch, wie es Friedrich Engels in seinem Bericht »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« am Beispiel von Manchester und Liverpool beschreibt. Zur selben Zeit verwandelt der Urbanismus die Metropolen des bürgerlichen Zeitalters, insbesondere Paris, von Walter Benjamin als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Hier wird das moderne Leben erfunden, überhaupt die »Modernität« (Charles Baudelaire), die schließlich diese Epoche oder wenigstens ihr Selbstverständnis kennzeichnen soll.
Spätestens seit der Französischen Revolution von 1789 sind die Städte auch Orte der Politik, Zentren nationalstaatlichen Handelns und der politischen Ideologie; in ihnen manifestieren sich die Widersprüche, der soziale Konflikt, die Revolte und der Klassenkampf. Beim Umbau von Paris im 19. Jahrhundert ging es nicht nur um die Inszenierung der modernen Stadt, sondern auch um eine Befriedung von, wie man heute sagen würde, sozialen Brennpunkten sowie um militärische Erwägungen, die sich bei der Aufstandsbekämpfung bewährten. Zur Entfaltung der modernen Stadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert gehört auch die Formierung der in der Stadt lebenden Menschen zur »Bevölkerung« . Konstruiert ist damit eine klassenübergreifende, identitäre Einheit, die durch die Ideologie der Urbanität selbst zusammengehalten wird. Widersprüche zwischen Arm und Reich müssen dafür längerfristig auch architektonisch ausgeglichen werden. Politisch virulent wird das um 1900 in der erstmals auch offiziell als Problem wahrgenommenen Wohnungsfrage. Suburbs, Reihenhäuser und Neues Bauen sind darauf die Antwort und erweitern die Räume, in denen die moderne Konsumgesellschaft sich ausdehnt. »Urbanismus« ist nun, nach einem berühmten Text des Soziologen Louis Wirth von 1938, »a way of life«. Die »Ästhetisierung der Politik«, die Walter Benjamin zwei Jahre zuvor in seinem sogenannten Kunstwerk-Aufsatz diagnostizierte, hat nicht nur in den Städten des 20. Jahrhunderts ihre Bühne, sondern konkretisiert sich in ihnen als Alltagsleben.
Nicht nur durch die verheerenden Zerstörungen der Kriege sind die Städte ungeheuren Umwälzungen unterworfen, die die moderne Stadtplanung zu bändigen und zu steuern versucht. So gehört zum Fordismus der Entwurf der funktionalen Stadt, wie sie vor allem mit dem Namen Le Corbusier verbunden ist. Andere Architekten formulierten den Funktionalismus als sozialistische Utopie. So der Frankfurter Architekt und Städteplaner Ernst May, den der ehemalige Berliner Kultursenator Thomas Flierl in einer fulminanten Sammlung von Texten und Dokumenten vorstellt. May appliziert, mit durchaus emanzipatorischer Intention die technologische Rationalität des fortgeschrittenen Industriekapitalismus auf die Ordnung des urbanen Raums, entwirft sogenannte Standardstädte, die er in Fortsetzung des Konzepts des Neuen Bauens in der Sowjetunion zwischen 1930 und 1933 realisierte.
Als Siedlungsdezernent verantwortete Ernst May zwischen 1925 und 1930 ein umfangreiches Wohnungsbauprogramm. Unter dem Namen »Neues Frankfurt« entstanden 12 000 »Wohnungen für das Existenzminimum«.
»Die privatkapitalistische Bebauung«, schreibt May, »führt im Gegensatz zur planmäßig-sozialen zu übermäßiger Nutzung sowohl des Baugrundstücks wie auch der Baufläche des einzelnen Hauses. Die Ausnutzung der Baugrundstücke nahe des Frankfurter Hauptbahnhofs in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gibt ein anschauliches Beispiel für die Skrupellosigkeit der damaligen Grundbesitzer und Bauspekulanten: In lichtlosen Stadtvierteln nisteten Krankheiten und Amoralität. Um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, zeigte sich bald die Notwendigkeit, die bauliche Verdichtung einzelner Grundstücke zu verringern.« So entstanden Satellitenstädte, in denen statt in Blockbebauung in Zeilenstruktur geplant wurde. »Die Straßen«, so May, »werden quer durch die Reihe der Häuser und Durchgänge angelegt, was die Bewohner vor jeglicher Störung durch den Straßenverkehr bewahrt. Die Bebauung des Grundstücks in dieser Anordnung bezeugt die soziale Haltung, bildet aber nur die eine Seite notwendiger Maßnahmen, die dem Wohnen seinen maximalen Wert verleihen.«
In der Sowjetunion konnte May zumindest in Ansätzen das, was er mit dem »Neuen Frankfurt« ausprobiert hatte, im Großmaßstab durch den Bau ganzer Städte realisieren.
»Die auf sozialistischer Grundlage errichtete Stadt ist ihrem Wesen nach«, so May, »grundsätzlich verschieden von der kapitalistischen. Während letztere selbst dort, wo sie zunächst auf Grund des Machtwillens einzelner Machthaber auf systematisch angelegtem Grundrisse entstand, bei späterer Erweiterung infolge der Einflüsse der kapitalistischen Wirtschaft mehr oder weniger willkürliche Wachstumsformen annahm, bedingt die nur in einem sozialistischen Staate ohne Einschränkung mögliche Forderung der Schaffung gleicher Lebensbedingungen für alle eine strengste Systematik bei der Anlage sowohl des Stadtganzen wie seiner einzelnen Teile.«
Politische Differenzen bewogen Ernst May 1933 jedoch dazu, die stalinistische Sowjetunion zu verlassen. Im selben Jahr gehört May zu den Architekten des Internationalen Kongresses Moderner Architektur, die mit der Charta von Athen die Forderung nach der »funktionalen Stadt« formuliert haben. So ist, nicht zuletzt über viele sowjetsozialistisch inspirierte Architekten und Planer, unter anderem auch das von May vorgeschlagene Modell der Standardstadt in die Metropolenentwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingegangen. Ältere Beispiele sind Brasília oder Halle-Neustadt. Neuere Beispiele sind nicht nur Anting und Changchun in China, die World Islands oder die Sportstadt in Dubai, sondern auch die Hamburger Hafen-City, einschließlich der Eingemeindung des Stadtteils Wilhelmsburg durch die 2008 in Kraft getretene Gebietsreform der Hansestadt. Freilich ist die soziale Utopie der Standardstadt nunmehr vollends aufgelöst im Planungsregime der neoliberalen Spektakelarchitektur.
Hamburg-Mitte ist jetzt ein neuer Riesenbezirk mit der Hafen-City im Zentrum. Das Gebiet umschließt im Westen das Schanzenviertel und St. Pauli, im Osten gehören die Stadtteile Horn und Billstedt dazu. Wilhelmsburg, der ehemals bevölkerungsreichste Stadtteil Hamburgs, der bis vor kurzem nicht einmal auf Stadtfaltplänen zu finden war, bildet nun unter anderem mit Veddel einen Teil von Hamburg-Mitte im Süden. »Sprung über die Elbe« lautete schon 2004 die Parole der Planungsideologie der »Wachsenden Stadt«. Als Tochtergesellschaft der Freien und Hansestadt Hamburg hat zwischen 2007 und 2013 die Internationale Bauausstellung (IBA) dies nach ihrem Programm umgesetzt. »Wertschöpfung für eine Stadt, die sich entschieden hat, eines ihrer Viertel nicht zu sanieren, um den Bewohnern und Bewohnerinnnen ein bezahlbares und gutes Leben zu ermöglichen, sondern um ein Kreativ-Unternehmen zu bezahlen (…) und Images zu erschaffen«, wie Christian Gatermann und Tina Habermann in ihrem kritischen Bericht über das Stadtmarketing der IBA resümieren, der sich in dem schmalen, aber äußerst informativen Band »Unternehmen Wilhelmsburg« findet. Was an dieser, vom Arbeitskreis Umstrukturierung Wilhelmsburg (AKU) herausgegeben Sammlung hervorzuheben ist: Nicht nur sind hier historische und systematische Fakten zur Kritik der IBA und und des pseudo-ökologischen Begleitprogramms igs (Internationale Gartenschau) zusammengetragen. Es geht auch um Wohn- und Lebensverhältnisse in dem Stadtteil, etwa um »Proteste und Perspektiven gegen unwürdiges Wohnen bei der Gagfah«, der Wohnungsbaugesellschaft mit dem größten Immobilienbestand in Wilhelmsburg. Erfahrungsberichte ergänzen theoretische Analysen.
Die Kommodifizierung des urbanen Raums setzt sich fort in der Überaffirmation einer Ästhetisierung der Politik, die mit machtvollen Gesten, aber ohnmächtiger Praxis mitunter gerade von denen forciert wird, die sich in den derzeitigen Auseinandersetzungen um die Stadt selbst zu Akteuren erklären. Die IBA wusste das bisher ökonomisch klug zu nutzen und verwendete den kreativen Output von Kunst- und Kulturproduzenten als wohlfeile Reklame für sich. In einem solidarisch-kritischen Bericht schreibt Peter Birke über diese Beziehung von »Kunst und Gentrifizierung im IBA-Kontext«: »Die Einbindung von kritischen Künstlern und Künstlerinnen in IBA-Projekte ließ erstaunlicherweise auch auf dem Höhepunkt der Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung kaum nach (…). Kaum eine bekannte Akteurin oder ein bekannter Akteur der Recht-auf-Stadt-Kunstszene, der oder die nicht wenigstens einmal in Wilhelmsburg an Ausstellungen oder Projekten teilgenommen hätte, und der größte Teil der Projekte war durch die IBA zumindest mitfinanziert.« Es sind Widersprüche, die sich in ähnlicher Ausprägung auch bei den Auseinandersetzungen um das Gängeviertel in Hamburg finden: das Dilemma, dass im Fokus des künst­lerisch-ästhetischen Widerstands das soziale Problem gleichzeitig als politische Lösung hypostasiert wird – und damit schon der herrschenden Logik unterworfen ist. Auch bei dem im August 2009 besetzten Gängeviertel am Rand der Innenstadt  in Hamburg-Mitte war man schnell um den Kompromiss bemüht, den Ort als attraktive Location in die konsumistische Stadtlandschaft zu integrieren.
Lesenswert ist es, wie die Bewohnner des Gängeviertels selbst diesen Widerspruch reflektieren. Rund 20 Autorinnen und Autoren, Graphikerinnen und Graphiker etc. dokumentieren in dem Handbuch »Mehr als ein Viertel« die Geschichte des ehemals großen, die Hamburger Alt- und Neustadt umfassenden Gängeviertels. Das Buch kennzeichnet den Stand einer nicht abgeschlossenen Kontroverse, die vielleicht länger dauert, als das Projekt Gängeviertel selbst existiert. Hervorzuheben sind jene Beiträge, denen es gelingt, die Auseinandersetzung um Gentrifizierung und Stadt an Gesellschaftskritik zurückzubinden. Kevin Kahn fragt in seinem Beitrag nach den Möglich­keiten, die das Gängeviertel hat, Benjamins Forderung nach einer Politisierung der Kunst zu realisieren, und zwar anders als dies der Gängeviertel-Schirmherr Daniel Richter mit seiner Malerei macht. Konzediert wird hier, dass das, was bisher mit der gentrifizierungskritischen Bewegung erreicht wurde, nicht alles sein kann. Darauf insistiert auch Marzena Chilewski in ihrem Text: »Radikale und praktisch-emanzipatorische Stadtkritik im Gängeviertel würde folglich bedeuten, dass die Zukunft nicht die Verlängerung der Gegenwart ist. Der Zustand ist insofern offen, als dass wir die zukünftige Stadt weder genau benennen noch ein konkretes Bild von ihr zeichnen können, sie entsteht erst durch die verändernde Praxis.«
Solche Praxis bleibt konkret-utopisch auch in Hinblick auf die urbanen Räume. Bei aller Ungewissheit, wie und ob überhaupt die Städte der Zukunft gestaltet sein werden, ist es für eine stadtkritische Bewegung unerlässlich, sich dem emanzipatorischen Erbe sozialer und sozialistischer Planprojekte, etwa dem Modell der Satellitenstädte Ernst Mays, zu stellen. Die Alt- und Neubaubestände der gegenwärtigen Städte werden jedenfalls nicht die Orte des gelingenden Lebens sein, sondern überdauern diese Epoche allenfalls als Ruinen. Vorerst scheint die Recht-auf-Stadt-Bewegung gezwungen, sich auf das Viertel, auf die Straße, auf einzelne Gebäude zu konzentrieren. Noch ist es nicht gelungen, die Totalität und Globalität des Elends des Urbanismus, der Metropolen, der Megalopolen zu fassen. Stadtkritik als radikale Gesellschaftskritik heißt allerdings auch, nicht nur den begrenzten urbanen Raum für sich zu reklamieren, sondern womöglich neue Standards jenseits der bestehenden Städte zu entwerfen.

Thomas Flierl (Hg.): Standardstädte. Ernst May in der Sowjetunion 1930 bis 1933. Texte und Dokumente. Edition Suhrkamp, Berlin 2012, 552 Seiten, 16 Euro
Gängeviertel e. V. (Hg.): Mehr als ein Viertel. Ansichten und Absichten aus dem Hamburger Gängeviertel. Assoziation A, Hamburg 2012, 240 Seiten, 18 Euro
Arbeitskreis Umstrukturierung Wilhelmsburg (Hg.): Unternehmen Wilhelmsburg. Stadtentwicklung im Zeichen von IBA und igs. Assoziation A, Hamburg 2013, 112 Seiten 9,80 Euro