Das Scheitern als Privileg

Scheitern ist Luxus

Über die moderne Inszenierung des Scheiterns, die sich nicht jeder leisten kann.

Die in Papier eingewickelte Klinge wird von links nach rechts geführt, die Bauchdecke bricht auf, Gedärme platschen auf den Boden. Im kaiserlichen Japan der Samurai muss man sich Scheitern als die Vorstufe eines brutalen, schmerzlichen Todes vorstellen. Auch nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg griffen viele ranghohe Militärs zur Methode des Seppuku, zu dem »rituellen Selbstmord wegen Pflichtverletzung«, um ihr Gesicht zu wahren. In der griechisch-römischen Antike endeten gescheiterte Angehörige der Elite öfter mit Giftcocktail im Dampfbad. Sie wuschen mit dem Suizid ihre Namen rein und ihre Clans konnten im Staatsapparat weiterhin Geschäfte machen. Die eigene Unzulänglichkeit wurde so posthum glorifiziert und die Tapferkeit beim Vollzug in ein Martyrium umgedeutet. Gescheiterte wurden zu Helden und sicherten so ihren Herrschaftsanspruch. Die Beschreibung des nicht enden wollenden Todeskampfs Senecas zeugt eindringlich davon.
Auch wenn die historische japanische Gesellschaft und die des Mittelmeerraums wenig miteinander gemein hatten, so waren sie sich in ihrem Mangel an sozialer Mobilität sehr ähnlich. Scheitern war eine Angelegenheit der Elite, Bauern erfroren oder verhungerten – fertig, aus.
Heute geht es meist harmloser zu. Versagen, Fehltritte, absolute Erschöpfung sind die Grundlage der Selbstoptimierung – oder wie es in den Jahresberichten von Unternehmen heißt, sie dienen dazu, »das eigene Profil zu schärfen«. Aber die theatralische Inszenierung des Scheiterns bleibt wenigen Privilegierten überlassen. Dann nennt sich das Burn-out. Manager, Chefredakteure, Schauspieler können es sich leisten, in Büchern und Talkshows ihre Überforderung und die damit einhergehenden körperlichen Ausnahmesituation in Szene zu setzen. Die eigene Verantwortung wird dabei meist heruntergespielt mit Worten wie »Ich konnte es ja nicht kommen sehen« oder »Es traf mich wie ein Schlag«, um sich dem Publikum als Opfer der hohen Erwartungen an die eigene Person zu zeigen. Dann sitzen sie in hell ausgeleuchteten Couchlandschaften und erzählen vom Neuanfang, den ihnen das Scheitern ermöglichte, sei es aus gesundheit­lichen Gründen oder weil sie eine Firma gegen die Wand fuhren und dann zusammenbrachen. Es sind Geschichten von innerer Einkehr, von Meditation, Klöstern, Weltreisen: Eine ganz neue Perspektive habe sich ihnen aufgedrängt und gezeigt, dass die Leistungsgesellschaft ganz, ganz böse sei und es auf die inneren Werte ankomme. Sie sehen sich also gerne als Märtyrer, die einen Karrieretod gestorben sind, um uns von der Wahrheit zu predigen, dass es auch mal langsamer gehen muss.
Wie solche Sätze allerdings auf eine Kassiererin bei Lidl wirken müssen und wie es um deren Gehör nach einer Acht-Stunden-Schicht am permanent piependen Scanner bestellt ist, kann man sich denken. Ihr Sparbuchguthaben wird sicherlich nicht ausreichen, um richtig schön an ihren Aufgaben zu scheitern. Kein Sabbatical und kein Neuanfang. Sie kann sich rein rechnerisch ja noch nicht mal einen gehörigen Liebeskummer leisten, wenn die Ehe in die Brüche gegangen ist. Denn sie ist möglicherweise allein­erziehend und muss funktionieren. Sie darf sich gar keinen Neuanfang wünschen. Scheitern ist eine Frage des Geldes – und es scheint, dass, je undurchlässiger eine Gesellschaft ist, diejenigen desto heldenhafter dastehen, die sich ihr Scheitern leisten können.
In der Pflegebranche ist es auch nicht unbedingt einfacher. Wenn sich unterbezahlte, überarbeitete Krankenpfleger nicht mehr richtig um ihre Klienten kümmern können, an den viel zu hohen Erwartungen scheitern, dann ist das Geschrei groß. Der nicht gerade für seine Empathie bekannte Boulevard empört sich dann über »Herzlos-Pfleger«. Dabei sind sie nur Opfer eines Optimierungswahns des Managements, das an völlig überzogenen Renditeerwartungen festhält und sich von seinem unsinnigen und zum Scheitern verurteilten Vorgehen niemals distanzieren würde. Außer die Manager sitzen als millionenschwere, von Burn-out geplagte Frührentner bei Markus Lanz.
Dem gemeinen Pöbel steht es nur zu, Kalendersprüche auf Facebook zu posten, die nach dem Motto »Kopf hoch« gestrickt sind. Das Erlernen von Selbstreflexion, die Grundvoraussetzung für ein gesundes, aber markerschütterndes Scheitern mit positivem Ausgang, ist im hiesigen Bildungssystem nicht mehr vorgesehen – egal welcher Schicht man angehört. Der Lebensweg soll so früh und schnell wie möglich asphaltiert werden. Zwölfjährige leiden dank Turbo-Abi und Stigmatisierung unter Zukunftsängsten. Das Resultat wird eine auf Sicherheit fixierte Generation sein, in der Scheitern nicht mehr erlaubt ist. Der Slogan »Man kann alles erreichen, wenn man es nur will«, wird ihnen nicht mehr als Ansporn dienen, sondern als Warnung, und sie ermahnen, immer alles zu schlucken, was Vorgesetzte und Staat ihnen abverlangen. Zu eng verwoben sind mittlerweile privater Misserfolg und beruflicher Absturz.
Einzig die Kunst beziehungsweise Kultur, die größtenteils aus Inszenierungen besteht, müsste dieser Logik nicht folgen. »Was in der realkapitalistischen Arbeitswelt gemeinhin als Makel gilt, kann in der Kunst sehr wohl zu Ruhm und Ehre gereichen«, schreibt das Magazin Monopol über die gerade in der Hamburger Kunsthalle gezeigte Ausstellung »Besser Scheitern«. Doch gute Beispiele für schöne Niederlagen findet man in der Kunsthalle nicht. Denn die Kuratoren legten Wert darauf, zu zeigen, wie harmlos und spielerisch Abstürze, Fehltritte und Missgeschicke sein können. Charlie Chaplin war 1915 mit seiner berühmten Rolle als Tramp aufschlussreicher, da er durch diesen Charakter den Wahn der modernen Arbeitsgesellschaft eindringlich schildert: Wer am Anpassungsdruck scheitert, wird aussortiert und muss am Ende seine Schuhe verzehren. Die meisten Videoinstallationen in Hamburg zeigen hingegen nur einen Zwangscharakter, der zwar zum Scheitern führt, aber die Ursache nicht berührt.
Bleibt noch die Totalverweigerung, wie sie die Band Tocotronic zum Beispiel in ihrem Song »Kapitulation« besingt und wie sie von dem, was von der der Punkkultur übrig bleibt, ausgelebt wird. Die stolze Kapitulation vor den Erwartungen der Gesellschaft wirkt aber wie ein Märchen aus anderen Zeiten. Es gibt in den Großstädten kaum noch Räume, in denen diese Idee verwirklicht werden könnte. Ob man sich Interviews von Rocko Schamoni oder Heinz Strunk durchliest oder die Vita von älteren Schriftstellern wie F. Scott Fitzgerald studiert: Immer scheint es, als ob das Scheitern in der Rückschau romantisch überhöht wird und man sich das Rumkrebsen als erfolg­loses Nichts dennoch am Liebsten ganz erspart hätte. Es entsteht der Eindruck, dass Scheitern nur dann öffentlich stattfinden kann, wenn es durch ein Happy End massentauglich wird. Daher auch die vielen Ratgeber mit Titeln wie »Erfolgreicher Leben« oder eben die unzähligen Burn-out-Geständnisse. Garniert wird diese öffentliche Wahrnehmung pro Quartal mit einer, vielleicht zwei großen TV-Reportagen über Obdachlose und Alkoholiker, in denen zwischen den Zeilen gedroht wird: Ein kleiner falscher Schritt und du bist raus. Dann gibt es nur Platte oder Brücke.

Zu dieser modernen Inszenierung des Scheiterns gehört auch die Vertauschung der Opfer- und Täterrolle nach dem Karriereende. Man sieht sie heute fast überall: Gescheiterte Großprojekte wie die Elbphilharmonie, Stuttgart 21 der neue Berliner Flughafen dienen den involvierten Pro­tagonisten nicht als Grund, ihre Fehler einzugestehen und neue Lösungen zu finden, vielmehr schieben sie sich die Schuld gegenseitig zu. Dass durch das entstandene Chaos, durch die Terminverschiebungen zwischenzeitlich etwa der Bäcker, der auf das Filialgeschäft in der Nähe eines der Projekte gehofft hatte, zum endgültigen Scheitern samt Privatinsolvenz gezwungen wird, ist dabei ­irrelevant. Und wenn der Rückzug ins Private ansteht, darf man sich als Macher selbst die Absolution erteilen und den Misserfolg kritisch hinterfragen, ohne sich selbst bloßstellen zu müssen. So hat es Karl-Theodor zu Guttenberg gemacht, der sein Tricksen erst im Nachhinein zugab, um dann reumütig sein Scheitern und den Neuanfang in den USA zu bewerben. Ob es auf Kapitulation oder Neuanfang zugeht, entscheidet der soziale Rang. »Es gibt mehr Leute, die kapitulieren, als solche, die scheitern«, wusste schon Henry Ford. So formt sich die sogenannte Elite.