Andrew Armatas beschreibt im Gespräch, wie die Krise in Griechenland viele Menschen krank macht

»Die Menschen sind müde geworden«

In Griechenland ist seit dem Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise die Zahl der Selbstmorde dramatisch gestiegen und immer öfter leiden die Griechen unter psychischen Erkrankungen, die durch die Krise verursacht werden. Die Jungle World sprach mit Andrew Armatas, der seit mehr als zehn Jahren in Athen als klinischer Psychologe arbeitet.

Welche Probleme haben die griechischen Patienten, die zu Ihnen kommen, und was für Hilfe suchen sie?

Es kommen zu mir viele Menschen mit psychosomatischen Problemen. Sie haben zum Beispiel Panikattacken und Dauerstress. Man fängt an, müde zu werden, schlechte Stimmung zu haben, Magenprobleme zu bekommen, starkes Herzklopfen und Hautprobleme.

Gibt es dabei etwas Außergewöhnliches, das durch die Krise verursacht wird?

Seit Beginn der Krise habe ich bei manchen Patienten einen psychogenen Hörverlust beobachtet. Ich arbeite seit mehr als zehn Jahre in Griechenland und so etwas ist mir bisher nicht begegnet.

Wie kommt es zu einem solchen Hörverlust?

Die Menschen hören immer wieder negative Szenarien und negative Vorhersagen. Zudem haben sie ihre eigenen Probleme, ihre finanziellen Schwierigkeiten, persönliche und familiäre Probleme. Und dann sagen sie sich immer wieder: Ich möchte nichts mehr davon hören! Die Wiederholung dieses Satzes und der Wunsch – denn meistens meint man es genau so – führt dazu, dass manche Leute morgens aufwachen und im schlimmsten Fall tatsächlich nichts mehr hören. Der Arzt kann medizinisch nichts finden, aber das Audiogramm zeigt, dass sie wirklich nicht hören können. Andere Patienten haben einen leichten Hörverlust, so als ob ihr Ohren verstopft sind. Dies ist eine Schutzfunktion. Das Gehirn hört dem Individuum zu, es merkt die Anspannung, die es erlebt, und versucht, das Individuum auf seine Art zu beschützen.

Viele Menschen in Griechenland empfinden es so, als dauere die Krise schon seit Jahrzehnten.

Wir erleben das Jetzt als Kombination aus Vergangenheit und Zukunft. Wir haben die zwei, drei Jahre der Krise im Rücken, aber auch die nächsten zwei Jahre sind in uns mit dem, was wir erwarten. Dies vermittelt uns das Gefühl eines längeren Zeitraums. In diesen zwei, drei schwierigen Jahren der Krise hatten wir wenige Pausen, um uns auszuruhen, um aufzuatmen.

Wie kann man mit dieser Situation umgehen?

Man sollte die Dinge nicht zu einem Punkt kommen lassen, an dem man die Kontrolle verliert und die Hilfe eines Experten braucht. Man sollte anfangen, präventiv Techniken und Möglichkeiten zu finden, seine Gefühle zu verwalten und Widerstandfähigkeit zu entwickeln – also die Fähigkeit, schwierige Situationen auszuhalten. Dies ist es, was zurzeit viele Firmen nicht nur in Griechenland, sondern auch im Ausland, von uns Psychologen verlangen: Seminare, um Widerstandsfähigkeit zu entwickeln.

Wie ist die Stimmung an den Arbeitsplätzen, an denen Sie Seminare durchführen?

Es herrscht eine sehr große Unsicherheit: wie es mit der Firma weitergeht, ob die Arbeitsplätze erhalten bleiben. Weil es viele Entlassungen gibt, haben die einzelnen Arbeitnehmer mehr Arbeit. Die Verantwortung ist größer, der Umfang der Arbeit ist größer, man hat mehr Arbeitsstunden, aber weniger Rechte.

Die Griechen werden fast alle drei Monate mit unterschiedlichen Schreckensszenarien konfrontiert: Griechenland bekommt die Tranche nicht oder Griechenland fliegt aus der Euro-Zone. Wie gehen die Menschen damit um?

Wir befinden uns inzwischen im Prozess der Gewöhnung. Man kommt zu dem Punkt, an dem man sich sagt: »Immer wieder dasselbe!« Es ist nicht die Reaktion, die man anfangs zeigt, wenn man Angst und Stress bekommt. Jetzt sind die Menschen müde geworden. Sie haben bestimmt oft von Leuten in Griechenland den Satz gehört: »Ach, soll halt das Schlimmste kommen, damit es mit dem Ganzen endlich vorbei ist!« Das Schlimmste erschreckt die Menschen nicht mehr. Man hat all dies durchgemacht und hat so oder so überlebt. Wir haben also erkannt, dass wir damit umgehen können. Man ist enttäuscht und müde und erwartet nicht mehr so viel.

Welches Gefühl herrscht vor?

Ich sehe keine Panik mehr wie am Anfang der Krise. Ich sehe viel Enttäuschung, was sicherlich nicht besser ist, vielleicht auch schlimmer. Weil die Enttäuschung zu Resignation führt. Und im Zusammenhang mit der Vergangenheit eines jeden Individuums und dessen, was es durchgemacht hat, kann es zu tragischen Ereignissen kommen, wo sich jemand selbst verletzt oder sich das Leben nimmt.

Würden Sie sagen, dass Griechenland eine Phase allgemeiner »gesellschaftlicher Depression« durchmacht?

Ich glaube, dass wir aus der Phase der emotionalen Anspannung raus sind und wir uns jetzt in einer Phase allgemeiner Enttäuschung befinden. Trotzdem versuchen wir sehr stark, weiterhin ein paar Anzeichen zu finden, die uns etwas Besseres hoffen lassen. Die junge Generation hat dies besser geschafft. Sie hat die schwierigen Momente zu ihren Gunsten ausgenutzt und häufig mit Kreativität und innovativen Ideen reagiert. Dadurch hat die junge Generation gelernt, ihre Träume nicht aufzugeben. Mehr Schwierigkeiten haben die Angehörigen der älteren Generation, die sich an eine bestimmte Lebensweise gewöhnt haben und versuchen, diese zu bewahren, obwohl die Dinge sich geändert haben. Im Zusammenhang mit den sozialen Einschnitten gab es auch sehr viele Kürzungen im Bereich der medizinischen und psychologischen Versorgung.

Also sind die Griechen vor den psychischen Auswirkungen der Krise nicht geschützt?

Sie sind noch wehrloser als vorher. Die Bürger waren in diesem Land schon seit langem ungeschützt. Es gab keine spezielle Pflege der psychischen Gesundheit, der Vorsorge, der Behandlung oder der Rehabilitation. Gerade jetzt, da man mehr in diesen Bereich investieren müsste, wird gekürzt. Und dies ist ein weiterer Aspekt, der das Gefühl der Unsicherheit verstärkt. Es ist sehr hilfreich, wenn man weiß, dass es einen Ort gibt, wo man Hilfe suchen kann, wo es spezialisiertes Personal gibt, das Ratschläge geben kann.

Etwas, über das besonders gerne in den deutschen Medien berichtet wird, sind die Straßencafés, die trotz der Krise in vielen Städten voll sind. Wie interpretieren Sie dies?

Persönlich hoffe ich, dass die jungen Menschen noch mehr ausgehen, weil es ein Weg ist, diese ganze Enttäuschung und den Stress auszugleichen. Gerade in den schwierigen Phasen unseres Lebens brauchen wir positive Momente. Dann müssen wir für unser Wohl, unser Vergnügen und unsere psychische Gesundheit sorgen. Das Vergnügen und die positive Stimmung dürfen nicht zweitrangig sein.

In den vergangenen Monaten wurde von den Medien und der Regierung wieder ein positiveres Bild der wirtschaftlichen Entwicklung gekennzeichnet. Macht sich das bei Ihren Patienten bemerkbar?

Bei denjenigen, die einen Job haben, ja. Denn das, was entscheidend ist, ist die Möglichkeit, die praktischen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn man Arbeit hat und ein Gehalt, dann kann man sich Ziele setzen. Diejenigen, die keinen Job haben, bemerken nichts von diesem positiven Bild, weil ihnen die notwendigen Dinge fehlen. Ihr einziges Ziel ist es, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Das einzig Positive, das sie von einer allgemein positiven Stimmung erlangen könnten, ist Hoffnung. Hoffnung, dass wieder mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Es gibt aber auch etwas anderes, was in diesem Land fehlt und somit keine Grundlage bilden kann, um Hoffnung herzustellen und Pläne zu machen: das Vertrauen in die Entscheidungsträger. Wenn dieses Vertrauen nicht vorhanden ist, dann bekommen wir alle positiven Botschaften aus einer Quelle, die nicht glaubwürdig ist. Dann bleibt halt nicht mehr viel von dieser Botschaft.