Rigoberta Menchú im Gespräch über den Genozid an der indigenen Bevölkerung in Guatemala

»Leugnen schützt die Mörder von damals«

In Guatemala ist das Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Diktator Efraín Ríos Montt (Jungle World 15/2013), dem Genozid an der indigenen Bevölkerung vorgeworfen wird, vorläufig abgebrochen worden. Eine politische Entscheidung, so scheint es. Erstmals hatte die indigene Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú den Genozid im Jahr 1999 vor den Nationalen Gerichtshof in Madrid gebracht. So bekannt die Menschenrechtsverteidigerin interna­tional ist, gilt sie im eigenen Land zumeist als »Verräterin«, die Guatemala vor den Vereinten Nationen in Verruf gebracht habe. Die Jungle World sprach mit ihr über die Bedeutung des Gerichtsverfahrens für die Aufarbeitung der Vergangenheit in Guatemala und die möglichen Verstrickungen des gegenwärtigen Präsidenten, Otto Pérez Molina, in die Verbrechen von damals.

Das Gerichtsverfahren gegen Efraín Ríos Montt und seinen ehemaligen Geheimdienstchef ist abgebrochen worden. Ob es weitergeführt oder annulliert wird, entscheidet nun das Verfassungsgericht. Kann es überhaupt noch Zweifel darüber geben, dass in Guatemala ein Genozid stattgefunden hat?

Keinesfalls. Vor 30 Jahren gipfelte der seit Jahrhunderten existierende Rassismus gegen die indigene Bevölkerung in dem Versuch, sie zu vernichten. Es gab nicht nur Massaker, wir sprechen nicht nur von Massenmorden. Die Maya, insbesondere die Gruppe der Maya-Ixiles, wurden damals zu Staatsfeinden erklärt. Das bedeutet, es gab im Hochland für die Armee keine Zivilisten. Männer, Frauen, Alte, Kinder und selbst Ungeborene galten als Angehörige der Guerilla und wurden systematisch niedergemetzelt. Massenvergewaltigungen, Vertreibungen und Umerziehungslager dienten dazu, unsere Identität für immer auszulöschen.

Ein Schuldspruch für Ríos Montt wäre demnach bei einer Weiterführung des Verfahrens unausweichlich?

Die Beweislage dafür, dass es einen Völkermord gegeben hat, ist überwältigend. Die Zeugenaussagen gehen in die Tausende. Daneben gibt es Hunderte forensischer Berichte über die Exhumierungen der Massengräber in den neunziger Jahren. Die Aufgabe der Staatsanwaltschaft im Verfahren ist es, Ríos Montt explizit nachzuweisen, dass er geistiger Urheber der Verbrechen und der Oberste in der Befehlskette war.

Sie selbst sind eine Angehörige der Maya-Quiché. Zu jener Zeit waren Sie eine junge Frau.

Aber es sind Erlebnisse, die man nie wieder aus dem Kopf und Herzen löschen kann. Meine Mutter wurde ermordet, mein Bruder liegt ebenso in einem Massengrab. Mein Vater starb einen grausamen Flammentod, als das Militär die spanische Botschaft anzündete – und mit ihr die Oppositionellen, die sie besetzt hatten, um auf die Diktatur in Guatemala aufmerksam zu machen. Heute, im Alter von 54 Jahren, kann ich sagen, dass mein Leben nach dem Genozid nie wieder dasselbe war wie zuvor. Ich hoffe auf Gerechtigkeit.

Der 1982 durch einen Putsch an die Macht gelangte General Ríos Montt muss sich heute exemplarisch für den Genozid an den Maya-Ixiles verantworten. Was bedeutet ein solcher Gerichtsprozess für Guatemala, wenn er weitergeführt werden sollte?

Er würde das Ende der seit Jahrzehnten im Land herrschenden Straflosigkeit bedeuten, die in der Vergangenheit zu so schrecklichen Gräueltaten geführt hat. Die Ixiles gehen mit einem großen Beispiel für uns alle voran, für alle Indigenen, für alle Guatemalteken und Guatemaltekinnen. Sie haben sich mutig organisiert, um gegen den Machthaber von damals auszusagen, der ihre Familien umgebracht und sie in den Exodus getrieben hat. Dieser Prozess statuiert ein Exempel für das Justizsystem in Guatemala. Im Grunde genommen ist er beispielhaft für die ganze Welt, denn zum ersten Mal würde ein Genozid vor einem nationalen Gerichtshof verhandelt und nicht vor einem internationalen Strafgericht.

Ríos Montt war jahrelang durch seine Immunität als Abgeordneter vor einem Prozess in Guatemala geschützt. Erst nach dem Ende seines Mandats im Januar 2012 war es möglich, ihn vor Gericht zu stellen. Mittlerweile ist er ein alter Mann.

Deshalb ist dies die letzte Chance, ihn noch für seine Taten zur Verantwortung zu ziehen. Auch wenn er vielleicht nicht mehr ins Gefängnis kommt für die Befehle, die er zum Völkermord gab – er muss sich seiner Schuld stellen.

Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz hat das Verfahren um Monate vorverlegt. Richterin Jasmín Barrios trieb es rapide voran. Welche Gründe gab es dafür?

Es brauchte eine unbestechliche, mutige Staatsanwältin wie Paz y Paz, um den Prozess anzustrengen. Wie alle Angehörigen der Staatsanwaltschaft, die Anwälte der Anklage sowie die Zeugen und Zeuginnen ging sie ein hohes persönliches Risiko ein. Politische Morde sind in Guatemala nicht ungewöhnlich. Die Anwälte von Ríos Montt haben vom ersten Tag an nichts unversucht gelassen, das Verfahren zu torpedieren – was ihnen ja letztlich auch gelungen ist. Ich hoffe jedoch, dass das Verfassungsgericht nun unser aufkeimendes Vertrauen in das guatemaltekische Justizsystem nicht enttäuscht.

Lange Jahre haben Sie die Verbrechen während des Bürgerkriegs in Guatemala international angeprangert. Haben Sie eine aktive Rolle in diesem Verfahren inne?

Früher war ich die einzige, die von Genozid sprach. Bei den Vereinten Nationen in Genf, in New York, vor dem Gerichtshof in Madrid, überall klagte ich die Generäle an. Damals gab es außer mir niemanden aus Guatemala, der seine Stimme erhob. Heute jedoch sind die Überlebenden aus der Ixil-Region an der Reihe, ihr Anliegen vorzubringen. Ich bin sehr froh, dies miterleben zu dürfen. Das ist leider nicht selbstverständlich. Viele Angehörige der Maya können dies nicht mehr.

In den ersten Prozesstagen wurden mehr als 200 Ixiles, die die Massaker überlebt haben, in den Zeugenstand berufen.

Trotzdem dürfte die Zahl der Guatemalteken, die ebenfalls gerne in diesem Prozess ausgesagt hätten, in die Tausende gehen. Denn ein großer Teil der Bevölkerung war vom Genozid betroffen und musste Furchtbares miterleben. Für die Zeuginnen und Zeugen, die Überlebenden, die Familienangehörigen der Toten, die hier ausgesagt haben, war der Abbruch des Verfahrens ein Schlag ins Gesicht. Nach 30 Jahren hatten sie sich entschieden, über bestialische Verbrechen zu berichten und sie erneut zu durchleben – und nun sollen ihre Aussagen für nichtig erklärt werden.

Was bedeutet das Verfahren gegen Ríos Montt für die indigene Bevölkerung Guatemalas?

Für die indigenen Gemeinschaften ging eine große Würde von diesem Prozess aus. So viele Menschen sind in ihrem Schmerz gefangen und verstummt. Uns wird niemand mehr die Mutter zurückgeben, die umgebracht wurde, den Bruder, der zu Tode gefoltert wurde, den Seelenfrieden im Wissen, dass über so manchem Massengrab irgendwann ein Fußballfeld angelegt wurde. Aber durch eine Verurteilung der Schuldigen könnte uns unsere Würde zurückgegeben werden. Die der Ixiles, der Quichés, der Mames, die Würde unserer Maya-Völker.

Viele Menschen wurden dieser Tage mit einer Wahrheit konfrontiert, die sie bisher verdrängen konnten. Ein schwerer Moment für die guatemaltekische Gesellschaft?

So schwer wie unerlässlich, um sich der Vergangenheit bewusst zu werden und sie so zu akzeptieren, wie sie ist. Diejenigen, die diese Wahrheiten annehmen, fühlen ebenfalls einen Schmerz, ein moralisches Aufbegehren angesichts der Gräueltaten, die im Verfahren zu Tage kamen. Ihnen ist aber auch die Möglichkeit gegeben, an einem gesellschaftlichen Heilungsprozess teilzuhaben und einen Kreis der Unmenschlichkeit im Namen der folgenden Generationen zu schließen.

In den letzten Tagen des Gerichtsverfahrens riefen Kriegsveteranen zu einer Kampagne gegen den Prozess auf. Eine »Stiftung gegen den Terrorismus« diffamiert Menschenrechtsverteidiger und UN-Angehörige, ganz im Jargon des Kalten Krieges, als »konspirative Neomarxisten« und spricht von der »Farce des Genozids«.

Wer jetzt noch behauptet, es habe keinen Genozid gegeben, der gibt sich nicht nur der Lächerlichkeit preis. Er macht sich zum Komplizen, denn er schützt mit seinem Leugnen die Mörder von ­damals.

Das dürfte somit auch auf Guatemalas Präsidenten Pérez Molina zutrffen.

Otto Pérez Molina hat sich vom ersten Gerichtstag an in den Prozess eingemischt. Er hat öffentlich immer wieder verlauten lassen, in Guatemala habe es nie einen Genozid gegeben. Als Staatsoberhaupt sollte er die Unabhängigkeit der Justiz anerkennen und schützen. Stattdessen tut er in seiner Position eine persönliche Meinung kund, während vor Gericht Recht gesprochen werden soll. Eine solche Einmischung scheint mir vollkommen unangemessen.

Dennoch erscheint sie logisch angesichts der eigenen Beteiligung des Präsidenten am Genozid. Ein Kronzeuge der Staatsanwaltschaft hat Pérez Molina im Gerichtsprozess für die Anordnung von Massakern verantwortlich gemacht. Hat Sie das verwundert?

Nein, keinesfalls. Seit 1979 wurde insgesamt sechsmal eine Resolution gegen Guatemala durch die Vereinten Nationen wegen Verbrechen gegen die Menschheit ausgesprochen, bis der Staat sich 1994 bereit erklärte, in Friedensverhandlungen zu treten. Wie oft ist in Generalversammlungen der Name des heutigen Präsidenten gefallen, im Zusammenhang mit Massenmorden, Folter und gewaltsamem Verschwindenlassen.

Sind Sie ihm jemals persönlich begegnet?

Ich lernte ihn während der Friedensverhandlungen kennen. Damals hatte ich schon oft Schreckliches von einem »Comandante Tito« gehört, einem jungen Major, der Anfang der achtziger Jahre in der Ixil-Region stationiert gewesen war. Ich wusste jedoch nicht, dass dies der Deckname des Mannes war, den ich dort vor mir sitzen hatte. Als Zeugen wenige Jahre später seine Identität vor der Nationalaudienz in Spanien offenbarten, war ich schockiert.

Werden wir Pérez Molina eines Tages ebenfalls vor Gericht sehen?

Noch gibt ihm sein Staatsamt Immunität. Ich an seiner Stelle würde mein Amt niederlegen, um vor Gericht meine Unschuld zu verteidigen, würde man mich eines so schweren Verbrechens bezichtigen. Doch ich habe Pérez Molina nicht gewählt. Diejenigen, die ihm ihre Stimme gegeben haben, müssten an ihn appellieren, einen Rücktritt in Betracht zu ziehen. Wenn seine Präsidentschaft endet, wird er automatisch als Abgeordneter in das Zentralamerikanische Parlament berufen. Erst danach wird es möglich sein, Klage gegen ihn zu erheben.