Parlamentswahlen und Proteste in Malaysia

Der Verlierer gewinnt

Die Regierungkoalition Malaysias hat bei den Wahlen auch mit Manipulationen keine Mehrheit erreicht, bleibt aber an der Macht. Die Opposition organisiert nun Massenproteste.

Auf den ersten Blick sieht alles aus wie eine gelungene demokratische Veranstaltung und eine große nationale Versöhnung. Schon die Wahlbeteiligung von fast 85 Prozent war traumhaft hoch. Zwar hat das Regierungsbündnis Barisan Nasional (Nationale Front, BN) sieben Parlamentssitze an die Opposition verloren, stellt aber weiterhin 133 von 222 Abgeordneten. Vor der Wahl hat die BN sich einsichtig gegeben und eingeräumt, dass sich einiges ändern müsse. Die positive Diskriminierung der Malaien, die knapp über die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, habe ihre geschichtliche Mission erfüllt und sei mittlerweile ineffektiv. Selbst der alte und neue Ministerpräsident, Najib Razak von der United Malays National Organisation (UMNO), der größten und sich malaiisch verstehenden Partei des Landes, sprach von Anspruchskultur und Rentiersmentalität.
Transparenz bei der Vergabe staatlicher Aufträge, Rückgewinnung abgewanderter Fachkräfte, Stärkung des privaten Sektors, vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen sowie der schwindenden Mittelschicht – das sei nun erforderlich, und die nichtmalaiischen Bevölkerungsgruppen seien eingeladen, an diesem Reformprozess teilzuhaben. Angehörige dieser Minderheiten – knapp 25 Prozent der Bevölkerung sind chinesisch- und sieben Prozent indischstämmig, elf Prozent gelten als Indigene – beklagen seit Jahren Korruption und Ämterfilz sowie viele andere staatliche Benachteiligungen, von der Diskriminierung bei der Studienplatzvergabe und Behördenanstellung, über unterbundene Karrieren bis zur Verweigerung von Autoimportlizenzen.
Die Diskriminierung führt zu sozialen Spannungen und ökonomischen Problemen, unter anderem einem hohen brain drain. Die Malaien bevorzugende New Economic Policy (NEP) der siebziger Jahre wurde deshalb nach und nach zurückgenommen. Seit 2010 heißt die Doktrin New Economic Model (NEM), mit weniger affirmative action soll das Pro-Kopf-Einkommen bis 2020 verdoppelt werden. Nicht selten zeigt man in Regierungskreisen auf das benachbarte Indonesien, das hart von der Krise der asiatischen »Tigerstaaten« in den neunziger Jahren getroffen wurde und sich nur langsam erholte. Malaysia konnte die Verluste vergleichsweise schnell kompensieren und ist nun die drittstärkste Ökonomie in Asien. So verwies Najib am Morgen nach der Wahl auf die gestiegenen Börsenkurse und lud die Opposition zum gemeinsamen Anpacken ein. Doch die Opposition hat andere Vorstellungen vom Anpacken. Seit der Wahl am vorvergangenen Sonntag fanden drei Massendemonstrationen mit jeweils über hunderttausend Teilnehmenden statt, drei weitere sind anberaumt, erklärtes Ziel ist der Sturz der Regierung. Weil die Wahl als »schwärzester Tag der Demokratie« bezeichnet wird, trägt man schwarz und spricht vom »Malaysischen Frühling«. Die Veranstaltungen gelten als illegal, über 20 Veranstalter werden als öffentliche Unruhestifter festgehalten.

»Wir haben die Wahl gewonnen«, sagte Anwar Ibrahim, der Spitzenkandidat des Oppositionsbündnisses Pakatan Rakyat (Volksallianz, PR) – mit gutem Grund. Es gab Manipulationen, was eines der treibenden Motive für den Protest ist, doch selbst die offiziellen Zahlen geben den Stimmenanteil der Opposition mit 50,9 Prozent an, während die Regierung 47,4 Prozent erhielt. Dass die BN dennoch über eine deutliche Mehrheit im Parlament verfügt, hängt mit der tendenziösen Vergabe von Parlamentssitzen nach dem Mehrheitswahlrecht und ungleicher Stimmgewichtung zusammen. In ländlichen Wahlkreisen, wo die BN stark ist, sind bis zu neunmal weniger Stimmen als in den Städten erforderlich, um ein Mandat zu gewinnen. Das Wahlergebnis ist somit eine herbe Niederlage für Najib. Seit der Unabhängigkeit hat die UMNO noch nie die Zustimmung der Bevölkerung so offensichtlich verloren.
Ein Wahlrecht, das die Opposition benachteiligt, gibt es seit Jahrzehnten. Relativ neu ist die vehemente öffentliche Kritik. Seit 2006 fordert die Nichtregierungsorganisation Bersih freie und faire Wahlen. Die drei von ihr organisierten Massendemonstrationen und die sie begleitende Polizeigewalt haben die Politisierung gefördert. In zähen Verhandlungen wurde die Erfüllung einiger Forderungen bewirkt, so ist eine Farbmarkierung nach der Stimmabgabe vorgeschrieben und es gibt Wahlbeobachter.
Umso erboster ist man nun über Berichte, dass massenhaft abwaschbare Tinte verwendet wurde, überdies gab es hunderttausende »Phantomwahlgänge« von ausländischen Arbeitern. Die Arbeit von Oppositionsmedien wurde behindert, es gab gezielte staatliche Wahlgeschenke in Millionenhöhe und, obwohl die Umno sich islamisch-konservativ gibt, Freibierausschank in »chinesischen« Stadtteilen. Letzteres nannte selbst der Regierungsgouverneur Teng Chang Yeow »inakzeptabel«. Die Wahlkommission leugnet alles.
Weil bis zu 70 Prozent der Sitze mit einem Vorsprung von um die fünf Prozent vergeben wurden und das Wahlergebnis insgesamt sehr knapp war, fallen diese Manipulationen stark ins Gewicht, urteilt Bridget Welsh, Professorin der Politikwissenschaft an der Singapore Management University: »Wir haben es mit einem Regime zu tun, das an der Macht bleiben will. Nun gibt es ein großes Vertrauensdefizit bei der Bevölkerung.« Die Opposition fordert daher die Überprüfung von rund 30 besonders umstrittenen Wahlkreisen. Wenn diese zu ihren Gunsten ausfiele, hätte die Opposition die Mehrheit der Sitze. Für die Regierung hingegen steht das Ergebnis fest.

Streit sei schädlich, so die Regierung, stattdessen müssten nun ethnische Gräben geschlossen werden. Dabei vertieft sie diese selbst. Dass Najib von einem »chinesischen Wahl-Tsunami« sprach und der frühere Ministerpräsident Mahathir Mohamad den »Chinesen« vorwarf, sie hätten sich der Verantwortung entzogen, indem sie für die Opposition stimmten, empört die Community wie die Opposition. In einer Verkehrung von Ursache und Wirkung wird so die Wahl ethnisiert und zusätzlich der Gegenseite Rassismus vorgeworfen. Selbst Kadir Jasin, pensionierter Chefredakteur der Umno-nahen Zeitung New Straits Times, kritisiert auf seinem Blog diese Rhetorik und weist auf den eigentlich beunruhigenden »malaiischen Wahl-Tsunami« vor allem junger urbaner Malaien hin. Allerdings ist es dieses ethnisierte Denken insgesamt, das viele Oppositionelle im Wahlkampf aufbrechen wollten. Das ist nicht leicht, denn auch ihre Parteien sind verwurzelt im religiös-ethnischen Diskurs. Ein Bündnis der »chinesischen« DAP mit der konservativ-muslimischen PAS ist wohl nur dank der charismatischen Integrationsfigur Anwar möglich. Im Wahlkampf traten denn auch die Forderungen der PAS nach einer Ausweitung der Sharia und nach einem islamischen Staat in den Hintergrund.
Es ist noch viel unaufgearbeitet im malaysischen Religions- und Ethnisierungsdiskurs. Die britische Kolonialregierung schuf eine wesentliche Grundlage, indem sie Malaien für die Verwaltung vorsah. Chinesen und Inder wurden angesiedelt, durften aber kein Land besitzen, da die einen im Handel und in den Minen arbeiten sollten, und die anderen auf den Plantagen. Nach der Unabhängigkeit hielt man an der Separation fest und verankerte sie in der Verfassung. Dort ist definiert, wer als Bumiputra (»Sohn des Landes«), als ethnischer Malaie, zählt. Doch religiöses Bekenntnis, Abstammung und Sprache entziehen sich oft einer eindeutigen Zuordnung, die amtliche Praxis kann sich von Behörde zu Behörde unterscheiden, mit der Tendenz, malaiisch definierte indigene Stämme wieder auszuschließen. Andererseits ist es möglich, durch Konversion zum Islam Malaie zu werden.
Die Zuordnung korrespondiert mit der Zuweisung von beruflichen Tätigkeitsfeldern und trägt zur Fortschreibung von Vorurteilen bei. So gelten Malaien als arbeitsscheu, Chinesen als geschäftstüchtig und gierig, Inder als ungebildet und dreckig. Die Figur des geld- und kreditfixierten Chinesen in Malaysia ähnelt der des chinesischstämmigen Indonesiers, die wiederum in der Antisemitismusforschung häufig als dem europäischen Antisemitismus strukturell ähnlich angesehen wird, da sie sich des Bildes des kosmopolitischen Wucherers bedient. Während in Indonesien Mitte der sechziger Jahre zehn-, wenn nicht hunderttausende Angehörige der chinesischen Minderheit ermordet wurden und es während der Asienkrise erneut zu Pogromen kam, beschränkte sich das Blutvergießen in Malaysia weitgehend auf die traumatischen racial riots von 1969, bei denen etwa 200 Menschen getötet wurden, nachdem die Opposition bei Wahlen fast die Mehrheit errungen hatte. Angesichts der Gewalt und der beunruhigenden Bewegungs-Islamisierung in Indonesien, die sich auch in Malaysia mit malaiisch-chauvinistischen Untertönen zu formieren begann, verfolgte man eine staatliche Islamisierung und beschloss fast im Konsens die NEP, die affirmative action sollte für sozialen Ausgleich sorgen. Weitere Massenmorde blieben aus, doch das stereotype Denken und die malaiisch-chauvinistische Aufladung des Islam blieben erhalten.

Aber auch der originäre Antisemitismus ist Standard in der politischen Kultur. So wurde der Film »Schindlers Liste« verboten und Mahathir hielt 2003 noch als Ministerpräsident eine offen antisemitische Hetzrede. Auch die antisemitischen Äußerungen des Oppositionsführers Anwar beunruhigen. Er bezeichnete 2010 die PR-Agentur der Regierung als jüdisch infiltriert. In einem Interview mit der Financial Times bedauerte Anwar im vergangenen Jahr seine Aussagen und brachte sie in Zusammenhang mit vorausgehenden Zionismusvorwürfen gegen ihn. »Für malaysische Standards ist Anwar multikulturell«, urteilte der Interviewer Simon Kuper.
Alles in allem stimmt die neue malaysische Demokratiebewegung hoffnungsvoll, auch wenn neben politischen Motiven wie der Abneigung gegen staatlich kontrollierte Medien oft auch materielle Gründe wie der Wunsch, im Staatsdienst Karriere machen zu können, Menschen in die Opposition treiben. Das Oppositionsbündnis beruht allein auf der Gegnerschaft zur autoritären Regierung, deren Koalition ebenfalls heterogen ist. In letzter Zeit hat sich gezeigt, dass die Politik in Ausgleichsbewegungen mit pressure groups bestimmt wird und nicht nach ideologischen Gesichtspunkten. Auch wenn wünschenswert ist, wenn die Vorherrschaft der UMNO beendet würde, sind die Gegner vielmehr Lobbys wie die malaiisch-chauvinistische Perkasa um Mahathir. Die autoritären Verhältnisse haben aber auch die Opposition geprägt. Dass Anwar die Auseinandersetzung um seine antisemitischen Äußerungen öffentlich führt und auf seinem Blog dokumentiert, ist ein Anfang, diese aufzubrechen.